Boarischs Wiki
Advertisement

PORT - Gelobtes Land


                                 -I-

   Gemächlich ritt Milkau sein müdes Mietpferd auf seinem Wege von
Queimado nach Porto do Cachoeiro - "Port", wie die dortigen Deutschen
sagen - im Staate Espírito Santo.
   Mit dem typischen Blick des Neuankömmlings weidete er sich an der
lieblichen Landschaft. Ja, diese Gegend war einfach mit sich im Rei-
nen: Der Fluss war kein sich tosend in die Tiefe stürzendes Ungeheuer,
ebenso wenig wie die Berge eigentlich als Gebirge zu nehmen waren,
nämlich eines solchen, das seinen Kopf in den Wolken vergräbt und ge-
rade dadurch zur Quelle finsterer Kulte wird - Kulte, die zum Tode
einladen, als wäre er schützende Zuflucht ... Der Fluss Santa Maria
ist ein Söhnlein der Höhen, dahinplätschernd an seinem Ursprunge, dann
eingezwängt in tiefe Klammen, aus denen er sich vor Schmerzen stöhnend
mit einem gewaltigen Rucke befreit, um letztlich zu seiner eigentli-
chen Berufung zu finden, nämlich feurig-fröhlich dahinzufließen. Er
ergießt sich sodann in einen Wald, den man nicht als großartig be-
zeichnen würde, schmiegt sich innig an sanft geschwungene Höhen, die
sich wohl mit seiner lächelnd-feuchten Verrücktheit bestens angefreun-
det haben ... Selbige wiederum erheben sich anmutig in ihrem leuchtend
grünen Rasenkleid, ihrer güldenen Kutte, an ihren Abhängen, die sie in
ihrer warmen, unendlichen Zärtlichkeit umhüllt. Eine Einsamkeit
strahlten Fluss und Höhen aus, so herrlich, lichtreich und still, dass
an jegliche Angst, jeglichen Schrecken, nicht zu denken war.
   So ins Grübeln versunken, überließ Milkau das Pferd einfach seinem
Willen, ließ die Zügel frei am Halse des Reittiers baumeln, das von
Zeit zu Zeit etwas den Kopf schüttelte und mit seinen buschigen Brauen
seine schläfrigen Augen verschloss - ein einziges Sich-Gehen-Lassen,
ein schlaffes Sich-Dahinschleppen, das der Landschaft angemessen war.
Die verhaltenen Laute der Natur trugen das Übrige dazu bei, sie zu ge-
nießen, wie sie war - still. Das milde Lüftchen, das Säuseln des Flus-
ses, das Gesumme all dessen, was da kreuchte und fleuchte, schläferten
ein, gleichsam um zu sagen: "So und nicht anders!" Hier legte der ewi-
ge Trubel des Lebens eine Pause ein, besser gesagt der aufgekratzte
Geist des Schaffens und Zerstörens. Selbst die Sonne erhob sich nur
zaghaft aus ihrer Nachtruhe; ihre Strahlen vermochten noch nicht, die
Erde aus ihrer Ruhe zu reißen. Milkau verfiel seinen Gedanken, tief,
beruhigend. Wem nicht die völlige Ruhe gegeben ist, der lebt nicht in
sich selbst; in seinem Taumel entfuhren ihm Laute, als redete er in
Zungen; einerseits gut aufgelegt, erschrickt er dennoch vor allem, was
seinen abgespannten, angespannten Nerven entspringt. Die ewigen, gu-
ten, ja heiligen Schöpfungen des Geistes wie des Herzens entstammen
durchwegs den geheimnisvollen, fruchtbaren Kräften der Stille ...
   Vor dem Einwanderer ritt sein Führer her, ein Knabe, Sohn eines
Pferdevermieters in Queimado. Der Kleine war alles andere als ange-
tan von seiner Aufgabe und seinem Kunden und ließ sich einfach von
seinem Klepper leiten. Mal ließ er einfach so ein Wort erschallen,
das sich in der Luft brach; dann wieder, zum schieren Vergnügen,
stauchte er den Gaul zusammen, gab ihm die Sporen, um mit ihm einen
etwas wackligen Galopp hinzulegen, bis das arme Tier nur so keuchte.
Voller Mitleid nahm Milkau dann den Knaben bewusst wahr, ihn, der nur
aus Haut und Knochen zu bestehen schien, den welken Spross einer Art,
die dazu verdammt schien, nie zur vollen Blüte zu gelangen, zur Ent-
wicklung einer eigenen Persönlichkeit. So riss es also den Reisenden
aus seinen Gedanken, seiner Versunkenheit, und er wandte sich an den
Buben:
   "Also, du reitest immer wieder mal nach Port, oder?"
   "Ah ...", wirkte derselbe ganz erschrocken, eine menschliche Stimme
zu hören. "Also, immer halt, wenn ein Kunde kommt, zum Beispiel vor-
gestern, aber vorher war lange niemand aus Vitória da. Es hat ja auch
immer so viel geregnet in letzter Zeit."
   "Wo gefällt's dir denn besser, daheim oder in Port?"
   "Ja, schon in Port, Herr."
   "Und, das ist das Einzige, was dir dein Vater anschafft, Leute nach
Port zu bringen, oder?", fragte Milkau weiter, was den Jungen allmäh-
lich aus der Reserve lockte. Und so erwiderte er denn prompt:
   "Keineswegs, Herr!"
   "Was tust du denn dann sonst noch?"
   "Dem Vater helfen halt ... Manchmal holen wir in aller Früh das
Fischnetz ein. Auch heute, bevor Ihr, Patron, gekommen seid, waren wir
wieder draußen ... Leider waren's nur diese Cocorocas, und auch nur
vier ... Der Fluss gibt nichts her. Onkel Francisco meint, das Wasser
sei zu kalt, aber Tante Rita lässt es sich nicht nehmen, dass jetzt,
bei Vollmond, die Wassermutter die Fische zurückhält. Am besten wäre
es ja, mit Granaten zu fischen, aber da würde uns der Bürgermeister
was husten; naja, und so schaut man halt durch die Finger ..."
   "Und - Fleisch habt ihr nicht in Queimado?"
   "Doch, doch, Herr, Dörrfleisch in unserem Laden, aber nur für die
Kundschaft. Wir essen Fisch - wenn's keinen gibt, dann halt Mus ..."
   So setzten sie ihren Weg fort. Die Landschaft blieb die gleiche;
bloß die Sonnenhitze begann sich bemerkbar zu machen. Milkau blickte
wohlwollend auf den kleinen Führer, der mit seinen fahlen Lippen und
grünen, sägespitzen Zähnen dankbar zurücklächelte. Auf seinem ver-
härmten Gesicht leuchtete so etwas wie die für seinen Menschenschlag
typische wonnige Ergebenheit auf.
   "Wie weit haben wir denn noch, mein Sohn?", erkundigte sich der
Reisende.
   "Über die Hälfte des Weges; wir sehen ja noch nicht mal die Fa-
zenda Samambaia, die die Mitte des Weges darstellt."
   "Und willst du dann gleich heim, oder rastest du lieber noch et-
was aus? Bleib doch bis Nachmittag!"
   "Oh, Patron, der Vater will, dass ich gleich zurückkehre; heute
muss ich noch mit Mutter Brennholz sammeln, mich danach um die Tiere
kümmern, dann auch das Netz flicken, das Onkel Franciscos Kanu heute
morgen zerrissen hat - ja, und heute Nacht, bevor der Mond kommt,
werfen wir das Netz aus, denn wenn das Wasser warm ist, gibt's auch
Fisch ... sagt Papa."
   Der mitfühlende Einwanderer erkannte in dem neunjährigen armen
Kerlchen die verblüffende Frühreife in der Unterschicht. Der Kleine,
sichtlich angeregt durch die Unterhaltung, richtete sich auf, griff
sich den Zügel, legte die dürren Beine an und brachte das Tier zu ei-
nem scharfen Trab. Ohne zu überlegen tat es ihm Milkau nach, und so
kamen sie auf der Straße schnell vorwärts, die beiden, jenes vergäng-
liche Paar aus Elend und Mitleid.
   Und gleich darauf, an einer Kurve, deutete der Knabe nach vorne
und wandte sich zu seinem Gefährten um:
   "Das wär jetzt Samambaia!"
   Oben auf dem Hügel hob sich ein tiefgraues Herrenhaus undeutlich
vom blaugrauen Dunst der Umgebung ab; und je weiter Milkau kam, des-
to stärker weitete sich der Horizont; der Hügel vor ihm verdeckte die
Straße - ja, es schien, als wäre sie wild entschlossen, hier, genau
vor ihm, zu enden. Die Reisenden streiften hier eine Kaffeeanpflanzung
am Abhang, dort ein Maniokfeld im Talgrund. Das Land war ausgemergelt
und die Pflanzung windig; dem Kaffee fehlte das satte Grün wie unmit-
telbar nach der Rodung; die Farbe spielte eher ins Hellgrüne, das im-
merhin der Schein der Sonne vergoldete. Die ärmlichen Maniokpflanzen, 
wohl nur schwach eingewurzelt, zitterten im Winde, der sie gleichsam
davonzuwehen drohte. Die Sonne räumte den Himmel auf, und die Luft war
von der Musik des Flusses und dem Gesang der Vögel geschwängert, ge-
fühlt ein noch immer andauernder Morgen. Dieses Land, ausgelaugt und
dennoch lächelnd, erweckte in einem einerseits Entmutigung wie auch
bitteres Vergnügen. Das Land siechte dahin wie eine junge, an sich
schöne Frau, die, ein Lächeln auf ihrem bleichen Gesicht tragend, mü-
de ist von all der Plackerei und den Freuden der Liebe verschlossen.
   Milkau und der Führer kamen an ein Tor, das die Straße an der
Grundstücksgrenze Samambaias sperrte. Der Junge stieß das Gatter mit
einer Hand kräftig an, das sich sogleich quietschend öffnete. Auch
Milkau schlüpfte durch, und hinter ihm rastete das Gatter mit einem
dumpfen Knarren ein. Jetzt, auf Samambaia, beschrieb die Straße eine
weite Kurve, die das ganze Tal umarmte und sich der Uferböschung nä-
herte. Der ochsenkarrenzerfurchte, lehmige, matschige Weg sonderte
entsprechende Düfte ab. Weiter aufwärts war das Land verwildert und
mit Unkraut überwuchert. An ihm taten sich einige Ochsen gütlich, die
immer wieder ihre Schellen ertönen ließen, wenn sie schnaubend das
Grasland abstöberten. Es war keine große Kunst, jede ihrer Rippen ein-
zeln zu erkennen. Zu ihnen hatten sich einige "Schicksalsvögel" ge-
sellt, Anuns, die auf den klapprigen Ochsen herumspazierten und 
schrillten wie Boten des Todes.
   Als Milkau auf der Höhe des Hauses war, ließ er die Zügel fallen
und blickte sich erst einmal um. Das Herrenhaus, das er sah, war groß,
niedrig, hatte eine riesige Veranda herum, aber keine Fensterflügel,
nur einige ausgeleierte Haustüren. Es war wohl einmal weiß gewesen,
jetzt aber gelinde gesagt vergilbt, mal mehr, mal weniger; da und dort
hatte das Moos verzerrte Fratzen gezeichnet; von der Veranda herunter
führte eine Holzstiege, an der schon Stufen herausgebrochen waren und
das Geländer völlig kaputt war. Vor dem Haus hatte sich das Unkraut
breitgemacht, gestört allenfalls durch die verschiedenen Trampelpfade,
die zur Straße und weiß Gott sonst wohin führten. Gleich daneben be-
fand sich eine seit Langem nicht mehr benutzte Kapelle, die in ihrem
Schweigen den Klang der Anbetung längst vergangener Zeit weitertrug,
im Grunde aber zu einem unbeachteten Museum alter Heiligendarstellun-
gen herabgesunken war, naiver, einfacher, aber eben doch von Frömmig-
keit zeugender Kunst. Das Kirchlein enthielt aber noch etwas: In ge-
weihter Erde waren dort einträchtig nebeneinander, in Tod und Verges-
sen vereint, die Gebeine von Herren ebenso wie Sklaven bestattet, un-
ter dem behütenden Blicke der dort eingeschlossenen Heerscharen ...
   Milkaus Pferd schritt langsam weiter, der Knabe gähnte gelangweilt
und legte, wie um dies zu unterstreichen, das eine Bein über den Sat-
tel. Als sie das Haus erreichten, wurde er eines Gesichtes gewahr, das
auf das Verandageländer zukam. Er erkannte es sogleich und meldete
lässig seinem Gefährten:
   "Da - das ist Ökonomierat Afonso."
   Milkau zog höflich den Hut; der Mann auf der Veranda tat es ihm
gleich, nur dass es bei diesem ein Sombrero war, den er nachlässig
lüpfte. Der barfüßige Gutsherr in seiner blauen Arbeitshose und seinem
Leibchen war, seinem weißen Bart nach zu urteilen, uralt, und die hel-
le Hautfarbe ließ auf rein weiße Abstammung schließen. Sein Gesicht
zeigte etwas Grundtrauriges, so, als läge es gerade an ihm, dass es
mit seiner Rasse und seiner Familie den Bach hinuntergegangen war. Der
leere, geradezu schwachsinnige Blick besagte, dass er mit jeglichem
Interesse an allem rundum abgeschlossen hatte. Fähigkeiten, Gemüt, Ge-
fühlswallungen, alles war weg - was ihn wie ein Aufziehmännlein wirken
ließ. Dennoch strahlte er noch einen Rest Würde aus, was in der in
allgemeinem Verfalle befindlichen Umgebung besonders herausstach. Kein
traurigeres Bild gibt es, als wenn der Zahn der Zeit, die Macht des
Vergänglichen, über Hergebrachtes und Lebloses hinausgreift, sich den
Menschen vornimmt, ihn lähmt und niederschmettert, den Tod an ihm Ge-
fallen finden lässt und seine haltlose Gemütslage in unendlichen Trüb-
sinn überführt.
   Gleich neben der Straße befand sich die Mehldarre, ein windschiefer
Schuppen mit einem ebensolchen Schindeldach, an dem sich längst ein
Moosteppich gütlich tat, der einer Miniaturausgabe des Dschungels
nicht unähnlich war. Drinnen standen weiter eine klassische Getreide-
mühle sowie eine Maniokmühle aus der Zeit der Sklaverei. Das Beste an
allem schienen noch die beiden Kupferkessel zu sein, in denen man das
Mehl umschaufelte. Milkau fiel aber auch auf, dass hinter all jenem
herumliegenden Schrott und Gerümpel, Rohren, Kesseln und Zahnrädern
eine hochentwickelte Zivilisation gestanden war, die der Mensch in
seinem Niedergange allmählich abgelegt und sich dafür einfacheren Ge-
rätschaften zugewandt hatte, die seinem heutigen abgestumpften Geiste
besser entsprachen.
   Als Milkau weiterritt, verschaffte er sich mit einem letzten Blick
noch einmal einen Gesamteindruck von dieser Gutsruine. Immer noch
starrte der alte Herr an der Stiege ins Leere, beziehungsweise auf je-
nen Scherbenhaufen der einstigen Kultur, dessen sich unweigerlich nach
und nach der Urwald zu bemächtigen und alles Menschenwerk zu verdrän-
gen begann.
   In dieser Landschaft und Umgebung, in der alles auf Stillstand, Ge-
lähmtheit und Abstieg geeicht schien, bewegten sich die beiden nun wa-
cker voran, als sie plötzlich zur Rechten auf eine einfache Hütte
stießen. Das Gemäuer, so man es so nennen konnte, war kreuzförmig an-
gelegt und mit struppig über den Rand hinausstehendem Stroh gedeckt.
Wie selbstverständlich hielt der kleine Führer sogleich darauf zu.
Dort, am Türpfosten lehnte ein alter Mann, dessen Äußeres Neger- wie
Indianerblut verriet, seinen Blick ingendwohin in die Luft gerichtet.
Nur mit einer schäbigen Hose bekleidet, zeichnete sich unter seiner
faltigen Haut dennoch die Statur eines Athleten ab. Wie Moos auf einem
abgestorbenen Baum breitete sich auf seiner Brust üppiger weißer
Flaum, der nach oben nahtlos in einen spärlichen Bart überging. Er
strahlte etwas wie Andacht aus, wie Staunen darüber, was die Welt doch
zu bieten habe.
   Neben der Tür saß eine junge Mulattin, die nichts ausstrahlte, nur
Gleichgültigkeit. Ihr ungepflegtes Haar stand wie Hörner in die Luft,
während sich unter ihrem schmutzigen Hemd magere, weit nach unten hän-
gende Brüste abzeichneten. Für das Negerlein allerdings, das neben ihr
stand und überhaupt nur mit einer Schnur mit daran baumelndem Abwehr-
Amulett und Davidstern angetan war, waren die hoch zu Ross sitzenden
Neuankömmlinge, die sich zu ihnen verirrt hatten, etwas höchst Inte-
ressantes.
   Milkau grüßte die Leute, die sie ohne jegliche Regung näherkommen
ließen. Der Alte ließ dann aber doch etwas verlauten:
   "Na, steigt doch ab, Jüngling!"
   "Oh, nein, danke. Ich will mich nicht verspäten."
   "Ach was, mein Herr, nach Port, das schafft Ihr doch mit links.
Seht nur, noch zwei Flussbiegungen, und Ihr seid dort."
   Der Alte hielt kurz inne; ihm war wohl sehr an einem Plausch gele-
gen, und so ließ er nicht locker, bis Milkau vom Pferd stieg. Sogleich
sprang auch der Führer vom Gaul, ließ ihn stehen und nahm Milkaus Tier
am Zaum. Als Milkau auf festem Boden stand, gähnte er, und er merkte,
wie gut ihm die Rast tat.
   Der Fremde ergriff die schwielige, schrundige Hand des Alten, der
die Lippen öffnete, um mit seinem roten Zahnfleisch ein Lächeln zu
versuchen. Die Junge tat keinen Muckser, ließ allenfalls ihren Blick
auf dem Reisenden ruhen, als ob sie das alles nichts anginge. Der
Kleine schmiegte sich an sie, wobei er mit seinen wulstigen Lippen
munter vor sich hin sabberte.
   Durch die Türe überblickte Milkau das Innere der Behausung. Das
Dach fiel so steil ab, dass man an den Wänden nicht mehr stehen konn-
te. Die Einrichtung erschöpfte sich in einer aufgerollten, angebunde-
nen bräunlichen Hängematte, deren eines Ende angedübelt war, einer
Binsenmatte auf dem Boden, zwei niedrigen Hockern, einem Ruder, eini-
gen Knäueln Angelschnüren und einigen armseligen Werkzeugen für die
Landwirtschaft. Mit einer spanischen Wand aus Stroh war eine Ecke als
eigener Raum abgeteilt, in dem man wiederum eine Binsenmatte sowie ei-
ne Flinte entdeckte. Ganz hinten führte eine Tür auf eine Lichtung 
hinaus, auf der es sich eine Anzahl Bananenstauden gut gehen ließ; und
neben besagter Tür sollten einige schwarze Steine mit verkohltem Holz
darin wohl die Küche darstellen.
   "Wohnt Ihr denn schon lange hier?", fragte Milkau.
   "Lange? Ich bin hier herum geboren, junger Mann! Genau gesagt bei
   Mangaraí." Mit der Hand deutete er einen Punkt jenseits des Flusses
an. "Seht Ihr nicht das Herrenhaus dort drüben? Dort bin ich auf die
Welt gekommen, auf der Fazenda von Junker Matos; Gott hab ihn selig!"
   Der Fremde folgte der Hand und machte aus dieser Entfernung nicht
viel mehr aus als eine Ansammlung von Ruinen, die ins Grün des Waldes
eingesprenkelt waren.
   Milkau fragte ihn nun munter weiter zum früheren Leben in der Ge-
gend aus, was dem Alten gerade recht war, hatte er doch dadurch Gele-
genheit, einmal auf die alten Zeiten zurückzugehen. Wie alle, die so
einfach gestrickt waren wie er, wäre er nicht in der Lage gewesen,
selber ein solches Gespräch anzubahnen. Unzusammenhängend schüttete er
sein armseliges Leben aus, eine Geschichte ohne Abwechslung, ohne Hö-
hepunkte, eher schon ein einziger Tiefpunkt. Er schilderte ein Haus
voller Sklaven, ihre dürftigen Vergnügungen, die Arbeit und die Züch-
tigungen. In seiner unbeholfenen Ausdrucksweise schwang dennoch so et-
was wie Wehmut mit.
   "Ja, ja, junger Mann, aus und vorbei! Die Fazenda: weg! Mein Herr:
tot! Sein Sohn blieb noch solange hier, bis ihm die da oben die Skla-
ven nahmen. Alles den Bach hinunter! Der Patron ging mit den Seinigen
nach Vitória; dort hat er schon was gefunden. Meine Kameraden sind in
den Busch gegangen; der eine siedelte hier, der andere dort, ganz nach
Belieben. Mich hat's hierher verschlagen, mit meinen Leuten, auf das
Land des Ök..., äh, na, Afonsos halt. Schlechte Zeiten, schlechte! Der
Staat hat die Fazendas plattgemacht und uns ins kalte Wasser geschmis-
sen. Essen, Kleidung, um alles muss man sich selber kümmern; wie ein
Ochse darf man anschieben! Ach, das waren Zeiten auf dem Gut! Man hat
zusammengeholfen. Einer pflückte Kaffee, der andere entkörnte Mais,
alle miteinander, EIN großer Haufen, Mulattinnen, alles Mögliche ...
Der Aufseher? Ach, so ein Peitschenhieb bringt doch keinen um! Essen
gab's immer, und Samstags, ah, da wurde getrommelt bis in den Sonntag-
morgen hinein ..."
   Und so verrührte der alte Sklave einfach seine bitteren Erinnerun-
gen im wehmütigen Rückblick auf die alten kleinen Freuden, auf ihre
behütete Gemeinschaft auf dem Gut, und stellte all dem die heutige
Hoffnungslosigkeit, Vereinzelung und den Zerfall der alten Welt gegen-
über.
   "Aber, mein Freund", meinte Milkau, "Ihr seid doch hier wenigstens
Euer eigener Herr, mit einem Haus auf eigenem Grund und Boden."
   "Pustekuchen! Die Hütte gehört dem Schwiegersohn, dem Mann meiner
Tochter hier. Das Land ist vom Herrn Rat gepachtet um 10 000 Reis im
Jahr. Heute zählt doch nur der Ausländer. Der Staat tut nichts für den
Brasilianer; aber beim Deutschen, da hüpfen sie gleich ..."
   In seiner Gefühlswallung, mit seinem Blick irgendwo im Nirgendwo,
fuhr der alte Neger unbestimmt gestikulierend fort:
   "Ihr wollt hier bleiben, Euer Gnaden? In einem Jahr seid Ihr stein-
reich. Alle Eure Landsleute habe ich mit leeren Taschen kommen sehen,
... und heute? Ein Haus, eine Kaffeepflanzung, jede Menge Maultiere,
alles haben sie ... Dem Brasilianer hat der Staat alles genommen, vom
Gut übers Pferd bis zum Neger ... Bloß die Gnade Gottes, die konnte
er uns nicht nehmen ..."
   Seine traurigen Augen verfinsterten sich. Sie vernebelten sich
gleichsam, als wären sie dem Druck der Angst, die Heimat an jene Hor-
den von Eindringlingen zu verlieren, nicht gewachsen.
   Es folgte quälende Stille. Milkau musste diese Klage des ewigen
Sklaven, verbunden mit der Verzagtheit des geborenen Verlierers, erst
verarbeiten. Gerade weil er nicht fähig war, sein Elend wenigstens
ordentlich in Worte zu fassen, staute sich in ihm gewaltig etwas auf.
Der Alte schüttelte einfach den Kopf und unterdrückte seine Tränen.
Die Tochter in ihrer Abgestumpftheit verstärkte den Gesamteindruck
noch ... Milkau fühlte auf einmal ein Würgen im Hals, so als läge die
Verantwortung für das Schicksal jener Leute auch auf seinen Schultern.
Vergeblich suchte er sein tiefstes Inneres nach Gefühlen ab, die ihm
ein Wort des Trostes abgerungen hätten. Ihm fiel keines ein. Gezwungen
lächelnd verabschiedete er sich.
   "Also, ade, Alter, auf ein Wiedersehen!"
   Der Schwarze reichte ihm die Hand. Die Anderen gaben keine Regung
zu erkennen.

   Als Milkau weiterritt, war der Tag bereits voll aufgeflammt. Der
Wind tat sein Übriges, um die verschlafene Natur wieder ins Leben zu-
rückzuholen. Der Fluss kam den Reisenden entgegen, was auf Milkau den
Eindruck machte, als wäre die ganze Landschaft angetreten, vor ihm,
dem Ritter hoch zu Ross, eine Parade hinzulegen. Das Gut auf der An-
höhe verlor sich allmählich in der Ferne, der Einwanderer sah immer
neue Ansichten und Eindrücke vor sich abrollen, gleichsam wie einen
Film, Häuser der Alteingesessenen, Menschen - einerseits lind, sanft,
aber auch wie von einer Kraft getrieben, die ein Innehalten nicht
durchgehen lässt.
   Die Straße wurde breiter, andere mündeten ein, hierhin, von dort-
her, namenlose, zahllose, wie es eben auch die Wege des Menschen auf
Erden sind. Eine kühle Brise kam zwischen den beiden Höhenzügen auf,
die den Fluss begleiteten, und trugen dem Reisenden das Gegrummel ei-
nes Wasserfalles zu. Das Plätschern des Santa Maria steigerte sich zu
einem Donnern, wie er da so wie verrückt gegen die Felsen anstob, und
seine aufgewühlten, gischtenden Wasser warfen das Licht der Sonne zu-
rück wie ein zitternder Spiegel. Durch den noch immer nebelverhange-
nen Wald hindurch konnte Milkau jetzt irgendwo vor sich etwas Großes,
Weißes ausmachen. Der Führer vor ihm deutete mit der Hand darauf und
rief ihm zu: "Porto do Cachoeiro!"
   Wie aus einem Traum gerissen, atmete Milkau tief durch, am ganzen
Körper zitternd wie jemand, der in sein Gelobtes Land einzieht, und
sein wallendes Blut konnte das Auftauchen des Ortes gar nicht mehr
erwarten. All sein Streben, sein ganzes Ich, schienen sich auf sein
behäbiges Pferd zu übertragen, das denn auch wie verwandelt war durch
die kühle Brise und die Begegnung mit den ihm wohlbekannten Weilern
kurz vor der Stadt, die ihm das baldige Ende der Reise signalisier-
ten. Das Ross riss schnaubend die Nüstern auf, schüttelte die Mähne,
wieherte rau auf, biss in den Zaum, krümmte den Hals und stürmte
drauflos.
   Als sie eine leichte Anhöhe überschritten und Milkau die Land-
schaft mit dem zwischen Gebirge und Fluss eingezwängten Ort beäugte,
fühlte er sich, als läge ihm die ganze Stadt zu Füßen. Die gleißende
Sonne brachte das Weiß der Häuser trefflich zur Geltung, und dies
wie die beschwingte Musik des Wasserfalls, der den Fluss widerwillig
als ein Band aus Silber entlässt, bewirkten Hand in Hand, sich die
Stadt auszumalen als "Tochter von Sonne und Wasser".
   Die Reisenden schritten hurtig voran; die ersten Häuser der Vor-
stadt erschienen, armselige Behausungen, die wirkten, als hätten sie
sich an den Weg herausbegeben, um die Wanderer willkommen zu heißen.
Milkau blickte genauer hin und merkte, dass sie die Heimat der frü-
heren schwarzen Sklaven waren, wohl an den Rand gedrängt durch die
weiße Invasion, aber immer noch voller Sehnsucht nach der Mitte der
Gesellschaft, die ihnen diese nur bis an die Schwelle der Städte zu
erfüllen geneigt ist.
   Die Reisenden ritten den Hang hinunter und kamen an ein Tor, das
der Kleine öffnete, um Milkau durchzulassen. Ohne Eile zogen sie in
die Stadt ein.
   "Wo steigt Ihr denn ab, Patron?", fragte der Führer dienstbeflis-
sen.
   "Bei Robert Schultz. Kennst du ihn etwa?"
   "Klar doch, wer kennte den nicht? ... Der erste Platz im Orte ...
Am Sonntag brachte ich auch schon einen Burschen her."
   Die Pferde schnauften und schienen sich eher dahinzuschleppen als
zu gehen, ängstlich, als hätten sie einen steinigen, steilen Abhang
zu bewältigen. Die Flanken mit Schaum bedeckt, die Zügel lose auf-
liegend, stolperten sie über die losen Steine dahin. Milkau fiel es
sichtlich schwer, den jähen Wechsel der Szenerie zu verarbeiten. Er
war nicht in der Lage, Einzelheiten aufzunehmen; vielmehr speicherte
seine Netzhaut eher unterbewusst den Eindruck eines deutschen Städt-
chens mitten im Tropenurwald. Dem Einwanderer drängte sich ein etwas
wirrer, feiner Eindruck von "guter alter Zeit" auf, sei es angesichts
dieser durchwegs weißen Bevölkerung, sei es, als er die Sonne auf die
Kinderköpfe herniederstrahlen sah, die sie wie Gold leuchten ließ.
   Sie kamen vor einem großen Anwesen an, und der Führer sprang flink
vom Pferd und half Milkau herunter. Sie schieden als gute Freunde; und
während Milkau den Laden betrat, war der Bub mit den Pferden schon
wieder weg. Robert Schultzens Kaufhaus war riesig. Es hatte vier Ein-
gangstüren, und die Vielfalt der Waren war einfach umwerfend. Alles
gab es, Wein, Werkzeug, Kaffee, bis hin zu Grundstücken. Es war ein
typisches Lagerhaus für die Siedler, das den ganzen Handel abdeckte
und bei aller Warenfülle in sich geordnet und stimmig war. Das Haus
war zu jener Stunde bereits voll; und Milkau musste sich, um zur The-
ke zu gelangen, durch ein Gewusel von Kunden hindurchdrängen, eine
dichte Traube herumsuchender, unentschlossener Deutscher.
   Schultz wurde ausgerichtet, dass ihn ein Reisender suche, und so-
gleich wurde Milkau ins Kontor geführt, wo ihn ein bärtiger Stierna-
cken empfing. Der Einwanderer überreichte ihm seine Visitenkarte, eher
einen Brief, den er überflog und dabei von Zeit zu Zeit einen Blick
auf den Neuankömmling warf. Aus dessen Augen strömten eine milde Klar-
heit und umwerfende Ruhe, die den alten Handelsherrn aus dem Konzept
brachte; so blickte er immer wieder nachdenklich und missmutig zu Mil-
kau auf. Schließlich faltete er den Empfehlungsbrief und trommelte auf
dem Schreibtisch herum.
   "Sie wollen also hier bleiben?", fragte er, nur um überhaupt et-
was zu sagen.
   Das bestätigte Milkau. Schultz riet ihm, sich alles gut zu überle-
gen, bevor er sich für etwas entscheide.
   "Das hier können Sie vergessen; glauben Sie, da haben Sie schnell
genug! ... Rio oder São Paulo, das wär schon eher was für Sie. Dort
brummt der Handel; da finden Sie jederzeit was. Hier, das ist ein
Luftschloss; früher, ja, da ging noch etwas, aber heute ist der Han-
del im Keller ...
   "Aber ...", versuchte Milkau einzuwenden.
   Robert hörte gar nicht hin und redete Port weiter munter schlecht.
   "Also, ich glaube, es ist besser für Sie, wieder zu gehen. Wir ha-
ben genug Beschäftigte; ich muss sogar einige entlassen. Im Handel
hier in der Kolonie schaut's nirgends besser aus. Als Kaufmann bist
du heute der Ärmste, mit den Steuern, dem Wechselkurs, und was uns die
Politik abknöpft ... Obwohl wir Ausländer sind, oder gerade deswegen,
dürfen wir die Parteien hier im Staat durchfüttern. Die Wahl steht vor
der Tür, all die hohen Herren aus Vitória stehen auf der Matte; und
dann sollen wir sie verköstigen und ihnen Wähler zutreiben. Da meint
man, man hätte was auf die Seite gebracht, aber diese 'Sonderausgaben'
machen einen fertig ..."
   "Aber ich bin doch gar nicht auf den Handel scharf", stellte der
Reisende klar.
   "Was? Wie? Sie wollen sich doch nicht etwa auf den Kaffee werfen?"
   Und Robert konnte seine Überraschung nicht verhehlen, dass sich ein
so gut gekleideter Einwanderer als Landmann entpuppen sollte.
   "Ja, dann!", schwenkte der Handelsherr auf einmal um. "Über die
Landwirtschaft steht nichts auf. Gehen Sie in den Busch, roden Sie Ih-
re Parzelle, und Sie werden schauen, wie schnell Sie reich sind. Unser
Haus steht Ihnen zu Diensten. Wir rüsten Sie aus, und sobald Sie so
weit sind, liefern Sie uns Ihren Kaffee. So läuft das hier; damit be-
zahlen Sie alles ab ... Besser könnte es für den Siedler gar nicht
sein", fügte er nicht ohne ein verräterisches Augenzucken hinzu. "Da
sind Sie gerade recht gekommen, wenn Sie ein Grundstück am Rio Doce
erwerben wollen, wo soeben wieder erstklassiges Siedlungsland ausge-
wiesen worden ist. Nachdem jetzt besagte Bekanntmachung zu Vermessung
und Grunderwerb herausgekommen ist, hält sich auch der Landvermesser
Felicíssimo hier in Port auf und ist auf dem Sprung ins Neuland. Ein
lustiges Kerlchen ist das; er schaut immer wieder einmal hier bei uns
vorbei und kauft auch ein. Bei der Partei ist er übrigens auch."
   Milkau dankte für das Angebot und war drauf und dran, sich um eine
Herberge zu schauen; da hielt ihn der Andere zurück:
   "Wieso denn? Bleiben Sie doch hier; wir bringen jederzeit gerne
Gäste unter. Ja, und dann hätte ich noch etwas ... könnten Sie sich
vielleicht etwas um einen anderen Gast annehmen, einen Burschen, der
vorgestern angekommen ist, aus einer vornehmen Familie ... Stellen
Sie sich nur vor: ein Sohn von General Freiherr von Lentz! Der Junge
hängt allerdings etwas missmutig herum. Weiß der Geier, was er hat.
Etwa kommt er sich ja blöd vor, weil er ausgewandert ist. Ja, die Ju-
gend von heute! ..."
   Wieder dieses seltsame Lächeln, dann erhob er sich und bat Milkau
mit sich. Dieser fühlte sich fast erschlagen von der Flut der Schmei-
cheleien für ihn als künftigen Kunden. Sie gingen zum anderen Ende
der Theke, von wo draußen eine Treppe nach oben führte. Das scharfe
Licht des frühen Tages blendete Milkau. Gerade kam am Kaufhaus eine
hakennasige, pergamentgesichtige Alte auf ihrem Maultier an, vor und
hinter sich mit einem Quersack am Sattel. Auf der Straße zog eine
schellenbimmelnde Eselkarawane mit Körben voller Kaffee vorbei.
   Als Schultz und Milkau das Zimmer betraten, saß dort ein junger
Mann am Schreiben. Er erhob sich und begrüßte sie.
   "So, da bringe ich Ihnen einen Gefährten", vermeldete der Haus-
herr, "einen Landsmann, der am Doce zu siedeln gedenkt ..."
   Er wandte sich an Milkau und sprach, er solle sich wie zu Hause
fühlen, und erkundigte sich nach dem Gepäck. "Das müsste gegen Abend
mit dem Lastkahn ankommen", erklärte Milkau. Dann überließ Robert die
beiden Einwanderer sich selbst.
   "Arbeiten Sie ruhig weiter", meinte Milkau taktvoll.
   "Ach, das hat Zeit ... Eigentlich schlug ich nur die Zeit tot."
   Und die beiden unterhielten sich über dieses und jenes, die Reise,
das Wetter, die Natur. Dabei musterte Milkau die edlen Gesichtszüge
des jungen von Lentz voller Bewunderung und konnte sich an dessen feu-
rigen Augen, die ein ausdrucksvolles, bartloses Antlitz beherrschten,
gar nicht sattsehen; er musste sofort an das massige Haupt eines römi-
schen Patriziers denken. Aber zugleich mit dem Hochgefühl, das er an-
gesichts dieser jugendlichen Gestalt empfand, schlich sich in ihn Un-
behagen darüber ein, dass er es nun mit einem deutschen Generals-
sprössling in fremden Gefilden zu tun hatte, einem daheim so Begüns-
tigten, der sich wohl für ein Aussteigerleben in der Kolonie ent-
schieden hatte, um seine Angst, Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung
daselbst zu beerdigen ...
   Gleich darauf fanden sich die beiden in der großen Kantine des Wa-
renhauses wieder und setzten sich zu Tische. In dem schmucklosen, ge-
tünchten kahlen Raum warteten die Bediensteten wie Soldaten auf Kom-
mando den dort wortlos speisenden Angestellten auf. So verschieden
diese Menschen auch waren, alt und runzlig oder auch wie von ewiger
Jugend gesegnet, so hatten sie doch eines gemeinsam, nämlich, als ein
großes Ganzes schlicht ihre Pflicht zu erfüllen. Milkau las aus dieser
Ansammlung Deutscher eine dem Gehorsam verschriebene bäurisch-milita-
ristische Gesinnung heraus, die alles zu überdecken schien, was diese
Rasse je an Schönheit und edler Gesinnung hervorgebracht hatte. Wo war
es, das heilige Deutschland, das Vaterland des Individualismus, der
Hort des freien Geistes?, - fragte sich Milkau im Gewirr des Mahles,
den Blick auf die blonden Garden gerichtet. Je mehr er darüber nach-
sann, desto deutlicher kam er zum Ergebnis, dass sich die deutsche
Seele, jenes unbekannte Wesen, nicht mit den herkömmlichen Sinnen,
sondern nur aus der Tiefe der Philosophie erklären lasse. Und, träumte
er weiter, etwa kommt es ja dereinst so weit, dass sich zwei Seelen in
EINES Menschen Brust finden, die eine materialistisch, ehrgeizig, gie-
rig, darauf bedacht, die andere zu schlucken, die sanft schwebende,
die Menschen und Göttern spottet, die sich in völliger Unbeflecktheit
ruhig und unverkrampft ihre Welt der Poeterei und des Traumes er-
schafft. Ja, und wie lange dieser Kampf erst dauern kann! ... Doch ir-
gendwann entwich der böse Feind der Erde, machte den Geist der Schön-
heit und Freiheit nieder, und so ist der Leib heute "befriedet", ohne
innere Unruhe und Kämpfe, wie der von Leibeigenen, die vom Schatze
der Vergangenheit zehren, himmlischem Nektar, aus dem jenes Licht ent-
sprießt, das den Neugeist in seinem schauerlichen Stiefelgetrampel
durch die Welt immer noch ausleuchtet ...
   Nach dem Essen verließen die Handelsgehilfen geordnet den Saal.
Milkau und Lentz als Müßiggänger hatten es nicht so eilig. Zurück im
Zimmer, beschlossen sie, sich einmal die Stadt vorzunehmen, und als
sie gerade durch den Laden auf die Straße wollten, rief sie Schultz.
   "Da wär jetzt grade der Herr Felicíssimo da, der übermorgen an den
Doce zur Vermessung aufbricht."
   Er deutete dabei auf einen jungen, schmächtigen Mann voller Blat-
ternnarben, einen typischen Nordestiner Flachkopf, dessen dunkle Ge-
sichtsfarbe die Deutschen "blau" nennen, und dessen schwarze Augen
wie Kohlen hervorstachen.
   "Herr Milkau", fuhr Schultz fort, "ist hergekommen, um hier ein
Grundstück zu erwerben. Ich habe ihn erklärt, dass es zur Zeit am bes-
ten am Doce damit ausschaut, und dass Ihr so gütig sein möchtet, ihm
ein besonders schönes Stück auszusuchen."
   "Klar doch!", entgegnete der Vermesser so eifrig, als wollte er
gleich jemanden umarmen. "Morgen treffe ich in Santa Teresa mit mei-
ner Truppe zusammen, übermorgen in aller Frühe brechen wir dort auf,
und um elf sollten wir an der Lände von Ingá am Rio Doce sein ...
Wann wären denn die Herrschaften so weit?"
   Lentz traf dies auf dem falschen Fuß; verdattert gab er zurück:
   "Wie - aufs Land? ... Also, ich hab mich noch zu gar nichts hier
entschlossen ... Hängt auch von Herrn Robert Schultz ab ..."
   Der Kaufmann kratzte sich am Kopf und meinte feierlich, aber ver-
halten, etwa als wolle er Andere mit ihrer Meinung ins Boot holen:
   "Sie, Herr von Lentz, suchen eigentlich etwas in der Stadt, im Han-
del. Aber Herr Felicíssimo kann Ihnen bestätigen, dass da kaum etwas
geht. Wir haben eh alle schon genug Angestellte ... Da können wir nur
abwarten und hoffen ..."
   Felicíssimo fragte Milkau, wann ER denn aufzubrechen gedenke.
   "Es geht nur darum, alles vorzubereiten, damit wir danach nicht 
aufgehalten sind. Große Formalitäten gibt's nicht. Ihr wählt ein Stück
aus, und der Amtsnotar, der zur Zeit am Guandu zu tun hat, regelt dann
alles. Fürs Erste brauchen wir ihn aber gar nicht. Ich habe jegliche
Vollmacht. Ich teile den Siedlern die Grundstücke zu, und die können
dann gleich loslegen. Wir kriegen das alles ganz unbürokratisch hin.
Nur die Kosten sind sofort zu begleichen ..."
   Milkau erkundigte sich nach den Entfernungen.
   "Wie weit ist es denn von hier nach Santa Teresa?"
   "25 Kilometer. Und von dort zum Doce noch einmal. Ihr solltet den
ersten Tag bis auf den Teresenser Buckel gehen, dort übernachten, und
am Tag darauf an den Doce kommen."
   "Braucht man da einen Führer?"
   "Ach wo. Man kann gar nicht aus, und da sind so viele unterwegs."
Schultz bot an, mit Maultiertreibern zu reden, die den Weg täglich
gingen; denen könnten sie sich anschließen. Milkau hielt das nicht für
nötig und lehnte dankend ab.
   Sie sagten dem Kaufmann im Laden ade. Felicíssimo, der an dem Tag
nichts mehr zu tun hatte, bot sich an, den Fremden die Stadt zu zei-
gen, weil es ihm besonders lag, auf diese Weise die Zeit totzuschla-
gen.
   Jetzt, in der gleißenden Sonne, zeigte sich der "Hafen am Wasser-
falle" in seiner Gänze. Die Stadt bestand aus zwei Teilen, die eine
Brücke verband. Allerdings schien es nur am linken Ufer aufwärts zu
gehen, denn am rechten fanden sich nur einige verstreute Häuser. Die
Häuser standen in Reih und Glied am Flusse entlang, aber kein Blu-
men-, Gemüse- oder Obstgarten lockerte die triste Atmosphäre auf, und
kein Baum beschattete die Straßen. Es war wohl einzigartig in den Tro-
pen, dass solche Kleinstädter wie hier nicht die Annehmlichkeiten 
kannten, die Hoftiere mit sich brachten, und sich nicht einmal mit
Gartenpflanzen und Blumen abgeben wollten. Eine solch durchdringende
Sterilität strahlten die Häuser aus, wie es eben nur der Besitz von
Krämerseelen fertigbrachte. So schloss jedenfalls Milkau auf die Men-
talität des Ortes, und ihn verstörte geradezu die aufreizend karge
Weiße der Stadt, denn es erschien ihm, als hätte der Mief des Ge-
schäftlichen in diesem gesegneten Winkel der Natur jegliche Poesie und
Anmut abgewürgt und sie mit seinen Mammontempeln überstülpt. Felicís-
simo hielt sich damit nicht auf und lobte den Erfolg der Handelsherren
über den Schellenkönig: "Also, dieses Anwesen", deutete er auf einen
Hochbau wie die anderen in der Straße, "gehört Friedrich Bacher. Der
ist Chef der Oppositionspartei hier, Schultzens Konkurrent und mit ihm
übers Kreuz. Ohne einen Kreuzer kam er an; und jetzt - schaut nur hin!
Da ist er nicht der Einzige, ganz im Gegenteil. Ja, man kann schon sa-
gen, dass der Umsatz hier in Port den von Vitória locker aussticht ...
Es ist auch noch keiner pleite gegangen. Die haben's drauf, die Deut-
schen. Wären's Brasilianer, wäre hier alles im Eimer."
   So sang der Vermesser weiter sein Loblied auf die Tüchtigkeit der
Deutschen in Handel und Wirtschaft, wie leicht sie sich eingliederten,
auf ihren Arbeitsgeist, und machte im Gegenzug die Brasilianer
schlecht, einmal wohl, um seinen Gefährten gegenüber den großen Un-
parteiischen, Sachlichen zu spielen, aber auch, um sich bei ihnen lieb
Kind zu machen. Gelegentlich wollte er zeigen, wie wichtig er sei und
wie er es mit den Ortsbewohnern könne; dann ließ er Milkau und Lentz
stehen und suchte in den Läden herum, bis er den Hausherrn zu einem
Schwatz fand. Manchmal lockte er ihn auch bis an die Tür, um den Neuen
seinen lockeren Ungang mit ihm vorzuführen, klopfte ihm auf die Schul-
ter, puffte ihm in die Rippen und machte schräge Scherzchen, was die-
sen Deutschen sichtlich peinlich war und worauf sie den Neuen wie ent-
schuldigend zumurmelten: "Also, dieser Felicíssimo, das ist schon so
einer ..."
   So wanderten die drei weiter, wobei das Herumgefuchtel und die auf-
dringliche Stimme des Vermessers die Aufmerksamkeit der ganzen Umge-
bung auf sie zog, etwa der Maultiertreiber beim Abladen und der Kunden
der Kaufhäuser. Lentz hatte Felicíssimos abstoßendes Herumstöbern in
den Häusern gründlich satt; und um sich davon loszueisen, schlug er
vor, doch einen jener Hügel zu besteigen, die die Stadt umgeben und
beherrschen, und sich von dort einen Überblick zu verschaffen. Die An-
deren waren gleich dabei und ließen sich von Felicíssimo leiten. Der
Weg zum nächstliegenden führte über die Brücke über den Wasserfall,
dessen Getöse sie gleichsam ertauben ließ. Ihre Schritte auf der Holz-
brücke über den sich hinunterstürzenden Wogen lösten mächtige Schwin-
gungen aus, sodass sie sich vorkamen, wie wenn die Kavallerie auf-
marschierte. Jener Berg lag also drüben, und sie kamen auf einen stei-
nigen Pfad, dessen loses Geröll den Aufstieg zu allem anderen als ei-
nem Vergnügen machte. Felicíssimo schritt an der Spitze hurtig voran,
während die Anderen, die die Hitze nicht gewohnt und jetzt schon in
Schweiß gebadet waren, kaum Schritt halten konnten. Je weiter sie ka-
men, umso mehr erstarb das Rauschen des Wasserfalls und stieg ihnen
dafür in der leichten Höhenluft der Duft von Gebirgskräutern in die
Nase und beruhigte ihre erhitzten Sinne. Zunächst waren sie zwischen
den Wänden eingezwängt und ihr Blickfeld beengt. Oben aber hatten sie
eine herrliche Aussicht über die ganze Gegend, wie sie sich die bei-
den nie hätten erträumen lassen. Die mit einem üppigen, in allerlei
Farben und Tönungen schillernden, Kräuterteppiche gekrönten sanft ge-
schwungenen Gebirgskuppen, der Fluss, der sich lieblich durchs Tal
wand, die glasklare Luft und der von keinem Wölkchen getrübte tief-
blaue Himmel bildeten ein Gesamtkunstwerk, das der Landschaft etwas
Majestätisches verlieh.
   "Das Land bin ich." So wirkte Felicíssimos Selbstbewusstsein, als
er die Namen der Örtlichkeiten rundum nun so herunterrasselte. Milkau
stand schweigend am Gipfel. Er hatte sein Haupt entblößt, und die Son-
ne verlieh seinen nymphenblonden Haaren samt dem etwas zerzausten Bar-
te einen Glanz wie in einem Wetterleuchten. Er war ein stattlicher
Mann, dessen rosige Gesichtsfarbe man fast weiblich zu nennen geneigt
gewesen wäre, und dessen das Unendliche ausstrahlende Augen das um ihn
Liegende förmlich in sich hineinsogen. Noch hatte ihn die Jugend nicht
aufgegeben; jedoch zeichneten sich in seinen ebenmäßigen Zügen durch-
aus auch schon Ansätze zu einer natürlichen Gereiftheit ab.
   In einem Feuerwerk von Gedeute erklärte Felicíssimo alle möglichen
Stellen hier und dort, wobei ihm die Anderen, insbesondere wenn er al-
le möglichen fremdartigen Namen, wie um seinen Text unterzubringen,
herunterspulte, kaum folgen konnten. Wohl aber hatten sie höchstes In-
teresse daran, sich einen Gesamteindruck von der Gegend einzuprägen.
Gegen Osten lag also der Queimadenser Landstrich, in dem sich die
Straße großteils durch offene Landschaft, hin und wieder aber auch
durch Wäldchen dahinzog, bis Mangaraí, im Grunde ein besserer Weiler,
mit seiner Lände am Santa Maria, der hier, nicht mehr von Stromschnel-
len aufgehalten, stolz und geruhsam dahinfloss. Gen Norden, Süden und
Westen erhob sich das Gebirge, wobei sich der Eindruck von Farbkleck-
sern auf der Leinwand aufdrängte. Hier also Guandu, dort Santa Teresa,
verhohlene Winkel, die die Siedler jetzt gerade aus ihrem Dornröschen-
schlafe zu holen im Begriffe waren. Durch ein sonnendurchflutetes Tal
wand sich, einem Brautschleier gleich, jenes Flüsschen dahin. Dem Son-
nenuntergange zu umarmt der Santa Maria Kaffeegründe und Bauernhöfe
und ficht seinen Strauß mit den schwarzen Klippen aus, die ihn nur zö-
gerlich ziehen lassen.
   Milkau hatte aus alledem sofort erfasst, wie einfach sich die hie-
sige Geschichte erklären ließ. Port war sozusagen die Grenze zwischen
zwei Welten. Gen Osten stand sie für die Vergangenheit, wofür die aus-
gelaugte, heruntergekommene, schlicht müde Landschaft beredt Zeugnis
ablegte. Ob Gutshöfe, einfache Häuser, Sklavenbehausungen, auch Kapel-
len, alles lag darnieder und atmete den Hauch des Todes. Am Porter 
Wasserfall war damit Schluss. Nach Westen zu brach ein neuer Tag an,
auf neuer Erde, die Aufbruch und Zuversicht atmete und bereit schien,
die Woge der Einwanderer aus dem kalten Norden der Welt in sich auf-
zunehmen und sie an ihrem Busen zu nähren. Aus beiden würde das Volk
der Zukunft erkeimen, das eines Tages das ganze Land übernähme, und
der Wasserfall würde nicht länger zwei Welten trennen, zwei Traditio-
nen, zwei Rassen in ewiger Fehde, die eine der "Barrankenhucker" in
ihrem Schlendrian, die andere der überschäumenden Tatkraft, bis sie in
gewaltiger, fruchtbringender Liebe ineinander aufgingen.
   Sie machten sich an den Abstieg und erreichten die Stadt, gerade
als die Geschäfte zur Abendessenszeit schlossen, um danach aber noch
einmal zu öffnen. Auf der Straße war viel los, weil die Leute aus den
Läden alle nach Hause strebten.
   "Sind denn", fragte Lentz den Landvermesser, "hier eigentlich alle
Deutsche?"
   "Ja, fast; hier gibt's kaum Alteingesessene, auf jeden Fall so gut
wie keine in der Geschäftswelt."
   "Was machen dann die Porter Brasilianer eigentlich so?", hakte Mil-
kau nach.
   "Alles, was mit dem Rechtswesen und der Verwaltung zu tun hat, also
Richter, Schreiber, Steuereintreiber, Postbedienstete - Beamte halt
..."
   "Und Lehrer?", wollte Lentz wissen.
   "Nur einer, weil man droben im Neuland auf Deutsch unterrichtet und
die Lehrer dementsprechend Deutsche sind, außer dem einen hier in der
Stadt. Priester haben wir auch nicht, auch keine Kirche, wie euch si-
cher aufgefallen ist. Wozu auch - Katholiken gibt's hier nur wenige,
und die Protestanten haben ja ihre Kapellen in Luxemburgo, Jequitibá
und Altona mit jeweils ihrem Pastor ... Katholiken haben wir im Ost-
teil der Gemeinde, im Raum Queimado und Mangaraí und anderswo, da wo
eben die Landeskinder zu finden sind."
   Felicíssimo fuhr mit seiner Ortsschilderung fort, und die Anderen
hörten ihm schweigend zu, bis sie Schultzens Anwesen erreichten. Der
Vermesser verabschiedete sich, nicht ohne in Aussicht gestellt zu ha-
ben, sie am Morgen noch einmal bei einem Rundgang zu begleiten.
   Nach dem Nachtmahl, das wie das Mittagessen ablief, zogen sich die
zwei Neuen in ihr Zimmer zurück. Sie hatten nicht die mindeste Lust
mehr, sich den Abend in der Brauerei jenseits des Flusses um die Ohren
zu schlagen wie viele Einheimische hier. Milkau war von der Anreise
und ihrer Wanderung hundsmüde. Lentz fühlte sich von der Bekanntschaft
mit seinem neu angekommenen Landsmann seltsam berührt. Das Gefühl
konnte er nicht beschreiben; er empfand sich zu ihm hingezogen und von
ihm in Beschlag genommen.
   Miteinander saßen sie am offenen Fenster. Die Abendruhe hatte alles
zum Stillstand gebracht, wenn man so sagen will, den ablaufenden Film
durch ein Standbild ersetzt. Es war die Zeit, da Mutter Natur über
sich hinauswächst und nicht mehr sie selbst ist, sondern ... Kunst.
Schon schlichen sich die Waldesdüfte der Umgebung in den Ort, und
stille Schatten machten sich daran, die Welt einzulullen. Die beiden
Einwanderer sinnierten schweigend vor sich hin, als raunte ihnen etwas
die Lösung des Geheimnisses zu, wie gerade hier und jetzt schon lange
Geträumtes und in Wehmut Ersehntes Wirklichkeit werde ...
   "Seltsam, ich könnte schwören, ich hätte das alles hier schon ein-
mal gesehen", ergriff Milkau das Wort. "Aber nein, es muss sich um ein
Hirngespinst handeln. Das vergeht schon wieder. Diese ganze Umgebung
kann einen wahrlich verrückt machen."
   "Und - wie lange wollen wir hier eigentlich kleben bleiben", frag-
te Lentz gähnend, wobei er mit dem Ausblick auf die Landschaft eher
wenig anfangen konnte.
   "Zeit - was ist schon Zeit?" entgegnete Milkau. "Ich weiß zwar
nicht, wie lange mein Leben währt; ich gehe aber davon aus, hier mei-
nen Anker fürs Leben geworfen zu haben. Einwanderer bin ich, die Sehn-
sucht nach etwas Festem empfinde ich. Meine irdische Wanderschaft hat
hier und jetzt ihr Ziel erreicht ..."
   "Und das war's schon? Treibt Sie nichts an, weg von hier, weg aus
dieser Behaglichkeit, eher dieser Grabesruhe? ..."
   "Hier bin ich; hier bleibe ich. Frieden? Ja, genau den suche ich.
In aller Demut wünsche ich mir einfach, dass um mich herum alles im
Reinen sei."
   "Und deshalb wollen Sie in den Busch? Wäre da nicht die Stadt und
ein Posten im Handel eher angesagt?"
   "Keineswegs. Mein Leben stelle ich mir ruhig und frei vor, und im
Geschäftsleben geht's doch nur um Ehrgeiz und Gier. Im Übrigen halte
ich dafür, dass die Landwirtschaft auf solch fruchtbarem Neuland wie
hier genau das ist, was dem Menschen ziemt, wie eben im alten Konti-
nent der Gewerbefleiß. Der Handel bedeutet mir nichts. Er ist doch et-
was Schäbiges, etwas für niedere Triebe; gut, die Gesellschaft braucht
ihn halt. Nein, mich zieht's hin zum Einfachen, zu dem, was in der Zu-
kunft Bestand hat ... Sie sind sich also sicher, dass die Geschäfts-
welt etwas für Sie ist?"
   "Also, ich weiß noch nicht; ich kann mich nicht recht entschlie-
ßen. Einerseits sehe ich den Handel schon als lukrative Möglichkeit
und als Gelegenheit, die Spielsucht, die jeder Mensch in sich trägt,
auszuleben; andererseits ist er in der Tat eine schofle Angelegen-
heit. Ich weiß echt nicht; hätte ich nicht Schiss davor, da draußen im
Urwald zu versauern, könnte ich mir ein Leben als Bauer sogar vorstel-
len."
   Die Stadt war spärlich, mit großen Abständen, erleuchtet. An man-
chen Stellen aber fiel das Licht der Straßenlaternen und der Häuser
auf den Fluss, der es mit seinem zitternden Spiegel verdutzendfachte.
Lentz schwieg. Sein Blick verlor sich in der Nacht, als wäre er schwer
am Grübeln; sein Gesicht hatte sich verfinstert und seine Züge sich
eingetrübt, was seiner Erscheinung einen Anschein von Groll oder doch
Unrast verlieh. Er schien in seinem tiefsten Innern mit sich selber
einen schweren Strauß auszufechten, mit seinem Schicksal zu hadern und
vergebens gegen jene Käfigwände anzugehen, die ihn wie einen verletz-
ten Vogel hinderten, sich in die Sphären seiner Träume zu erheben.
Milkau konnte diese quälende Stille nicht ertragen, und wie es seinem
grundgütigen Wesen entsprach, regte er seinen jungen Gefährten an:
   "Siedeln wir doch gemeinsam am Doce! Dort fühlen Sie sich gewiss
glücklicher und freier. Wir nehmen miteinander ein Los, und, nachdem
wir sonst niemanden haben, arbeiten wir quasi als Firma zusammen. Und
wenn Sie es sich dann doch noch anders überlegen, können Sie jeder-
zeit aussteigen. Dann bleibe ich eben allein übrig, was ja ohnehin
mein Schicksal zu sein scheint ..."
   Das war wirklich gut gemeint und kam von Herzen. Die Worte zauber-
ten ein Lächeln auf Lentzens Lippen, als hätte sich plötzlich das auf-
gewühlte Meer seines Gemütes in einen lieblichen, sanftmütigen See
verwandelt.
   "Ja, schaun wir mal ... Danke jedenfalls ... Warum eigentlich
nicht?", murmelte er, wie um in seinem Stolze seine Ergriffenheit zu
verhehlen.
   Milkau war erfreut über die Aussicht, einen Gefährten gewonnen zu
haben, dem es in seinem Exil um Anlehnung und Zuspruch war. Endlich
hätte er jemanden, mit dem er sich auf seinem eigenen geistigen Niveau
austauschen könnte und auf dessen Anlagen und Ansichten man jedenfalls
aufbauen könnte. Es lag ihm aber fern, seinen Einwandererkollegen in
sein eigenes Korsett zu pressen. Dieser würde sich seinen Vorschlag
noch gründlich überlegen müssen. Lentzens Vorliebe für das unbefriedi-
gende Geschäftsleben war ohnehin nur halbherzig; auch zog ihn der In-
tellekt seines neuen Bekannten an, und so war er hin und hergerissen.
Milkau war taktvoll genug, um das Thema zu wechseln und erging sich in
Unverfänglichem.
   "Na, wie gefällt Ihnen denn das Land so, dieses Frühlingsgrün, die-
se alles einhüllende Sonne, diese üppige Natur?"
   "Ja, schon, alles recht und schön, aber mir ist Europa lieber, sei-
ne Jahreszeiten, die mächtigen Gebirge, all jene feinen Farbschattie-
rungen."
   "Europa", widersprach Milkau, "haben wir halt so drin, dass uns das
rechte Urteil fehlt. Einmal ganz von außen betrachtet, könnte ich den
Rhein nicht über den Santa Maria stellen, der ohne eine geschichtliche
Befrachtung, Sagen und dergleichen, schlicht für sich gesehen, mich
mit seinen wilden Gestaden, seinem reinen Gesprudel, seinen Trauerwei-
den, zutiefst beeindruckt ..."
   "Aber diese erbarmungslose Sonne hier, die jegliches Farbenspiel
niederringt; hier ist doch alles gelb in gelb!"
   Und mit einem Wischer über sein Haupt deutete Lentz an, sich des
allmächtiges Gestrahles zu entledigen.
   "Das wird schon, und Sie werden sehen, Sie werden es lieben. Mir
jedenfalls gefällt es von Mal zu Mal besser."
   "Ach, dann ist es also nicht das erste Mal, dass Sie ins Hinter-
land Brasiliens kommen?"
   "In diese Gegend schon. Aber zuvur durchstreifte ich schon Minas
Gerais, gleich nach der Einwanderung. Ich wollte mir irgendwo etwas
suchen, fand aber nichts, was mir zusagte; und so bin ich also hier
gelandet."
   "Wo genau in Minas waren Sie denn?"
   "Im Westen. Eine wunderbare Reise. São João del Rei muss man ein-
fach gesehen haben."
   "Ah - wieso?", erkundigte sich Lentz, neugierig geworden.
   "Da drüben findet man noch so etwas wie einen Hauch des echten, al-
ten Brasilien. Was sonst überall der Vergangenheit angehört, dort 
scheint es noch weiterzuleben ..."
   Lentz hing an den Lippen Milkaus, als dieser seine Erinnerungen an
die alte Mineirer Stadt ausbreitete. Port war ruhig, die Häuser schon
dunkel; nur die Straßenlaternen betüpfelten da und dort die Finsternis
der klaren Nacht, die im Sommer ohnehin nur kurzes Innehalten des Ta-
ges ist. Der Wasserfall röhrte immer noch, doch sein eintöniges Rau-
schen kam gar nicht an bei Lentzens Ohren, die ganz von Milkaus Er-
zählung gefangen waren.
   "Schon in aller Früh wurde ich müder Reisender von allen möglichen
Kirchenglocken aus dem Schlaf gerissen, was mich aber nicht störte,
ganz im Gegenteil. Uns in den großen Städten heute ist ja diese Erfah-
rung, wie ich sie dort machte, abhanden gekommen. Wie auch immer, für
mich klangen sie lieblich wie Engelsgesang und brachten mich in Hoch-
stimmung, als würde eine alte, vergessene Saite an mir gezupft, und
etwas in meinem tiefsten Inneren erwachte wieder und nahm von mir Be-
sitz ... Ich blieb liegen und gab mich verzückt meinem Schlafe hin ...
und meinem Traume. Töne, Laute überall, die linde Gebirgsluft waberte
daher wie mit Musik geschwängert; die vom Frohsinne des Glockenklanges
erweckte Natur entschwebte leichtfüßig in den Äther, die Stadt hob
harmoniengesättigt von der Erde ab und strebte singend gen Himmel ...
Glockengeläute im Ohr, träumte ich dahin, Ruhe, Schlaf, Vergessen hei-
schend ... Das Mittelalter trat in meinem Traume auf, Städte, Burgen,
Klöster, Menschen, alles Mögliche, geheimnisvoll auf den Glockenturm
hin ausgerichtet, der in jenem Traumraume Leben und Tod bemaß ..."
   Aus Milkau sprudelte es weiter nur so heraus von der alten Mineirer
Stadt, die für ihn wie ein Heiligtum war. Der Glaube war ihr Um und
Auf, ihr Wesen; daraus schöpfte sie ihre Bedeutung. In dem Orte, von
herbem, schroffem Gebirge umzingelt, stieß man auf Schritt und Tritt
auf eine Kirche, durchwegs schlicht, armselig, dem Behufe der Anbetung
dienende, nicht etwa dem Kunstsinne frönende Zweckbauten. Die Häuser
folgten demselben strengen, anspruchslosen Stile und waren an den
schmucklosen Fassaden mit kleinen schwarzen Kreuzen bezeichnet. Alles
atmete Geistlichkeit, war der Religion zugewandt, Kirchen, in denen
fast zu jeder Stunde reges Leben herrschte, fromme Frauen, die einmal
an einem Altare allein sein wollten, die Feste im Jahreskreis, die das
Volk ebenso in Beschlag nahmen, wie sie ihm willkommene Zerstreuung
boten. In der Fastenzeit aber bordete das religiöse Leben geradezu
über ... Angeführt von einem Pater und unter reger Teilnahme der Gläu-
bigen wurde dann abends in einem Umgange durch die Stadt mit viel Ge-
sang der Kreuzweg gebetet. Mit einem weiß beschleierten Kreuz voran,
von einem Dutzend Fackeln gesäumt, ging's los. In fröhlicher, be-
schwingter Hingabe zog jene wahrhaft klassenlose Gesellschaft dahin;
der Priester betete vor und das Volk in einem gemurmelten Singsang
nach. Jedesmal an einer Station, offene Altäre an der Straße, wurde
gesungen, so gut es eben jeder konnte. Die vom Mondlichte beschienene,
von einer frischen Gebirgsbrise angenehm berührte, unter klarem Himmel
kniende Menge, flehte, ohne alles todernst zu nehmen: "Barmherzig-
keit!"
   Aber auch auf den umliegenden Höhen fanden sich Kirchen und Kapel-
len, die wie Wachttürme wirkten, und auch dorthin, zu den Patronen je-
ner einfachen Gotteshäuser, prozessierten die Gläubigen hinauf. An
Feiertagen, erinnerte sich Milkau, wallte des Öfteren ein Zug Semina-
risten hinauf, und mitunter kreuzte sich diese schwarze Kolonne mit
einer weiß gekleideten Schulkinderschar unter Führung von Schwestern
der Nächstenliebe, wobei sich beide Gruppen geflissentlich aus dem Weg
gingen, bergan, bergab, zickzack, bis sie sich am Horizont verloren
... Und wenn zur Zeit des "Engel des Herrn" ein versprengter Pilgers-
mann dort oben den Seminaristen ein "Gelobt sei Jesus Christus" zum
Gruße bot, erhoben die Burschen das Haupt, es geschwind entblößend,
stolz gen Himmel, und es entführ ihnen aus voller Brust der von der
Einsamkeit des Abends in seiner Feierlichkeit noch einmal gesteigerte
Ruf: "Er sei gelobt auf ewig!"
   Die Stadt legte allerdings auch von der anderen Geschichte des al-
ten Brasilien Zeugnis ab. Die aufgewühlte, zerfurchte Oberfläche hätte
nicht deutlicher belegen können, dass hier der Mensch, der fürchterli-
che, angetreten war, den Eingeweiden von Mutter Erde Gold zu entwür-
gen. Sie, die so schrecklich Geschundene, blickt anklagend auf die 
heutigen Geschlechter und hält ihnen die Untaten der Vergangenheit
vor.
   Der heutige Mensch mit seinem reinen Herzen kann nicht umhin, ange-
sichts dieser von Sklaven, Gold und Blut geprägten Ortsgeschichte
Grauen zu empfinden ...
   Manche Häuser müssten eigentlich als Inbegriffe des Besten der Ge-
schichte einer Nation dauerhaft bewahrt werden. In ihnen lebten Mär-
tyrer, in ihnen erwuchsen Träume, und die Einheimischen lesen aus je-
nen noch erhaltenen Bauten, die einen Hauch des Einst ausstrahlen, die
Poesie der Freiheit und der Größe des ganzen Landes heraus. Diese un-
entwirrbare Liebe zu Glaube und Vaterland verleiht jener alten Stadt
etwas Einzigartiges, was sie von den zersetzenden Lastern in den ande-
ren wie durch Zauberhand entreißt ...
   Als Abschluss seiner Schilderung ging Milkau noch etwas durch den
Kopf:
   "Ich schätze mich glücklich, das alles noch erleben dürfen zu ha-
ben, denn es wird nicht lange hergehen, dass dieser Verbund aus dich-
terischem Hauch und echtem Brasilien erlischt. Ja, es macht mich re-
gelrecht fertig, dass dort bald alles zusammenbricht, wo sie doch
jetzt schon von den Siedlungen eingeschlossen ist und abgewürgt wird,
die sich keinen Deut um das Alte scheren und eines Tages alles über-
nehmen und auf ihre Kragenweite hin umgestalten."
   "Nun, so ist das Leben nun einmal, und auch das Schicksal dieses
Landes. Wir bringen es auf Vordermann und breiten uns darin aus; wir
Weißen werden es einst bedecken, und unserer Größe wird kein Ziel ge-
setzt sein. Was Sie da von jener Stadt erzählen, berührt mich nicht;
mein Blick geht nach vorne. PORT zählt heute für mich, weil sich hier
etwas rührt, etwas vorwärts geht; was soll da eine solche tote Stadt,
in der ohnehin bald Matthäi am Letzten ist ... Was rede ich da groß
herum; die Zivilisation hier hängt doch auf Gedeih und Verderb an der
europäischen Einwanderung; wir müssen nur alle auch den Willen auf-
bringen, zu herrschen und uns durchzusetzen."
   "Sie lassen es doch selbst anklingen", meinte Milkau, "was wir für
eine große Verantwortung haben. Mag schon sein, dass es unsere Bestim-
mung ist, das Land von Grund auf umzukrempeln und ihm eine andere Art
der Kultur, des Glaubens und der Sitten und Gebräuche überzustülpen.
Wir kommen als neuer Kolumbus, schleichend, beharrlich, friedlich in
den Mitteln, aber in den Auswirkungen dennoch furchteinflößend. Wenn,
dann muss es sich um einen menschlich vertretbaren Wandel handeln, auf
den auch nicht ein Schatten von Zerstörung fällt. So wie es jetzt
steht, bringen wir doch hier nur alles durcheinander. Wir bringen den
Schmelz der Nation zum Splittern, drängen uns unter die Einheimischen,
stellen alles in Frage und verunsichern sie ... Keiner versteht mehr
den anderen, fast so wie in Babel; die Neuen von überall her setzen
auch ihre jeweiligen Gottesbilder ein; man denkt aneinander vorbei,
und selbst Mann und Frau lieben einander nicht mehr mit den gleichen
Worten ... Alles zerfließt, und die Zivilisation hier schreitet fort,
ohne zu wissen wohin ... So läuft Fortschritt nicht! Es bricht dem
Brasilianer das Herz, wenn er das Gefühl haben muss, dass es mit ihm
zu Ende gehen könnte. Das Gesetz der Schöpfung ist es, sich sein ei-
genes Bild und Gleichnis zu erschaffen. Aber hier bricht Überliefertes
ab, der Vater erkennt seinen Sohn nicht in sich wieder, die Sprache
stirbt ab; und was das Volk in seinem tiefsten Inneren ausmacht und
prägt, verstummt, und den Künftigen wird die Vergangenheit einmal gar
nichts mehr sagen ..."


                                 -II-

   "Mir verschlägt's die Sicht", sagte Lentz, verschloss die vom glei-
ßenden Licht überwältigten Augen und sah aber immer noch hinter seinen
Lidern die Sonne weiterblitzen.
   "Ach", murmelte hingegen Milkau, "hätten wir doch immer dieses Son-
nenlicht ... Könnte der Mensch doch seine Heimat in einem Reich ohne
Schatten haben!"
   Die beiden ließen Port zurück und befanden sich auf dem Weg nach
Santa Teresa. Zunächst lief die Straße über kahle Hügel, und als man
das Auf und Ab der offenen Landschaft mit einigen umherirrenden Wolken
am Himmel hinter sich hatte, schluckte sie der Dschungel. So unverse-
hens in dessen kalte Düsternis geworfen, überfiel Milkau und Lentz ei-
ne leichte Benommenheit, von der sie sich nach und nach erholten, und
daraufhin versanken sie in Bewunderung.
   Der Tropenwald ist der Inbegriff des Ungebändigten, Bäume aller
Größen, Art und Arten, kleinere Bäume, die verzweifelt versuchen, es
den größten gleichzutun und deren Wipfelhöhe zu erreichen, während an-
dere klein beigeben, wenn sie auf ihrem Weg nach oben auf Widerstand
stoßen, und sich mit ihren üppigen, abweisenden Kronen bis fast auf
den Boden verneigen. Riesen gibt es, deren Schatten eine ganze Kompa-
nie beherbergen könnte, Stämme, dass es fünf Männer bedarf, um den
Stamm zu umspannen, und Leichtgewichte, die sich mit ihren schlanken
Stämmen durch das wogende, grüne Meer der anderen Wipfel hindurchar-
beiten, um einen Blick vom Himmel zu erhaschen. Es reicht für alle;
allesamt haben sie die Chance, sich zu ihrer größten Pracht zu ent-
falten. Jene grüne weite Welt steht für Althergebrachtheit und Leben.
Wo wäre hier der Hauch eines Opfers als Triumph und Preis des Todes?
Weiter im Wald ranken sich Schlingpflanzen mit der Anmut von Geschmei-
den kosend um die alten Stämme. Mitunter treten manche sogar als Müt-
ter auf, die leichthändig, aber kraftvoll der Tochter emporhelfen, die
ihrem Schoße entspross; und mitunter sticht die Nachkommin sogar noch
ihre auch schon stämmige und prachtvolle Erzeugerin aus. Eine unüber-
schaubare Vielfalt an Gebüsch wächst zu Füßen der grünen Giganten, gar
nicht zu reden von all jenen Blumen und den übrigen Kleinen der Pflan-
zenwelt, die sich alle ihren Platz zu ergattern suchen. Alles wachset,
dränget, strebet, ein entschlossenes Ganzes aus knorrigen Gliedern,
verflicht, verfilzt sich oben zu einem dichten Schopfe, während es im
Boden ein unentwirrbares Wurzelwerk bildet. Alles umarmt sich, windet
sich, gewaltig ausholend, umeinander und bildet mit seinem Zusammen-
halt eine einzige große Lebensgemeinschaft. Das Licht, das das Laub-
dach und die Blätter durchscheinen zu lassen geneigt sind, taucht al-
les in einen verhaltenen Schimmer und eine unvorstellbare Farben-
pracht. Jede Farbe, an sich hell, warm, wird von den unberechenbaren
Schatten der Bäume wie auf einer Malerpalette so verrührt, dass das
Ergebnis von dunkelstem Grün bis zu bleichstem Weiß reichen kann. Im-
mer wenn man meint, die Straße endete im Nichts, bildet der Wald einen
weiten, fernen, bläulichen Kreis, mit aus nichts als Licht gefertigten
Toren, und zwar einem Licht so süß, so ans Unendliche gemahnend, dass
selbst der Regenbogen davon noch lernen könnte ...
   Dieses große Eine, dürres wie grünes Laub, lebende Stämme wie Tot-
holz, Rankpflanzen, Orchideen, Blumen, an der Rinde herabrinnendes
Harz, Vögel, Insekten, scheue Nachtaktive, sondern einen einzigartigen
Duft ab, der entschwebt und sich überall verbreitet und, wie der Weih-
rauch eines Domes, beruhigt, betört und einlullt. Man nehme dieses
herbe, berauschende Aroma und dazu das linde Licht, und schon ist man
an den Quellen der Waldesruhe ...
   Die Ruhe dort geht so tief, ist so gelassen, als wäre sie für ewig.
Stimmchen, Gemurmel, Geraschel der Pflanzen, es fügt sich alles ins
wohlgeformte Ganze ein. Schlüpft ein Lurch durchs dürre Laub, bricht
das Rascheln ganz kurz den Einklang; in der Luft meint man ein Blit-
zen auszumachen, ein Schauder geht durch des Waldes Nerven; und die
Reisenden, ohnehin schon durch die erhabene Abgeschiedenheit ver-
stört, reißt es herum, und sie zucken plötzlich wie elektrisiert zu-
sammen ...
   "Das gibt's ja gar nicht!" rief Lentz aus, als er sich wieder ge-
fangen hatte.
   Milkau erwiderte: "Ja, die Eindrücke, die man hier gewinnt, sind
mit denen daheim nicht zu vergleichen."
   Und mit dem Blick empor und nach vorne gerichtet, fuhr er fort:
   "Hier wird man angesichts der überwältigenden Natur ganz klein.
Wir kommen aus der Bewunderung gar nicht mehr draus. Letztendlich las-
sen wir uns so in die Verehrung hineinziehen, dass wir uns selber ver-
sklaven; unser Wesen geht samt und sonders in der Seele des großen Al-
les auf ... Der brasilianische Wald ist etwas Düsteres, Tragisches. Er
vermag den Überdruss vor dem Ewigen zu wecken. Der Wald Europas ist
viel durchsichtiger, er schwingt im Rhythmus der Jahreszeiten wie Tod
und Auferstehung, wie Tag und Nacht."
   "Dieser Urwald hier lässt uns aus dem Staunen nicht mehr drauskom-
men; so ist es doch?", hatte Lentz den Eindruck.
   "Genau. Andererseits, wenn man sich vom Staunen verleiten lässt,
ist man eben auch gefangen, und wir verlieren unser eigenes Ich. Ge-
nau diese Wirkung übt diese Lebenskraft, dieses Licht, diese Üppigkeit
auf uns aus. Wir geraten in Hochstimmung, kommen aber dem Geheimnis
nicht auf die Spur ..."
   Schweigend wanderten sie die überkrönte Straße weiter, wobei ihre
Augen in gebannter Bewunderung verharrten.
   Nach einiger Zeit hielt es Lentz nicht mehr aus:
   "Zivilisation ist hier eigentlich undenkbar ... Allein schon am
Land als solchem, dieser Heftigkeit, diesem überbordenden Wuchs,
scheitert man schier ..."
   "Du weißt aber schon", warf Milkau ein, "dass hier die Natur ge-
zähmt ist und der Mensch mit seinem Fuß auf ihr steht?"
   "Aber bisher ist doch hier eigentlich noch so gut wie nichts ge-
schehen, und wenn, dann ist es des Europäers Verdienst. Der Brasilia-
ner stellt doch nichts auf die Beine; er ist eben Mischling. Und nie
bringen niedrige Rassen Zivilisation zuwege; siehe die Geschichte ..."
   MILKAU - Es ist einer der Fehler der Geschichtsversteher, dass sie
die Rassenfrage durch die Brille einer aristokratischen Voreingenom-
menheit sehen. Niemand hat aber bis heute vermocht, überhaupt festzu-
legen, was Rasse ist, und noch weniger, wie sie sich voneinander un-
terscheiden. Es wird zwar viel schlau darüber geredet, aber es kommt
nicht viel mehr dabei heraus als bei der Beschreibung der Wolken über
uns, Luftsuppe eben. Und welche wäre dann die Rasse, die ausersehen
wäre, die Zivilisation voranzubringen? Einst war es der Semit, der
sich in Babylonien und Ägypten hervortat, der Hindu am heiligen Ufer
des Ganges, und das waren damals die einzigen. Die übrige Welt spielte
keine Rolle. Und heute erschöpft sich gerade die Gesittung an der
Seine wie an der Themse in der Dekadenz des Wohlstands. Also, ich lese
aus der Geschichte heraus, wobei man durchaus darüber streiten kann,
dass die Zivilisation ewig wandert, von diesen zu jenen, von Rasse zu
Rasse, und dass sie immer wieder neu ihr Licht und ihre Wärme aus-
schüttet. Die einen werden erleuchtet, die anderen versinken in Fins-
ternis ...
   LENTZ - Bis heute sehe ich nicht, wie die schwarze Rasse in dieser
Hinsicht je an die weiße herankäme. Nie ist in Afrika ...
   MILKAU - Afrikas Zeit kommt schon noch. Rassen zivilisieren sich
durch Verschmelzung. In der Begegnung fortgeschrittener Rassen mit ur-
sprünglichen, wilden liegt der Jungbrunnen der Zivilisation. Die Rolle
der entwickelteren Völker liegt in ihrem Drang, ihre Kultur zu ver-
breiten, was nach einer zwangsläufig schmerzhaften Übergangszeit, oft
vieler Generationen, dazu führt, dass die Ernte eingefahren wird, in
Form erneuerter Völker. So wurde aus Gallien Frankreich, aus Germanien
Deutschland.
   LENTZ - Ich glaube aber nicht, dass aus der Mischung mit vollkommen
Unfähigen irgendetwas Sinnvolles für die Zivilisation herauskommen
kann. Es ist immer etwas Minderes, eine Mulattengesellschaft, der ewi-
ge Sklave im Auf und Ab: Aufbäumung und Absturz. Beseitigt man dieses
Fusionsprodukt nicht, steht die Zivilisation immer auf tönernen Füßen,
stets in Frage gestellt durch die Triebhaftigkeit, die Grausamkeit und
die angeborene Unterwürfigkeit des Negers. Wenn ein Land wie Brasilien
vorwärtskommen will, muss es die Mischrasse, zum Beispiel eine mulat-
tische, durch Europäer ersetzen. Die Einwanderung erfolgt also nicht
etwa nur, weil wir Weißen so viel hermachten, und es geht nicht nur um
die Zukunft des Landes, sondern um eine Grundsatzfrage für die Mensch-
heit an sich.
   MILKAU - Der Austausch der Rassen löst die Probleme einer Zivilisa-
tion nicht. Ich halte dafür, dass sich Fortschritt kontinuierlich, oh-
ne Brüche, abspielen muss. In diesem großen Gebilde, das Menschheit
heißt, steigen Nationen in ungeahnte Höhen auf, um sich dann zu ver-
zehren und abzusterben, andere kommen kaum über ihren ursprünglichen
Stand hinaus und verschwinden plötzlich; aber die Menschheit als Gan-
ze, bestehend aus Völkern, Rassen, Nationen, steht nie still, schrei-
tet immer fort, und ihre dunklen Stellen und schwachen Seiten sind nur
Zwischenspiele auf dem Wege in eine bessere, fruchtbringendere Zu-
kunft. Es ist das Gesetz des Universums, des Alls, das sich in dem
kleinen All, der Menschheit als Teil desselben, verwirklicht ...
Rührt sich auch nichts an der glänzenden Oberfläche, so arbeitet und
rumort es dennoch im Untergrunde weiter. Gelegentlich sickert hervor,
wie schlimm es wirklich schon steht, und dann mag es sein, dass ein
Mischvolk hervortritt, das die Zivilisation übernimmt und weiterführt,
ja sogar weit über jene der Ausgangsvölker hinaus emporklimmen lässt
...
   LENTZ - Wie soll das denn gehen? Hochentwickelte und Wilde ergä-
ben also gemeinsam etwas, was in Kultur und Gesittung über beiden
steht?
   MILKAU - Mit der Kultur ist es so eine Sache, Lentz. Manches ver-
blasst, anderes blüht, je nach den Einflüssen von Zeit und Raum, aber
deswegen, weil ein bestimmter Zweig mal nicht so vertreten ist, heißt
das noch lange nicht, dass der Fortschritt insgesamt nicht größer wäre
denn je. Wäre es andersherum, wäre die Menschheit seit den Griechen 
und der Renaissance gewaltig zurückgefallen, weil die Geschichte bis
heute keine solch glücklichen Epochen der Bildhauerei und Malerei mehr
aufweisen kann.
   LENTZ - Hier geht's aber darum, was Fortschritt überhaupt ist.
   MILKAU - Als sich die Menschheit aus der Waldesruhe in den Trubel
der Städt aufmachte, zog sich ein großer Bogen von äußerster Knecht-
schaft hin zu größtmöglicher Freiheit. Des Menschen Streben ist auf
mehr Zusammenhalt hin gerichtet, auf die zwischenmenschlichen Bindun-
gen; und was trennt, stört da nur. Am Anfang war Gewalt, das Ende ist
die Liebe.
   LENTZ - So nicht, Milkau! Macht ist und bleibt, und sie wird immer
und ewig verknechten. Das, wovon jene Demokraten und Verbrüderer als
Zivilisation träumen, ist doch nur der Sargnagel für alles Höhere, ja
des Lebens selbst. Der Mensch muss stark sein und Lebenswillen haben,
und wenn er eines Tag zur vollen Erkenntnis seiner eigenen Persönlich-
keit aufläuft, zur Befriedigung seiner Wünsche und Träume steht, wenn
er diese Traumwelt in die Wirklichkeit umsetzt und jene Welt genießt,
wenn er den Boden erzittern lässt, er, der die Blüte von Macht und
Herrlichkeit ist, dann kann ich sagen: Er ist der Herr. Sein Endziel
ist nicht irgendeine Verbrüderugsklamotte; worum es ihm in der Welt
geht, ist, sich freizuschwimmen und seine Neigungen gleichsam wie wah-
re Kunst, das unbezwingbare Streben nach oben, oben, den Traum eines
Poeten, auszuleben, um Führer zu sein, wie der Hirt seine Herde im
Griff hat. Solidarität, Liebe? Vergessen wir's! In Gleichheit zu leben
heißt im Schlamm verrotten.
   MILKAU - Alles, was die Menschheit unternimmt, entspringt dem Stre-
ben nach Freiheit; sie ist der Dreh- und Angelpunkt, das Daseinsprin-
zip einer Gesellschaft überhaupt. Ordnung ist kein Wert an sich, son-
dern ihrer bedarf man, damit Zusammenleben gelingt. Eine Gesellschaft
ohne Ordnung wäre wie Rechnen ohne Zahlen. Auch in einem System von
Sklaven und Herren mag es eine Zeitlang gut gehen, aber ohne Freiheit
besteht auch die Ordnung nicht. Freiheit ist das Um und Auf; auf ihr
baut der Zusammenhalt auf. Die Freiheit wird, wie das Leben selbst, in
Schmerzen geboren und wird sie nicht mehr los.
   LENTZ - Oh! Aber dieser Schmerz vergällt einem den Sieg. Nein, der
wahre Mensch ist der, der jegliches Leiden abschüttelt, derjenige, der
nicht vor Angst erschaudert, der heiter über der Pein Stehende, der
Führertyp, der Allmächtige, der alles eisern im Griff hat ... und der
nicht liebt, denn die Liebe ist nichts als eine quälende Abirrung des
eigenen Ich.
   MILKAU - Was uns Menschheit zusammenschweißt, ist das Leiden. Aus
ihr entquillt die Liebe, die Religion und die Kunst, und man kann ihr
schöpferisches Bewusstsein nicht durch wilde Gefühllosigkeit ersetzen.
   LENTZ - ICH halte dafür, dass wir in alte Zeiten zurück müssen, die
Makel dieser Kriecherzivilisation mit Stumpf und Stiel ausmerzen und
uns von ihrem Gifte reinigen, das einen umbringt, nachdem es jegliche
Lebensfreude abgetötet hat.
   MILKAU - Ich ersehe aus dem Eifer deiner Worte eine andere Trauer
angesichts des Bildes, das die Menschheit abgibt ... aber Traurigkeit
und Verzweiflung sind es dennoch. Das Übel ist allumfassend, und in
diesen Zeiten ist niemand zufrieden. Alles jammert, und weder Herren
noch Knechte, weder Reiche noch Arme, weder Gebildete noch einfache
Leute, sind so mit sich im Reinen, wie sie es gerne hätten. Und wenn
auch nur einer in der Gesellschaft zu leiden hat, verbittert dieser
Wermutstropfen die Grundlagen des Gesamten. Alles ist erschüttert, der
Grund, auf dem man steht; die Welt wackelt, und Atmen ist nicht mehr
möglich. Wenn der eine hierhin, der andere dorthin strebt und jeder
gänzlich anders fühlt, wie will man das alles unter einen Hut bringen?
Religion ist passé, etwas Zeitbedingtes; und wenn ihre Zeit um ist,
ist es eben vorbei ... Der Mensch kann noch so sehr nach Frieden stre-
ben - trotzdem sind wir eine Zivilisation der Krieger geblieben. Alles
taumelt, ist verwirrt, zappelt in einem Wirbel der Verzweiflung ...
Die Schatten der Vergangenheit lasten schwer auf dem Menschen von heu-
te und überschütten und überfordern ihn mit all ihren gespenstischen
Einflüssen. Und die Zukunft, Überbringer froher Botschaft, kommt auf
Samtpfoten wie ein Dieb in der Nacht ... Aber ich wartete nicht ein-
fach ergebungsvoll auf das, was kommt; ich nahm die Sache selbst in
die Hand und ging ihr leichtfüßig entgegen, um alles Gute, Edle und
Schöne, das sie der Menschheit bringen will, in Empfang zu nehmen. Und
WIE ich mich erlöst fühlte!
   LENTZ - Und dafür, dazu hast du also das Vaterland, deine Lieben
und dein Umfeld und eine Hochzivilisation zurückgelassen?
   MILKAU - Ja, alles, was entbehrlich ist.
   LENTZ - Und Europa und Deutschland sagen dir gar nichts mehr?
   MILKAU - Doch, ihre große Vergangenheit. Aber die ist nicht fassbar
und nicht sichtbar; und ich muss schließlich nicht auf ihren Ruinen
hocken, um sie zu lieben. Entscheidend ist, was ich in meinem Geiste
davon festhalte. Wenn ich den Kult des Menschlichen pflege, will ich
Herr über ihn bleiben, und dazu gehört für mich, dass ich den Fort-
schritt als etwas Beständiges, aber auch nicht Greifbares sehe. Euro-
pas Lebensstil zeigt uns doch einfach eine unausgebackene Mischung der
Kräfte des Gestern mit Reaktionen auf neue Herausforderungen.
   LENTZ - Mir geht es nicht in den Kopf, wie man aus freien Stücken
Berlin gegen Port eintauscht ... Woher genau in Deutschland bist du
eigentlich?
   MILKAU - Aus Heidelberg, und daran knüpfen sich auch meine frühe-
sten Erinnerungen. Ich sehe mich noch an der Seite meines Vaters; wir
waren ein Herz und eine Seele ... Er war Universitätsprofessor, ein
hochgebildeter Mann, aber wie solche Leute eben oft sind, in seinen
Kreisen etwas schwierig. Mein Vater, Lentz, war die Güte in Person;
und immer werde ich mich an sein Markenzeichen, sein gewinnendes Lä-
cheln, erinnern. Intelligent war er, ohne Frage; aber weil er etwas
gehemmt war, tat er sich sehr hart, seinen Schatz an Herzensgüte und
Liebe freimütig zu zeigen. Die Außenwelt bekam denn auch nichts davon
mit. Er engte sich selber geistig ein, errichtete um sich sozusagen
eine Mauer der Denkverbote. Vorurteile kamen seiner Selbsteinschrän-
kung gerade recht, und er hätschelte sie geradezu wie Schutzgeister.
So war er in seinem tiefsten Inneren denn auch todunglücklich, was ihm
sein ganzes Leben verleidete. Nie schaffte er es, mit seiner Menschen-
liebe aus sich herauszugehen. Dieses Gefühl köchelte tief in seinem
Innersten; und als jener Druck im Kessel zu groß wurde, ohne entwei-
chen zu dürfen, was das letztlich sein Tod.
   LENTZ - Und wie alt warst du da?
   MILKAU - Ich kam gerade aus der Universität und ins Berufsleben,
als mein Vater starb. Meine Mutter konnte sich vor Trauer gar nicht
mehr retten und kam aus den Tränen nicht mehr draus, was ihr hart an
die Gesundheit ging. Ich liebte sie und kümmerte mich um sie bis zu
ihrem Tode wie um eine kleine Tochter ...
   LENTZ - Und dann?
   MILKAU - Drei Jahre war ich von Trauer und Erinnerung hin und her-
gerissen; dann eiste ich mich von Heidelberg los mit einer tiefen Ruhe
in meiner Seele. Allmählich horchte ich dann in mich hinein, was ICH
denn wolle.
   LENTZ - Und an eine Frau hast du dabei nicht gedacht?
   MILKAU - Nein.
   LENTZ - Du hast also nie eine Frau geliebt?
   MILKAU - Mit zehn fühlte ich erstmals die Liebe, aber wie alles
Verfrühte war diese kindliche Aufwallung halb krank, halb Schwärme-
rei zu nennen. So weit ich religiöse Gefühle empfinde, bestehen die-
se darin, dass ich verehrte, wonach ich auf der Suche war. Glück wie
Unglück schrieb ich jenem Hammer in meinem Leben, jener Liebe, zu.
Dann aber entzog sie sich mir ... Lange noch verzehrte ich mich in der
trügerischen Jagd nach ihr, was heftig auf meine Schulleistungen, mei-
ne Spiele, meine Kinderträume durchschlug, die mir zu einer regelrech-
ten Qual wurden; ja, ich weinte und schwitzte Blut. Ich mag gar nicht
mehr daran denken, wieviel Lebenskraft und Liebe ich für einen Wind-
hauch vergeudet habe ... Windhauch? Oder doch nicht? ... Wenn ich zu-
rückblicke, ist es genau jene Zeit, die mir am meisten abgegeben hat,
liegt sie doch wie samt jener Liebe einbalsamiert vor mir, jetzt, da
meine Jugendzeit hinter mir liegt ... Und etwa war es ja ein großes
Glück, dass auf diesen Vulkan in meinem Innern nie ein Lächeln, eine
Liebkosung, eine Zärtlichkeit niederging, die ihn zum Erlöschen ge-
bracht hätten ... Aufwärts, immer aufwärts ging's mit mir ... Mit
zwanzig war alles vorbei. Als sie starb, war ich fix und fertig und
fand lange keinen Trost, bis eine andere, diesmal die große, einzige
Liebe mich auf ewig vereinnahmen würde ...
                                 ---
   Milkau wurde durch Glockengebimmel unterbrochen, das auf der Straße
entgegenkam und in der Stille des Urwalds erst recht seinen Klang ent-
faltete. Allmählich verloren diese Töne ihre melancholische Süße und
vereinigten sich mit Menschenrufen und Tiergetrampel. Gleich darauf
erblickten die beiden Freunde eine Karawane, die vom Kalten Land nach
Port unterwegs war. Das Leitmaultier war durch farbige Bänder in sei-
nen Kopfbewegungen behindert. Milkau und sein Gefährte traten zur Sei-
te und drückten sich an die Bäume, aber dennoch streiften sie die Tie-
re, die stur ihrem Trotte folgten, mit ihren Kaffeesäcken und starrten
sie mit ihren dumpfen, unergründlichen Augen an. Die Treiber waren
überwiegend Weiße, auch einige Mulatten, wobei sich bei Zurufen, Kom-
mandos und Flüchen jeder spontan seiner eigenen Sprache bediente. Die
Truppe zog weiter auf ihrem Wege abwärts, wobei sie eine dicke Wolke
von Lärm und Ruhestörung umgab. Was blieb, war der herbe Duft frischer
Kaffeebeeren, aufgewirbelter Staub und neu gequirlter Schlamm, der
dort im feuchten Schatten der Bäume nie festtrocknet. Die beiden
Freunde zogen eine Zeitlang schweigend dahin, was sie jedoch nicht
lange durchhielten, sodass sie schnell wieder zu ihrer vorigen Mit-
teilsamkeit und ihrem Wunsche, sich auszusprechen, zurückfanden. In
dieser fremdartigen Welt, von Bäumen und Aber-Bäumen begleitet, waren
sie gleich wieder mit heller Begeisterung bei ihrem ewigen Zwiege-
spräch zu ewigen Themen.
   LENTZ - Es ist noch nicht lange her, da hätte ich mir wahrlich
nicht vorstellen können, hier im Urwald zu landen. Das Leben bietet
eine Überraschung nach der anderen ... Also zurück zum Thema Liebe
(antwortete Lentz auf die Frage, die er aus Milkaus Augen heraus-
las); ganz einfach! Ja, die Liebe; besser gesagt geht's um Gewissen.
Ich liebte eine Frau, die, wie ich dachte, etwas ganz Edles wäre, die
sich als die Schwache zum Starken hingezogen fühlte und als Demütige
den Hoheitlichen liebte. So wanderten wir den Weg meiner herrlichen
Fantasie, mit mir als Führer, durch die Einsamkeit schneebedeckter
Berge, an grünen, die Erde erquickenden Seen entlang, durch dem Ge-
schäftssinne verfallene, abstoßende Städte. Meine Buhle erlebte jegli-
che Gipfel der Wollust, sie liebte mit jeder Faser ihres Körpers; und
ich hatte allen Grund zu glauben, sie wäre rundum glücklich. Doch ei-
nes Tages bockte sie. Die Seele des abendländischen Weibes, die erst
die lange Feigheit des Mannes dazu geformt hat, erwachte in ihr und
verlangte meine Kapitulation. Unterstützung fand sie in den christli-
chen Vorurteilen meines Vaters und im ängstlichen Gehabe meiner Mut-
ter, die mich mit ihrer süßlichen Zartheit zu einem guten Jungen ma-
chen wollte. Ich blieb hart. Der Vater meiner Liebsten war ein alter
General und in derselben Einheit wie mein Vater, und er forderte von
meiner Familie Genugtuung dafür, was für mich einfach ein Befreiungs-
schlag meines empfindlichen Gemüts war. Und was noch schlimmer war,
war, dass ich in meinem Umfeld ausgegrenzt wurde. Alle hatten ein so
schneeweißes Gewissen, dass sie sich berechtigt fühlten, über mich die
Nase zu rümpfen; und zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich dem
Gruppenzwang meiner Kameraden, meiner Gesellschaftsschicht nicht
standhielt ... Der Mensch, Milkau, wird noch lange brauchen, sich von
seinesgleichen freizustrampeln und den Zwängen, die seine Persönlich-
keit lähmen und ihn zu Dutzendware umformen wollen, zu entrinnen, ganz
unabhängig davon, wer sie unter welchen Vorwänden auch immer ausübt,
die Verwandtschaft, die eigene Schicht oder auch die ganze Rasse. Ich
nahm mich dann etwas zurück; schließlich hatte auch ich noch genug von
jenem feigen alten Knechtsgeiste drin. Was ich mir an Intellekt aufge-
baut und an geistigen Höhenflügen zugelegt hatte, wurde vom unerbitt-
lichen Altgeist zurückgepfiffen ... Ich floh, ließ das Studium bleiben
und gab alles auf, meine Stellung in der Gesellschaft, meine Familie,
meinen Besitz. Was ich mir im Gegenzug für das Zurückgelassene ersehn-
te, war eine offene Welt, eine, die noch nicht von jener bedrückenden
christlichen Doppelmoral verseucht wäre. Ich suchte die Heimat des
neuen Menschen, in der die Jahrhunderte der Kriecherei übersprungen
würden, und die dem Altertum die Hand reichte und mit ihm unter seiner
Ägide die Zivilisation von Grund auf erneuerte und eine neue Welt auf
die Füße stellte, ein Reich der Macht und Herrlichkeit und des Trium-
phes alles Schönen. Und so kam ich also hierher in die Jungfräulich-
keit dieser Wälder, um hier alleine meine Begeisterung für mein Ideal
auszuleben, oder auch, um das Land über kurz oder lang in ein Reich
meiner Rasse umzuwandeln, ein Ziel, das zutiefst in meinem Blute
liegt. Ich reiste weit herum. Den Inbegriff von Freiheit sah ich zu-
nächst auf dem Meer; dort träumte ich, dort lebte ich, in aller Ein-
falt des Herzens ... Letztlich war es aber doch nicht das Wahre, denn
dort waren mir die Hände gebunden, und für mich muss sich etwas rüh-
ren ...
   MILKAU - Was wir beide suchen, könnte verschiedener nicht sein ...
Wie du auch, ließ ich die Heimat, mein Umfeld, die bürgerliche Welt
zurück, um Besseres, Ewiges zu gewinnen. Meine Wanderung begann schon
früh ... Nach dem Hinscheiden meiner Mutter wollte ich nichts wie weg
aus Heidelberg und einfach anderswohin. Berlin wär's gewesen, und dort
hätte ich mir eine Zukunft vorstellen können, obwohl ich im Grunde gar
keine Vorstellung hatte. Am meisten setzte mir zu, dass ich einfach
nur so vor mich hinlebte und am Leben nichts fand. Fern jeden religiö-
sen Glaubens und ohne sonst etwas, was mir Halt gegeben hätte, hatte
ich kein Fernziel, die Gesellschaft berührte mich nicht, und nichts
konnte mich aufrichten. Mein Leben bestand darin, mit irgendwelchen
Kumpanen um die Häuser zu ziehen, und das war's dann auch mit meinen
Zielen. Ich war ein besserer Landstreicher, der in den Angeboten der
Welt seinen inneren Frieden suchte. Oh, was streunte ich herum, auf
der Straße, in den Stadtparks, in lauschigen Wäldern ... Mein Sinnie-
ren verging aber nicht, und es lief immer wieder auf meine alte Zeit
hinaus, auf jene drei, denen meine ganze Liebe galt und deren Bilder
mein Zimmer prägten, aber ebenso meine Erinnerungen. Ich geriet dann
auch immer mehr mit der bürgerlichen Welt aneinander; zugleich aber
wuchs meine Sehnsucht nach Liebe und innerer Ruhe und Einkehr, ohne
sie erfüllt zu sehen. Meine Ängste zerrissen mich; ich wusste mir
einfach nicht mehr zu helfen ... Meine Liebste damals! Meine Mutter!
Oh, Vater! ... Es ging nicht mehr. Ich kam aus meinem seelischen Tief
nicht mehr heraus; und jeglicher Versuch, wieder Boden unter meinen
Füßen zu gewinnen, versetzte mich in nur noch größere Qualen. Nichts
konnte mich ins Leben zurückholen; denn was ich geliebt hatte, war
passé, und was ich heute liebe, konnte ich noch nicht einmal erahnen.
Mein Leben war eine einzige Frustration; und ich war von Gefühlswal-
lungen nur so hin und hergeschüttelt, dass ich es nicht beschreiben
kann. Angesichts dieser ausweglosen Lage konnte es nicht ausbleiben,
dass ich auf die einzige mir noch erstrebenswert erscheinende Lösung
meiner Probleme kam, und das war der Tod ... Als ich aber anderer-
seits betrachtete, wie schlimm es um mich HERUM aussah, ließ ich das,
was ich irrerweise zum freien Willensakt schöngedacht hatte, bleiben.
Auf einmal wurde ich für die Pein anderer empfänglich; ihr stilles
Leiden und ihre harten Schicksalsschläge prasselten auf mich ein. So
wie ich damals gestimmt war, fühlte ich mich nur zu Schicksalsgenossen
hingezogen. Ich litt, und Gevatter Schmerz trieb mich mit seiner star-
ken, heilsbringenden Hand den Nächsten zu ... Da kam es mir: "Wenn al-
le leiden und sich dareinfinden, muss das Leben immer noch besser als
der Tod sein. Selbstmord ist nicht die Lösung; wir brauchen die Erlö-
sung aller. Was hilft es denn, nur einen aus dem Martyrium herauszu-
holen?" ... Und so fand der Freitod in meinem Denken schließlich den
Tod, während die Sonne der Nächstenliebe immer weiter gen Himmel
stieg ... Gegen die Verzweiflung brauchte ich nun nur noch einen Sinn
im Leben, der meine Todessehnsüchte endgültig aus dem Felde schlüge
und meinen neuen Gefühlen Bahn verschüfe. Ich ging im Geiste alle mög-
lichen Wege durch ... Einfach wie bisher als Literaturkritiker bei ei-
ner Berliner Zeitung weiterzuwursteln, kam schon einmal nicht in Fra-
ge. Ich hatte nicht den Nerv, im Grunde inhaltsleere Bücher zu bespre-
chen, die dafür aber niedrigste Instinkte ansprachen. Ich erkannte im-
mer mehr, dass ich dort am falschen Platze sei und mich nie mit jenen
Kreisen gemein machen würde, die ihr Augurengeheimnis nutzen, um ihre
fachliche Unbelecktheit zu überdecken, die Leichtgläubigkeit ihrer
Mitmenschen auszunutzen und dadurch zu Spießgesellen des Übels auf Er-
den und dessen Verewigung zu werden ... Wohin also? fragte ich mich
kleinlaut. Was bleibt mir denn noch in der Welt? Die Politik? Diploma-
tie? Der Krieg?
   LENTZ - Genau, der Krieg. Er heißt Stärke, Würde. Die Welt sei das
traute Heim des Kriegers. 
   MILKAU - Politik und Diplomatie sind nur etwas für einen, der eine
ruhige Kugel schieben oder seinen Ehrgeiz befriedigen will, für den,
der in Nichtssagendem und Ichsucht versauern und Ewigem aus dem Wege
gehen will ... Der Krieg ist etwas von gestern, der geborene Feind der
Gesittung und genau das, was meinem Geiste immer fremder geworden war.
Ich wusste nicht wohin, was meine Gemütsverwirrung nur noch steigerte,
ging es doch jetzt nicht mehr um die Wahl zwischen Leben und Tod, son-
dern zwischen irgendeinem Leben und DEM Leben. Und jenes erträumte und
mit allen Sinnen ersehnte Leben wollte sich nicht einstellen ... Im
Handwerk oder in der Fabrik kam für mich nichts in Betracht, denn das
dortige Milieu wäre meiner persönlichen Freiheit und meiner neuen All-
Liebe kaum zuträglich gewesen. Arbeit sollte ja auch meiner Selbstver-
wirklichung dienen; und in der Industrie jener alten Welt fühlt man
sich wie bei einem Spießrutenlaufen mitten in der Gesellschaft, die
jene in Herren und Knechte, Reiche und Arme entzweit ... Meine See-
lenpein war nicht behoben, und inmitten jener Qualen fand ich Außen-
seiter nach und nach meinen Trost bei Mutter Kunst. Die Göttin alles
Schönen durchdrang meine Wesenheit und gab mir Halt. Ob ich nun be-
schaulich triumphale Statuen mit ihren betörenden Gesten und Mienen
betrachtete, mich an den ruhigen Formen ewigen Marmors ergötzte oder
die unendliche Poesie der Farben in mich hineinsog und hinter das un-
ergründliche Rätsel des menschlichen Leibes zu kommen versuchte, so
kam jedenfalls mein Geist zur Ruhe und rappelte sich wieder auf ...
Und so machte ich mich zu umfangreichen Reisen in Länder auf, die der
Kunst auch heute noch als Quelle der Inspiration und als Jungbrunnen
dienen ... Die Kunst war mein erster Schritt zur Naturliebe, denn bis
dahin hatte ich mich kaum um die Außenwelt gekümmert: Ich hatte nur
Sinn für meine eigenen Probleme, an die ich endlos hingrübeln konnte.
Als ich erst einmal bei der Kunst war und mich das Schöne ergriffen
hatte, weitete sich mein Blick gewaltig, und ich sah die Pracht der
Welt auf Schritt und Tritt. Auf einmal konnte ich mich am Firmament
gar nicht mehr sattsehen. Tagelang bestaunte ich die Reinheit des
Himmels und die kristallklare Luft und griff über jene tiefblaue Kup-
pel in die unendlichen Weiten des Weltalls hinaus. Ich sah das Meer,
zunächst das zutrauliche Mittelmeer, das zerklüftete, schroffe Länder
umschmiegt, die gerade deshalb dem Menschen Heimat bieten, ein freund-
liches Meer ohne Schrecken, das die Völker zusammenbringt. Von ande-
ren, riesigen weißen Stränden aus wurde ich aber auch einer anderen
See ansichtig, einer düsteren, ja schauerlichen, die nichts kennt als
Herrschaft und die, wie die Freiheit selbst, unzugänglich, anfechtend,
unbezähmbar ist ... Meine Begeisterung für die Natur ging so weit,
dass für mich ohne sie alles andere nichts war. Voller Bewunderung auf
Wanderschaft, hielt ich mich lange alleine in den Wäldern auf, an Seen
und in anderen Gefilden, um wie verrückt meinen Enthusiasmus auszukos-
ten. Ich lebte fast mehr von dem Bild, welches das Licht auf den
Schauplatz des Lebens, die Erde, wirft, als von den Früchten der Erde
selbst ... Im Herbst lässt die Sonne die Bäume ergilben, und der Sen-
senmann erscheint über ihnen in güldener Glorie ... Im Winter gewan-
den sich die Gerippe der Bäume in einer verfremdeten, leblosen Land-
schaft ganz in Weiß; müßig fällt zur Erde ausgiebig Schnee, feder-
leicht in der Luft, weiß wie ein Hermelin und raschelnd wie Sand ...
Zu jener Zeit hatte ich Gram und Harm der Vergangenheit schon völlig
verdrängt und Zukunftssorgen noch nicht im Blickfeld. Ich war wie be-
täubt und hielt jenes All-Vergessen für das vollkommene Glück. So ging
dies eine ganze Zeit dahin, und ich war so sehr in meine kleine Welt
eingemauert, dass ich versonnen durch die Welt wallte wie ein Fremder.
Völlig abgehoben reiste ich dahin wie in einer goldenen Kutsche, gezo-
gen von den feurigen Rossen meiner anderen Welt, hin zu den unermess-
lich berückenden Gefilden der nimmer vergehenden Schönheit ... Nach
jener Schwärmerei, ja, Fieberwahn für das Schöne stürzte ich ab in den
Drang nach Kasteiung und Selbstverleugnung. Im vollen Bewusstsein mei-
ner Triebe wollte ich mich der Weltabgeschiedenheit der Mönche zuwen-
den, um alles tierisch Wilde in mir auszurotten und im besten Sinne
des Wortes fruchtbar zu werden - hatte ich vor. So fand ich mich denn
auch bald abgeschieden in einem Dörfchen mitten in den bayerischen Al-
pen, wo ich mich ganz der Beschaulichkeit und Versenkung hingab ...
   LENTZ - Und? Half's etwas?
   MILKAU - Anfänglich redete ich mir ein, ja, dieses markige, edle
Leben, genau das wär's. Ich vergaß dabei aber, dass jene alten Mönche
fest in ihrem Glauben verwurzelt waren ... Meine Abwendung dagegen war
einfach Aussteigertum und Weltverachtung, jemandes Haltung, der sich
vor seiner Verantwortung drückt. Nach meiner ersten Erfahrung von Er-
quickung und Frieden kam der Gewissenswurm ob meiner Feigheit über
mich, und ich konnte meinem Eremitentum nichts mehr abgewinnen. Weißt
du, Lentz, wenn ich heute an meine selbstgewählte Einsamkeit zurück-
denke, sehe ich zwar schon das Aufbauende, das Opfer darin, aber eben
auch meinen sich dort abspulenden sinnentleerten Stolz. Entsagung kann
man einem Leuchtturm im Meere gleichsetzen; so sehr wie er die Umwelt
erleuchtet und in Erstaunen versetzt, so sehr hält sein Gleißen eben
die Menschen auch auf Abstand ... Ich konnte mir nicht leisten, mich
von dieser Flamme versengen zu lassen, hatte ich doch auch noch genug
Innerweltliches in mir, das mich ins Leben zurückwarf. Also sagte ich
eines Morgens den Schlüften und Grüften ade ... Aus dem Augenwinkel
habe ich selbst hier noch das vereiste Gebirg' in Erinnerung. Nie keh-
re ich wieder zu den in Dunst gehüllten Gletschern, niemals mehr zu
den vom Sonnenlichte in sanftes Rosa getauchten weißen Eisriesen. Ein-
sam, tot, einem ausgetrocktneten Meere gleich, liegt die Welt dort da,
und nur der Eiswind weht, was vom Leben bleibt, vor sich her ... Ade,
ihr Berge, so still, so trostreich, so opfersam! ... Herunten war ich
ein anderer Mensch. Ich war von lächelnder Liebe erfüllt, die mich
schützte und stützte, und das bis heute. Liebe heißt, auch anderen da-
bei auf die Sprünge zu helfen, mich mit dem Geiste zu verinnigen, im
großen Ganzen zu verschwimmen, und dies noch hin bis ins letzte Atom,
zum Wohle des Ganzen ...
   LENTZ - Oh weh! Leben ist eben Kampf, ja, Verbrechen. Alles, worauf
es dem Menschen ankommt, schmeckt nach Blut, verlangt nach Sieg und
des Kriegers Bestimmung. Du warst etwas, als du in deinem wüsten Ein-
siedlerdasein in den Alpen die Bären in Schrecken versetztest. Aber
als dann die Liebe über dich kam, bautest du ab; du warst nur mehr ein
Schatten deiner selbst; und wenn das so weitergeht, dann entweicht dir
eines Tages alles, was dich ausmacht, und ich sehe dich schon als ei-
nen versauerten Trauerlappen enden.
   MILKAU - Nein, die Liebe ist und bleibt meine Grundfeste. Ich gehö-
re zu denen, die sie erbaut hat ... Mein Geist war nach und nach ent-
wirrt, und ich fand, wenn auch unter Ächzen, von dem, "was sich ge-
hört", zu einer Ethik, "die MIR gehört". Beim Nachsinnen über das Men-
schengeschlecht sah ich immer klarer seinen stetigen Fortgang vom ur-
sprünglichen Knechtesdasein aus ... Am Anfang herrschte Tohuwabohu,
gestaltlose Nebelfetzen überwölbten die Erde; und nach und nach trat
aus dieser kosmischen Wirrnis der Mensch hervor, als eigenständiges
Wesen, während der Rest wie gehabt in seinem Schöpfungsbrei weiter-
waberte. Aber auch diesem wird dereinst die Stunde der Schöpfung
schlagen. Die Liebe wird ihn mit Leben erfüllen, denn Menschen zu er-
schaffen, ist der Liebe Bestimmung. Eines Tages wird sich jeder jedem
unterordnen und gerade dadurch größte Freiheit genießen. So spannt
sich der Bogen des Lebens, von rüder Sklaverei hin zur Verwirklichung
des Einzelnen ...
   LENTZ (mit Blick auf den Wald) - Sieh doch, wie dich das alles hier
Lügen straft. Der Wald hier ist die Frucht des Kampfes, der Sieg des
Starken. Wie musste jeder Baum ringen, um zu seiner Vollform aufzulau-
fen; auf seinem Werdegange machte er viele Arten nieder, und die
Schönheit eines jeden ist mit dem Tode so vieler Nebenbuhler erkauft,
die ihm von seiner Keimung an weichen mussten ... Oh, das ist aber ein
Prachtexemplar, dieser gelbe Baum!
   MILKAU - Das - das ist ein Ipê. Er ist den Indianern heilig; daraus
schnitzen sie ihre Pfeilbögen ...
   LENTZ - Der Ipê ist die Glorie des Lichtes. Wie ein güldener Schirm
steht er im grünen Dome des Waldes. Die Sonne verbrennt ihm das Laub,
und er dient der Sonne als Spiegel. Um nun aber zu einer solchen Far-
benpracht und diesem majestätischen Wuchse zu gelangen, was hat dein
schöner Ipê nicht alles auf dem Gewissen ... Schönheit mordet, und
deshalb beten sie die Menschen geradezu an ... So läuft es aber über-
all, und auch der Weg der Zivilisation ist mit Blut und Verbrechen ge-
pflastert. Um zu leben, muss man das Letzte aus sich herausholen und
bloß nicht zagen. Wer die Waffen streckt, ist tot. Die Großen schlu-
cken die Kleinen. So ist das Gesetz der Welt. Der Ober sticht den Un-
ter. Der Starke zieht den Schwachen an sich, der Junker zieht sich den
Sklaven, der Mann das Weib. Rundherum ist Unterwerfung und Herrschaft.
   MILKAU (blickt auf den Dschungel) - Die ganze Natur, alle Wesen bis
hin zum Menschen, die mannigfaltigen Formen der Materie im All, sie
alle sehe ich als ein großes Ganzes. Vom kleinsten Molekül an hält et-
was alles zusammen, es herrscht ein ständiger Austausch, ein Geben und
Nehmen, ein ewiger Bund als die Maxime der belebten Welt. Alles setzt
sich für alles ein. Sonne, Stern, Erde, Insekt, Pflanze, Fisch, Tier,
Vogel, Mensch sind die Organe des großen Leibes auf diesem Planeten.
Die Welt ist Ausdruck von Einklang und allumfassender Liebe. (Er deu-
tet auf den Bewuchs oben auf einem Felsen:) Mit dem Leben des Menschen
auf Erden ist es doch wie mit den Pflanzen da oben. Erst war dort ein-
fach nur nackter Fels, auf dem die Samen von Bäumen und anderen großen
Pflanzen, die die Vögel und der Wind dort hingetragen hatten, nicht
Fuß fassen konnten. Eines Tages aber brachten sie Samen von Algen und
anderen Kleinstgewächsen mit, die selbst auf dem Stein zu keimen ver-
mochten. Als nun jene zunächst erfolglosen Pflanzen wieder einmal an-
kamen, fanden sie den Boden für sich bereits durch ihre Vorkämpfer
wohlvorbereitet und gediehen darauf, breiteten ihren Schatten aus, be-
hüteten ihre Vorhut, die denn auch kräftiger anschob und sich um die
Leiber der Bäume, ihrer Kinder, wand. Aus viel Liebe und herzlichem,
innigem Zusammenhalte entstand, wovor wir heute bewundernd stehen: ein
tropischer Garten, der sich im Lichte entfaltet, voller Farben und
Düfte, und das auf dem einst kahlen Berge, den er nun wie eine Sieges-
krone bekränzt ... So sei auch unser Leben! Zwar sind wir nicht alle
gleich, aber um eins zu werden, hat jeder von uns sein Quäntchen Liebe
beizusteuern. Zwang ist Übel; wir müssen jeglicher Autorität, Herr-
schaft, Macht, Gewalt entsagen. Es darf auch nichts und niemand in
seiner Bewegung und seinem natürlichen Drange eingeengt werden. Vor
der Zivilisation sind wir alle gleich; Hoch und Niedrig tragen jeder
auf seine Weise zum Gelingen bei. Die Geschichte bezeugt, dass Gesit-
tung eben nicht nur aus Blut und Eisen erwächst; zur vernünftigen Zu-
sammenarbeit gesellt sich die Macht der Zugetanheit. Die Überlieferung
ist durchaus ehrenwert, denn auf sie wird die Zukunft begründet. Rich-
ten wir nicht über das Bestehende, auch wenn es aus Blut entstiegen
ist, aber setzen wir uns dafür ein, dass jenes Blut von Tag zu Tag 
mehr als Herzblut fließt und nicht mehr die alte Blutrunst verkörpert.
Mögen sich unsere niedrigsten inneren Triebe in einer Wolke aus Mit-
empfinden, Hingabe und Liebe auflösen ...
                                      ---
   Sie waren angekommen. Die beiden betrachteten die Sonne, die sich
soeben blutrot hinter die Berge verabschiedete, dem Tode gleich, wie
dieser, wenn auch wie auf Samtpfoten, alles vereinnahmt ...
   Milkau saß an der Tür des kleinen Teresenser Gasthauses, in dem er
übernachtet hatte, und studierte das gerade erwachende Leben im Orte,
als der soeben aus dem Zimmer gekommene Lentz, sichtlich beflügelt von
dem frischen Morgenlüftchen, ihn ausgeruht und aufgeräumt begrüßte.
Milkau blickte erfreut auf seinen Schicksalsgenossen und grüßte mit
einem freundlichen Lächeln zurück. Kurz darauf gingen sie durch das
Dorf spazieren, das jetzt voll erwacht war und sich in seiner ganzen
kindlichen Einfachheit zeigte. Die kargen weißen Häuser taten sich
auf und ließen ihr Licht herausfallen wie dem Schlafe entrissene Au-
gen. Die in Reih und Glied stehenden, wie aus EINEM Model stammenden
Katen wirkten wie Taubenkobel am Gebirgshang entlang. Um das Dorf her-
um lag grüne Parklandschaft mit vereinzelten Bäumen, deren sich hin-
durchmurmelnde Bächlein die Seele der Landschaft bildeten.
   Die beiden Einwanderer fühlten sich angesichts des Anblicks, den
die Einwohner boten, von innigem Frieden und einer erbauenden Hoffnung
erfüllt. Sie schauten all den Leuten bei ihrer ruhigen Arbeit an den
Türen und in den Häusern zu und erkannten in ihrer Tätigkeit die wie-
dergeborene einfache Handwerkskunst einer glücklichen Urzeit. Hier
hatte erstes Gewerbe Fuß gefasst. Während alle rundum im Urwald noch
mit der Erde rangen, war man hier im Dorf schon einen Schritt weiter.
   Als Milkau und Lentz den Ort durchwanderten, lauschten sie den hol-
den Klängen der mannigfaltigen Verrichtungen. In seiner Werkstatt na-
gelte ein langbärtiger Schuster mit bleichen, mageren Händen seine
Sohlen. Für Lentz war er wie ein Heiliger. Ein Schneider bügelte gro-
bes Tuch; Frauen saßen drinnen beim Spinnen und sangen dabei; andere
kneteten Teig, um Brot zu backen. Wieder andere siebten wie im Takte
Maismehl für Plenten; aber überall schien die Handarbeit einfach und
angenehm zu sein, ohne schrille Dampfkraft und ohne Maschinen, mit der
einen Ausnahme der Blasebälge in der Schmiede, die von einem Wasserrad
am Mühlbach mit lärmendem Getöse angetrieben wurden. Aber sogar dieses
Gedröhn fügte sich harmonisch ins Ganze ein, geradeso wie das Gehämme-
re in der Schmiede dem metallischen Klange der Klarinette des Teresen-
ser Kapellmeisters bei seiner morgendlichen Schulstunde die zweite
Stimme lieh. Eine wahre Wonne lag in jenem urtümlichen Gemeinwesen,
jenem Rückgriffe auf die Anfänge der Welt. Lentzens sprunghaftem, im-
mer gleich übers Ziel hinausschießendem Geiste schien diese unerwarte-
te Begegnung mit dem Einst die Offenbarung eines Mysteriums zu sein.
   "Einfach himmlisch", meinte er in die Stille ihres Lustwandels hin-
ein; "diese armen Leute, die mit ihren Händen schlecht und recht ihre
Arbeit verrichten, die sich nicht mit Kohlenrauch beflecken, nicht im
Maschinenlärm verrohen, die sich ihre Seele nicht verderben, die sich
selbst genügen, die singend kneten, backen und schneidern ... sie sind
die unverbildeten Schöpfer, und das fühlen sie auch, und sie sind
glücklich dabei ..."
   Milkau teilte die Bewunderung und war stolz, hier auf diesen Gebir-
geshöhen, wo Arbeit noch nicht einfach nur Plackerei war, Mensch sein
zu dürfen, aber etwas in Lentzens Lobpreis hieß ihn, ihm dennoch Salz
in die Suppe zu streuen.
   "Ja, es IST schon ein schönes Bild vor unseren Augen, und es hat
schon was, wie frei und selbstbestimmt man hier arbeitet. Aber unter
dem Strich erleben wir hier den Beginn der Zivilisation; nur hat hier
eben der Mensch die Natur noch nicht ganz unterjocht, sondern muss
sich mit ihr notgedrungen abfinden."
   "Aber man kann doch nicht leugnen, dass der Mensch als Knecht der
Maschine tiefer in Barbarei versinkt als der letzte Wilde?", warf
Lentz ein.
   "Hört sich gut an, ist aber leider etwas zu romantisch gedacht.
Gut, die Technik hat mit ihrer Arbeitsteilung dem Menschen den Blick
auf das Werk als Ganzes verstellt. Heute aber hat der Mensch die Ma-
schine zum Werkzeuge seines Willens gemacht, sich dadurch stumpfsinni-
ger Verrichtungen entledigt und sich zum Beherrscher der Abläufe erho-
ben. Wir können das Rad der Zivilisation nicht schlechthin auf jene
Ursprünge zurückdrehen. Ehrfürchtig und ergriffen blicken wir auf die
'gute alte Zeit' zurück, aber es gibt auch eine 'gute neue Zeit', eine
weit bessere, in Form des heutigen Wirtschaftslebens; und wir tun gut
daran, sie so zu sehen, wie sie ist, als einen Schritt in eine leuch-
tende Zukunft ..."
   "Ich aber", beharrte Lentz, während sie weitergingen, "sehe etwas
Ehrwürdiges in diesen Leuten. Sie verdienen meine Zuneigung weit mehr
als jene ewig unzufriedenen, hungrigen, grässlichen Proletarierhorden,
die nach der Weltherrschaft verlangen. Diese hier sind wenigstens frei
von der Sünde des Stolzes, freundlich und einfältig und tragen ihr
Joch mit einem Lächeln."
   Sie streiften noch etwas umher und schienen sich von dem Ort nicht
recht losreißen zu können. Zunächst klapperten sie allerlei Flurwege
um das Dorf herum ab. Dann packten sie einige Hügelchen an, schritten
den Park ab, verweilten an den Türen der Häuser und beobachteten, was
dort so ablief, lächelten den Kindern zu und brachten mit ihren bewun-
dernden Blicken so manche stramme Maid zum Erröten. Sie ließen sich
einfach treiben und ergötzten sich an diesem und jenem, Hauptsache,
sie hatten einen Grund, noch etwas in der Siedlung zu verweilen. Dann
aber war endgültig die Zeit des Abschieds gekommen. Die Wirtstochter
brachte sie an die Straße nach Timbuí. Sie hielten sie noch mit aller-
lei Fragen hin, weil sie von ihrem feinem Gesicht und ihrem vollen ro-
ten Haar so angetan waren. In Lentzens Augen war das Mädchen gleichsam
eine Göttin in diesem grünen Walde, etwas Zartes, Himmlisches, wie die
Einwohner Santa Teresas überhaupt. Das Mädel deutete ihnen mit dem Arm
noch den Weg an, und sie bewunderten ihre Bewegungen, ihr ganzes We-
sen, ihre Anmut, und sagten wie im Traume ade.
   Anfangs marschierten sie gedankenverloren und schweigsam dahin, wie
üblich, wenn man ins Unbekannte vorstößt. Die Straße lief über die of-
fene Hügellandschaft auf und ab. Die weite, kühn geschwungene Gegend
bot mit ihren Bergen, Tälern, Wäldern, Bächen und Wasserfällen immer
neue Anblicke. Es war eine der fruchtbarsten und üppigsten Teile des
Landes, Brasilien vom Feinsten. Dort hatte man all den vielen "Barba-
ren", den Fremden, freundlich, liebevoll Aufnahme gewährt. Milkau und
Lentz kamen an einigen Siedlerhöfen vorbei, die sie das erste Mal sa-
hen, und bestaunten von ferne diese Heimstätten in ihrer bezaubernden
grünen, ruhigen und üppigen Umwelt. Die Selden zogen sich durchs ganze
Tal hin, manche in den Talgründen versteckt, andere kühn an den Abhän-
gen, und durchwegs ein wahrer Augenschmaus.
   Rauch zog überall aus den Kaminen, Frauen erledigten ihre Hausar-
beit, unter den Bäumen sah man Tiere und Kinder, und Männer schafften
im kühlen Schatten der Kaffeepflanzungen rund um die Hofstätten. Und
die zwei Einwanderer auf dem stillen Wege, vereint in Hoffnung und Be-
wunderung, ließen ihr Lob auf das Gelobte Land erklingen:

  "Wie bist du schmuck in deiner grünen Tracht,
   in südliche Sonne gewandet,
   von tiefblauem Himmel ohn' End' überwölbt,
   von schäumendem Meere umbrandet.
      Die Sterne voll Bewund'rung,
      sie neigen sich dir zu,
      wie göttliche Perlen,
      und flüstern: 'Nur du!'
   Wie birgst du Reichtum doch in deinem Schoß
   an Golde und funkelnden Steinen!
   Dein Vieh nährt dich üppig, und sorglos lebt, wer
   sich labt an den köstlichen Bäumen.
      Ein Körnlein deiner Erde
      heißt Segen für die Welt,
      und Elend und Not in
      Vergessenheit fällt.
   Du spendest Schatten in der Sonne Brand.
   Den Tau der Nacht hauchst du von hinnen.
   Von Bächlein und Strömen umschmeichelt du bist.
   Dich Märchenland Vögel besingen.
      Des Menschen Schicksal findet,
      so schrecklich es auch sei,
      hier seine Erfüllung:
      'Ja, hier bin ich frei!'
   Du bist die Mutter, die für alle sorgt.
   Wie könnten wir dir je entsagen?
   Du güldenes Haus, deiner Kinder Gemach,
   bewahrst und vor Mühsal und Plagen.
      Wir Töchter und wir Söhne
      stehn tief in deiner Schuld
      und singen dir Hymnen:
      'Erhalt uns die Huld!'
   Wer immer zu dir kommt, dem teilst du aus.
   Die Türen sind nimmer verschlossen.
   Von Ehrgeiz und Stolz nicht befallen du bist:
   Du siehst uns als traute Genossen.
      Mit mütterlichem Herzen
      neigst hold dich du uns zu
      und bietest uns Heimat.
      Die Hoffnung bist du!"

   So erscholl der Lobpreis, neben anderen, von ihren Lippen bei ihrem
Vormarsch im Lichte der Sonne ...
                                      ---
  Fünf Stunden hatten sie gebraucht, als sie an den Gestaden des Rio
Doce, des "Süßen Flusses", ankamen. Sie konnten sich kaum umsehen, da
Felicíssimo, der Landvermesser, sogleich aus seiner grünen Baracke
auf sie zukam und sie mit einem breiten Lächeln auf seinem braunen,
"blauen", dreieckigen Antlitz uberschwänglich begrüßte.
   "Na", rief er von Weitem, "da seid ihr ja gerade recht gekommen!"
   Und ohne eine Antwort abzuwarten, lief er den beiden Deutschen mit
offenen Armen entgegen. Milkau gewahrte in ihm den typischen Alteinge-
sessenen, wie er sich ihnen mit seiner dröhnenden Art ausgelassen nä-
herte.
   "Ah, mein Freund", rief Lentz aus, "vor lauter Bewunderung für Euer
erlesenes Land wären wir auf der Straße am liebsten knien geblieben."
   "Ja, zweifelsohne, das ist hier wirklich ein Garten Eden", stimmte
der Vermesser begeistert ein.
   Und die Anderen berichteten von ihren Eindrücken und lobten die Ge-
gend in den höchsten Tönen. Felicíssimo aber, jetzt ganz der Gastge-
ber, fiel ihnen ins Wort:
   "Habt ihr schon gegessen? Ich könnte hier eine Kleinigkeit für euch
herrichten ..."
   "Danke sehr", meinte Milkau, "aber gleich nach Santa Teresa ver-
zehrten wir unsere Brotzeit, und unterwegs taten wir uns noch an eini-
gen Orangen im Garten einer alten Bäuerin gütlich. Da, wir haben Euch
einige mitgebracht! Ist das nicht eine Pracht?!"
   "Das ist ja noch gar nichts", entgegnete der Vermesser, als er die
Apfelsinen nahm. "Spart eure Bewunderung noch auf; die werdet ihr noch
reichlich brauchen. Ein schöneres Stück Brasilien gibt es überhaupt
nicht."
   Sie begaben sich zu einem Wellblechschuppen, in dem der Vermesser
sein Büro hatte. Die Ausstattung hätte einfacher nicht sein können;
hier lehnten ein paar Werkzeuge, dort lagen auf dem Tisch zwei oder
drei große Ordner mit den Grundbucheinträgen für die Siedler, und an
der Wand hing eine Landkarte mit einer Übersicht der ganzen Planqua-
drate der Gegend überhaupt. Kein Buch zum Lesen, kein noch so beschei-
denes Bild, kein Foto fand sich dort, nur ein Stoß Zeitungen, aus de-
nen der Cearenser seinen Wissensdurst stillen konnte. Dort war sein
Hauptquartier; dort schlief er auch, nomadisch-einfach. Daneben war
noch eine größere Baude als Unterkunft der Siedler für den Übergang,
bis sie sich auf eigenem Grund und Boden selbst etwas geschaffen hät-
ten. Diese war geräumig und wirkte wie ein Krankenhaussaal; und ganz
hinten befand sich eine kleine Küche. Felicíssimo machte allerdings
für die beiden Ausländer eine Ausnahme und bewirtete sie in der Amts-
barracke. Die Gäste dankten dem freundlichen Brasilianer, setzten sich
in dessen Schlafverschlag nieder und knüpften eine Unterhaltung an, in
der die Einwanderer vieles über den Ort erfuhren, bis der Vermesser
angesichts der sich neigenden Sonne plötzlich meinte:
   "Jetzt aber los! Suchen wir uns die Hube aus!"
   Sie gingen in die Amtsstube zurück, und anhand der Wandkarte setzte
er hinzu:
   "Also, ich an eurer Stelle nähme ja die Nummer zehn. Das muss erst-
klassiger Boden sein. Aber wie der Teufel will, ist dort alles Urwald;
und die Rodung wird eine Schinderei ... Aber letztlich lohnt sich der
Aufwand."
   Felicíssimo zeigte mit dem Stab auf die Karte und blickte die bei-
den erwartungsvoll an. Milkau machte sich weiter keine Gedanken und
wollte auch den Vermesser nicht kränken, und so stimmte er ohne Um-
schweife zu. Für ihn was es ein ganz besonderer Tag; eine große, glor-
reiche Aufgabe lag vor ihm.
   Sie waren drauf und dran loszustapfen. Draußen vor der Tür aller-
dings besann sich Felicíssimo anders, nachdem er den Himmel mit Ken-
nerblick beäugt hatte:
   "So nahe liegt das Grundstück auch wieder nicht. Hin und zurück
werden wir es bis zur Dunkelheit nicht schaffen. Aber wenn ihr unbe-
dingt wollt ..."
   "Ach wo", war Lentz gleich dabei, "morgen reicht locker."
   Von der Anreise her angenehm schläfrig geworden, legten sich die
Neuen auf den Wasen vor dem Schuppen nieder und lauschten den Erzäh-
lungen des Geometers, sannen über dieses und jenes nach und blickten
dem sich träge dahinwälzenden Flusse nach ...
   Von Weitem sah man eine Schar Arbeiter mit Landbauwerkzeugen näher-
kommen. Sie kamen auf dem neu ausgeschlagenen Pfad am Ufer entlang nur
langsam voran. Als sie die Neuankömmlinge wahrnahmen, zockelten sie
schweigend heran und musterten jene sichtlich verschlossen, wie eben
der Mensch dem Mitmenschen gegenüber zunächst ist ... Erst einmal an-
gekommen, deuteten sie einen Gruß an und verzogen sich wortlos in ihr
Magazin, um ihr Werkzeug zu verstauen. Felicíssimo fiel ihre seltsame
Art auf und fragte zur Sicherheit nach:
   "Hallo, Jungs! Habt ihr SCHON alles fertig?"
   "Aber klar doch!", kam es wie aus einem Munde; und sie blickten
einander an, als hätte ihr kleiner Chorgesang sie selbst erschreckt.
   Milkau und Lentz bewunderten diese stämmigen Männer mit eisernen
Pranken, wie Bauernschränke, mit rötlichen Bärten und himmelblauen Au-
gen; sie hätten gut alle Brüder sein können. Einer stach allerdings
aus ihnen heraus, ein Mulatte. Sein bronzefarbenes Gesicht war durch
Blatternnarben entstellt sowie von einem krausen, löchrigen Bart um-
rahmt und von einem Stiftenkopf gekrönt. Mit seinen blutunterlaufenen
Augen und seinen sägespitzen Zähnen mochte er wie ein Waldteufelchen
wirken; aber dieser Eindruck hielt nie lange an, wenn er sein unbefan-
genes, gewinnendes Lächeln aufsetzte. Inmitten all jener rotblonden,
wuchtigen Gesellen fiel der Altbrasilianer durch einen Hauch von ver-
geistigtem Überlegenheitsgefühl auf. War denn nicht er der zutiefst im
Vaterlande Verwurzelte, dessen Blut über Geschlechter und Aber-Ge-
schlechter zu dem geworden war, was es war? ...
   Nach und nach kamen die Männer dann doch zu den Neuankömmlingen
herbei und hörten schweigend ihrer Unterhaltung zu. Als gerade die
Sonne am Untergehen war und der Fluss sich blutrot färbte, deutete Fe-
licíssimo gen Himmel und wies Milkau und Lentz auf einen Schwarm Vögel
hin, die von der Abenddämmerung beschienen ihre anmutigen Bahnen zo-
gen.
   "DAS wär ein Schuss!", rief der Mulatte begeistert, zugleich weh-
mütig, nachdem in ihm wieder der eingefleischte Jäger durchgebrochen
war.
   "Ach, Joca, du erwischst ja doch nichts, du Geißbock, du schwar-
zer", entgegnete ihm Felicíssimo lachend auf Deutsch.
   "Genau!", kam es aus dem Kollegenkreis.
   "Nicht werd ich's können, Chef", widersprach der Mulatte im Brust-
ton der Überzeugung. Zielen kann ich, kein Problem. Ich bräuchte nur
eine gescheite Knarre, die weit genug trägt, dann herrschte Ruhe im
Revier ..."
   Der Schwarm schwang sich weiterhin feierlich und stolz durch die
Lüfte. Auch andere tauchten am Horizont auf. Joca blickte ihnen wie
am Boden zerstört nach. Lentz war bass erstaunt, wie fließend der Mu-
latte Deutsch sprach, wenn auch mit eingesprenkelten brasilianischen
Brocken. Da wandte er sich an die deutschen Arbeiter, ob sie denn die
Landessprache beherrschten. Die Antwort war ein Nein. Und Felicíssimo
bemerkte dazu:
   "Wisst Ihr, ich sage ja noch gar nichts von diesen hier, die viel-
leicht ein Jahr oder etwas mehr im Lande sind. Aber in der Kolonie
gibt es Leute, die vor über dreißig Jahren hergekommen sind und kein
Wort Brasilianisch herausbringen. Eine Schande ist das! Unsere Treiber
und Hilfskräfte eignen sich jedenfalls alle Deutsch an. Ich weiß auch
nicht, aber scheint's tut sich niemand so leicht mit Fremdsprachen wie
unser Volk ... Das liegt uns wohl im Blut ..."
   Dem stimmte Joca zu, und er bestätigte, dass er bereits besser
Deutsch spreche als seine Muttersprache; einige Brocken wisse er auch
auf Polnisch und Italienisch. Lentz konnte sich seine Genugtuung nicht
verkneifen, dass es die brasilianische Umgebung offenkundig nicht
schaffe, ihre Sprache durchzusetzen. Würde diese Schwäche nicht die
Bresche sein, durch die in der Zukunft die germanischen Gelüste auf
diesen unvergleichlichen Flecken Erde Wirklichkeit würden? Mit weit
geöffneten, leuchtenden Augen träumte er ... und träumte ...
   "Der Tag kommt schon", zeigte sich Milkau überzeugt, "da die brasi-
lianische Sprache wieder die Oberhand gewinnt. Die Siedlungszonen sind
nicht typisch für das ganze Land; es ist ja nur, weil die Leute dort
mit den Alteingesessenen nicht viel zu tun haben. Nicht dass die Ein-
wandereridiome gar keinen Einfluss auf die Nationalsprache hätten,
aber auch, wenn sich da so manche Eigenheit einschleicht, dann ist es
wesenhaft immer noch Portugiesisch, das schließlich über Jahrhunderte
in die Seele des Volkes eingebrannt ist, das von der Dichtung getra-
gen und von einem Schrifttum gestützt wird, das ungemein lebenskräftig
ist." Und, Lentz zugewandt, lächelte er: "Auf Dauer schauen wir durch
die Finger."
   Felicíssimo war dies gerade recht. Joca, der nur noch den letzten
Satz aufgeschnappt hatte, blickte überlegen auf seine deutschen Kolle-
gen herab. Die Weissagung ließ in ihm sogleich den Stolz des Überwin-
ders aufsteigen.
   Während die Unterhaltung so dahinplätscherte, sahen sie auf dem Weg
am Flussufer einen großen, zaundürren Alten mit einer Flinte daherkom-
men, der mit einer noch von Blut tropfenden Jagdbeute beladen war, ei-
nem Paka, einem Riesenhasen, wie Joca erklärte. Der Jäger war von ei-
ner ganzen Meute Hunde umgeben, alle erhitzt, die Ohren hoch aufge-
richtet oder auch hängend, alle von der Jagd ausgelaugt, mit offenen
Mäulern und heraushängenden Zungen, zitternd, angespannt, keuchend,
wobei sie die kalte Luft mit ihrem heftigen Schnaufen aufheizten und
sich dadurch in wahre Nebelschwaden hüllten. Der Jäger schritt hurtig
dahin, und die Hunde folgten ihm und heulten angesichts des Duftes,
der dem Wildbret entströmte.
   "Ah", ließ Joca zwischen den Zähnen erzischen, "wenn wir so etwas
für den Kochtopf hätten!"
   Der Jäger grüßte nicht einmal, als er vorbeikam.
   "Ein Sonderling", meinte Felicíssimo.
   "Wohnt der hier irgendwo?", wollte Milkau wissen.
   "Ja, eigentlich unser nächster Nachbar, aber grüßen - sowas kennt
der nicht. Für ihn könnten wir gerade so gut Hunde sein", erläuterte
Joca.
   "So ein Einsiedlertyp, oder?", nahm Lentz an.
   "Der? Der ist fertig mit der Welt!", bestätigte Felicissimo. "Der
redet mit keinem, den ich kennte, und wohnt alleine mit seinen Hunden,
mit denen gelinde gesagt nicht gut Kirschen essen ist."
   Der Alte zog einfach weiter, ohne von den Anderen, die ihm zuguck-
ten, überhaupt Notiz zu nehmen, bis er sich im Dschungel verlor.
   Das Leben des Jäger-Eremiten bot noch eine Zeitlang Gesprächsstoff
für sie, als einer auf Felicíssimo zukam, das Abendessen sei angerich-
tet. Sie erhoben sich aus dem Grase, teils sich streckend, teils gäh-
nend, und schlurften schweigend ins Haus.
   Die Arbeiter deckten den Tisch im Einwandererschlafsaal, trugen auf
und setzten sich zum Abendessen. Das Mahl war denkbar einfach, Salz-
fisch und Trockenfleisch, die übliche Nahrung in ihrer Sparte; doch
alle speisten fröhlich dahin, die einen eher wortkarg, die anderen,
wie Felicíssimo und Joca, mit unablässigem Wortschwalle. Lentz wägte
die an einem Tische versammelten Rassen. Er bewunderte die in sich ru-
hende Kraft der deutschen Hünen, wogegen ihm die inhaltsleere Schwatz-
haftigkeit des Blauen und des Mulatten auf den Geist gingen.
   Milkau dagegen ging auf alle zu und erbaute sich an einer solchen
Tischgemeinschaft verschiedener Rassen, die er als ein hoffnungsver-
heißendes Vorzeichen für die Zukunft sah, eine Rückkehr zu urbibli-
schen Zeiten.
   Den Raum beleuchtete eine Petroleumlampe nur schwach und undeut-
lich, aber immerhin gut genug, dass die beiden Neuen allmählich die
Gesichter der Einzelnen unterscheiden lernten, während sie ihnen zu-
nächst als gestaltlose Masse erschienen waren. Die einen waren ge-
setzten Alters und durch Prüfungen gestählt, andere junge Neulinge,
stark zumeist, und, den Bewegungen nach zu urteilen, mit einer uner-
schütterlichen Ruhe ausgestattet, ebenso aber dem Wunsche, hier Ruhe
zu finden. Sie aßen alle gleich gemach und bedächtig. Abgesehen von
ihrer ähnlichen Herkunft hatte ihnen ihre lange gemeinsame Tätigkeit
einen einheitlichen Stallgeruch verliehen.
   Milkau gefiel es, das Gespräch mit seinen Landsleuten zu suchen,
und fragte jeden nach seiner Heimat aus. Fast alle stammten aus dem
östlichen Preußen, aus Pommern; einige allerdings nannten das Rhein-
land als ihre Wiege.
   "Und woher sind SIE?", fragte Milkau den Ältesten unter ihnen.
   "Aus Germersheim."
   "Was, da sind wir ja beinahe Nachbarn; ich bin aus Heidelberg."
   Der Arbeiter lächelte glücklich, auf einen Landsmann gestoßen zu
sein, schien aber etwas mit sich herumzutragen, was ihn nicht aus sich
herausgehen ließ. Für Milkau wiederum war das Auftauchen eines Lands-
mannes wie eine plötzliche Wiederaufrollung seiner ganzen Vergangen-
heit. Einen Augenblick lang überfiel ihn eine unerklärliche Wehmut ob
seiner Frühzeit; es war, als haderte er heute noch damit, nicht immer
schon der Mensch gewesen zu sein, der er inzwischen geworden war. Ach,
könnte er nur die Zeit zurückdrehen, alles anders machen, mit Liebe
alle jene Gleichgültigkeit abbüßen, die er allem in seinem Lande, sei-
nen Heimatstädtern, dem Umfeld seiner verhohlenen Jugend, entgegenge-
bracht hatte.
   "Ah!", fiel ihm etwas ein. "Das ist ja die Gegend von Schwester
Martha! Dann sagt Ihnen wohl auch der Nonnenfelsen etwas?"
   "Freilich."
   Lentz erkundigte sich, ob es sich um eine Sage handle. Und Milkau
bat den Arbeiter, er möge doch auch den anderen diese ihnen unbekann-
te Geschichte erzählen. Alle wandten sich jetzt dem Rheinländer zu.
   Der so aus der Ruhe Gebrachte zögerte zunächst, sich vor den Ande-
ren derart zur Schau zu stellen. Er wollte nicht recht mit der Sprache
herausrücken und schüttelte nur verlegen den Kopf.
   Joca konnte etwas wie Stillschweigen oder Lautlosigkeit gar nicht
haben, und mit rollenden Augen wandte er sich an seinen deutschen Kol-
legen:
   "He, Mann, raus mit der Sprache! Ist das 'n Geheimnis, oder was?",
heischte der "Geißbock".
   So ließ sich denn der Deutsche doch breitschlagen, blickte ob sei-
ner ungewohnten Rolle schüchtern in die Runde und rückte mit seiner
Geschichte heraus.
   In einem schwerfälligen Schriftdeutsch erzählte er von einem Her-
zog, der, kaum verheiratet, seine Frau verlassen musste, um zu einem
Kreuzzug aufzubrechen. Sein Weib war untröstlich und gelobte, wenn er
lebend wiederkäme, das erstgeborene Kind Gott aufzuopfern. Der Herzog
kehrte in der Tat wieder, und nach einiger Zeit wurde ihnen eine Toch-
ter namens Martha geboren. Aus dem Mädchen wurde ein Fräulein von aus-
erlesener Schönheit; doch die benachbarten Adeligen, die für ihre Söh-
ne um des Mägdeleins Hand angehalten hätten, mussten zu ihrem Leidwe-
sen feststellen, dass sie für die Welt tot war. Kaum war Martha alt
genug, trat sie ins Kloster ein, wo ihre Frömmigkeit ihre außergewöhn-
liche Schönheit nur noch mehr zur Geltung brachte. Auf einem weiteren
Kreuzzug fiel der Herzog, und die Witwe, die keine weiteren Kinder
mehr hatte, zog sich in ihre Kemenate zurück. Ihr einziger Trost war
ihre Tochter, die sie von Zeit zu Zeit, in ihre Nonnentracht gewandet,
besuchte. Als sie wieder einmal zu einem solchen Besuch den Wald 
durchquerte, lief sie einem jungen Jägersmanne über den Weg, dem Sohne
eines Pfalzgrafen. Vom Anblicke der Schwester ganz entflammt, schlich
er ihr bis zur Burg nach. Er kämpfte noch mit sich wider seine unkeu-
schen, missetäterischen Gedanken, doch vergebens, und so ging er dar-
auf aus, das Fräulein zu rauben. Eines Nachmittags klopfte er, als
Bäuerlein verkleidet, an der Klosterpforte und ließ Schwester Martha
ausrichten, die Herzogin liege im Sterben. Da brach die Nonne sofort
nach Hause zu ihrer Mutter auf. Der Graf ging mit, und als sie fernab
jeder Menschenseele waren, gab er sich zu erkennen und rückte mit sei-
nen wahren Absichten heraus, nämlich sie in ein fernes Land mitzuneh-
men, wo sie ihrer Liebe frönen könnten. Vollkommen verschreckt, suchte
die tugendsame Martha das Weite. Der liebestolle Bursche lief ihr
nach. Wie im Wahne durcheilten sie den Forst. Die Schwester verlief
sich, kam immer weiter von der Burg ab und in ihrer Verwirrung an den
Fluss, wo sie der Graf beinahe erwischt hätte ... Aber da öffnete sich
vor ihr ein Felsen und nahm die junge Nonne in sich auf. Der Grafen-
spross konnte nicht an eine solche wundersame Errettung glauben und
wartete eisern darauf, dass Martha herauskäme. Er schlug an dem Felsen
sein Lager auf und wartete Tage, Tage ... Vom Felsen heraus hörte man
etwas, nein, nicht Verwünschungen, sondern Gebete der Schwester für
das Seelenheil dessen, der ihr Gewalt antun wollte. Monate vergingen,
Jahre, der Graf wurde alt, der weiße Bart reichte ihm bis auf die Fü-
ße, und zu guter Letzt hatten es die Bittgesänge der Nonne fertigge-
bracht, dass ihm jegliche Versuchung geschwunden war und er, bekehrt
und bußfertig, die Hymnen anstimmte, die ihn Martha aus dem unbezwing-
baren Felsen heraus gelehrt hatte. Er verlobte sich sodann ganz dem
Dienste an Gott, wollte gar einen Orden gründen und verabschiedete
sich in diesem Sinne unter Tränen der Reue von der Klosterfrau. Alt,
fromm und in Demut gebeugt ging er von dannen. Und siehe, der Stein
ging auf, und heraus kam Martha, und zwar so jung, wie sie ihn betre-
ten hatte. Von Engeln genährt und geleitet, war für sie die Zeit nicht
fortgeschritten; und ihr kam es vor, als wäre sie nur für einem Tag im
Felsen festgesessen. Verwirrt und von Furcht erfüllt machte sie sich
zum Kloster auf. Während sie fort war, hatten ihre Mitschwestern aus
ihrer Zelle himmlische Klänge gehört und an der Tür auf Knien, von den
Klängen ganz verzückt, ohne Unterlass gebetet. Als Schwester Martha
die Klippe verließ, verstummte auch die Stimme in der Zelle, und die
Nonnen waren von dem Banne, der sie an der Tür festhielt, befreit, und
sie kehrten zu ihren Verrichtungen zurück. Martha lief also ins Klos-
ter, und sogleich wandelte sich der herrschende Winter in Frühling,
und das noch winterlich kahle Land ließ allerlei Blumen erblühen ...
Im Kloster angekommen, war alles wie früher. Auch dort war die Zeit
nicht weitergelaufen. Martha warf sich vor der Oberin nieder und woll-
te ihr alle Fährnisse, während sie fort war, erklären. Die arme Mutter
mochte denken, Martha hätte sich wohl etwas eingebildet; sie habe sich
aber nie aus ihrer Zelle herausbegeben, aus der sie die herrlichsten
Lobpreise Gottes habe erklingen lassen. Daraus konnte sich nun Martha
keinen Reim machen, und sie zog sich in ihre Zelle zurück, aus der
ebendaselbst ein Engel entwich, ihr Bild und Gleichnis, der in ihrer
Abwesenheit ihren Platz eingenommen hatte.
Noch ganz unter dem Eindruck jener Sage klang das Abendessen allmäh-
lich aus, und einer nach dem anderen verließ den Saal. Sie versammel-
ten sich draußen, um die Kühle der Nacht zu genießen. Auch Milkau und
Lentz gesellten sich zu ihnen, und in der Einsamkeit der Wildnis wuch-
sen sie zu einer echten Gemeinschaft zusammen. Die Männer legten sich
ins Gras, mit Blick auf den Fluss, der sich als blitzendes, zittern-
des Band abzeichnete, das als das einzige Licht gegen die Schwärze der
Nacht ankämpfte. Die Unterhaltung kam nicht mehr so recht in Gang, sie
schleppte sich eher nur schwerfällig dahin, wohl weil jeder im Grunde
mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt war. Einer der Männer brachte
dann aber auf den Punkt, was alle umtrieb:
   "Es gibt viel Unerklärliches unter der Sonne ... Sei immer vorbe-
reitet, denn du weißt nie, was Schlimmes auf dich zukommt, und meist
dann, wenn du es am wenigstens erwartest ..."
   Die anderen stimmten murmelnd zu, und dann war schon wieder Stille.
Lentz wollte sie aufrichten und zeigte sich überzeugt, dass es über-
haupt keine Hexen, Wunder oder Zauberei gebe. So beredt er auch sein
mochte, gegen die jahrhundertealten Überzeugungen in jenen Seelen kam
er nicht an. Und als er schloss: "Die Hexen sind schon lange ausge-
storben, und es waren nie andere Frauen als die, die ihr liebt", da
widersprach einer der Älteren seinem belehrenden Ton entschieden:
   "So nicht, junger Mann! Männer sollten genau hinschauen, bevor sie
sich verlieben. Was sind nicht alles für Unglücke passiert, weil Män-
ner auf die rührseligen Geschichten von weiblichen Wesen hereingefal-
len sind ..."
   Jeder erinnerte sich einer Geschichte aus seiner Heimat. In einer
Art tropischer Rockenreise tauchten aus den Urgründen der Auswanderer
die Helden auf, die sächsischen Halbgötter, die Rheinnymphen, die Rie-
sen und ihr Gefolge von Zwergen. Die beiden Brasilianer waren sehr ge-
spannt auf jene Erzählungen, kamen sie doch aus einer unbekannten
Welt, von der sie allerdings einen Hauch von Vorstellung hatten durch
ihre eigenen Sagen, die, wenn auch entstellt, auch oft aus der Welt
der Weißen kamen, einer der Quellen ihrer Mischrasse. Jetzt aber er-
tönten die Sagen im reinen, unverfälschten Originalton; und WIE sie
die Heldentaten Siegfrieds, des Sohnes Sigiberts, in sich hineinso-
gen, seine Reckenstücke auf Burg Nibelung, seinen Kampf mit dem Rie-
sen, die Niederlage des Zwerges Alberich, des Hüters unermesslicher
Schätze, und dann seinen Strauß, seine Kämpfe mit der Hexe Brünhild,
der Königin Islands, in denen er durch seine Tarnkappe unsichtbar auf-
trat, um sie zu überwältigen und sie ihrem Gemahlen zurückzuführen ...
bis eines Tages der Held einem Lanzenstiche zum Opfer fiel, weil der
genau auf die einzige verwundbare Stelle an seinem Körper angesetzt
war ... Und wie hingen sie dem Erzähler an den Lippen, der die schöne
Lorelei ins Spiel brachte, die einmal hold-gewogene, die Nachbarschaft
beschirmende, dann wieder rachsüchtige, die die Wässer des Rheines je-
ne Wackeren schlucken macht, die sich erdreistet haben, in ihr geheim-
nisvolles Antlitz zu blicken und die vor ihrem Hinscheiden von Lore-
leis Gesängen in den Wahnsinn getrieben worden sind ...
   Dann kam auch noch jener Pfalzgraf ins Spiel, der sich, verführt
von der Fee magischem Gesange, vor Leidenschaft für sie nicht mehr zu
helfen wusste, bis er eines Tages beim Anblicke Loreleis auf dem Fel-
sen mit der Leier in der Hand ohnmächtig wurde und von ihr in ihr
gläsernes Schloss auf dem Grunde der blauen Wässer entrückt wurde ...
Man stelle sich den Verdruss im Schlosse des Grafen vor: Der Vater
wurde bei der Suche nach dem Sohne beinahe verrückt, bis er die Nymphe
fand und sie um seinen Sohn bat, doch sie antwortete von oben herab,
majestätisch-abgehoben, unter dem Klange der Harfe: "Mein lächelndes
Glasschloss liegt im Schoße der Wogen; und dorthin, so fern deiner
Welt, habe ich meinen Herzallerliebsten gezogen ..."
   Als die Geschichte zu Ende war, konnten allerlei Bemerkungen der
Leute dazu nicht ausbleiben. Joca erklärte, vor Wassermüttern habe er
jedenfalls keine Angst. Als andere deshalb witzelten, blieb er stolz
dabei:
   "Nicht Weib, noch Hexe, noch Teufel fürchtet, wen schon einmal der
Waldschrat Currupira in den Fängen gehabt hat."
   Milkau war dieser seltsame Ausdruck völlig neu; er hielt ihn für
mundartlich oder ordnete ihn der ungemein reichen, altehrwürdigen bra-
silianischen Umgangssprache zu. Da er nun mit dem Begriff nichts an-
fangen und ihn keiner Sage des Landes zuordnen konnte, munterte er den
Mulatten leutselig auf:
   "Also, was ist damit, Joca?"
   "Ah", ging er sogleich darauf ein, "das war nicht hier, sondern da-
heim oben in Maranhão, da wo ich herkomme ... Also, mein Onkel Manoel
Pereira auf der Fazenda Pindobal pflegte zu sagen: 'Bub, lass den Un-
sinn, zu allen möglichen Zeiten durch den Dschungel zu laufen, nur we-
gen eines Weibsbilds; irgendwann holt dich der Currupira!' Ich beutel-
te mich natürlich nur ab und spottete den Alten aus: 'Ach, Onkelchen,
da lachen ja die Hühner! Bin doch kein Feigling, oder? Der Currupira
ist was für kleine Kinder.' Onkel Manoel ließ aber nie locker und en-
dete immer mit einem: 'Ich sag nur: Vorsicht!'. Eines Tages hatten wir
das Vieh im Pferch zusammengetrieben. Mein Pferd war todmüde, weil ein
Jungstier partout nicht aus dem Uferdickicht heraus wollte - bis wir
ihn dann doch am Lasso hatten ... Gleich als wir daheim waren, fessel-
te ich meinen Ventania, den armen, kreuzlahmen, und ließ ihn grasen
... Mein Onkel rief mich zum Abendessen. Die Sonne hatte schon merk-
lich an Kraft verloren, als wir uns an den Tisch setzten, also mein
Onkel, der der Rindermann des Gutes war, und wir, seine vier Knechte.
Die Kerle hatten einen Mordshunger, der selbst meine Tante erschreck-
te.
   'He,' meinte die Alte, als sie uns aufwartete, 'ihr seid ja noch
hungriger als der Teufel persönlich; Grundgütiger!'
   Jedenfalls flogen uns die Fischlein nur so hinein, keine Banane
blieb übrig, und dann spülten wir mit einem ordentlichen Schluck Wei-
ßen kräftig nach. Danach setzten wir uns auf die Türschwelle mit Blick
auf den Pferch nieder. Zu jener Stunde brüllten die Kühe zum Steiner-
weichen, als sie ihre Kälber leckten, die sich von der anderen Seite
an den Zaun drängten. Ich war hundemüde. Den Anderen ging es nicht
besser. Aber dann redete mich Manoel, der Schönling, an: 'Du weißt
aber schon, dass heute bei Maria Benedita Tanz ist?' Oh, ich und meine
hohle Birne; hatte ich doch tatsächlich meine Verabredung vergessen!
Den Samstag zuvor hatte ich mit Rosa, meinem Täubchen, abgemacht, wir
würden üns in Beneditas Laube zum Tanz treffen. Ich war schwer in sie
verschossen; sie war wie eine Palme, groß und schlank und hatte in der
Tat einen geschwungenen Kopf wie eine Taube. Meine Müdigkeit war wie
weggeblasen; da musste ich natürlich hin.
   'Na klar doch; also auf, Manoelzinho!'
   Doch der Schönling fand irgendeine Ausrede; er habe irgendwo noch
etwas Dringendes zu erledigen ... Die übrigen Kollegen waren über die-
ses Alter hinaus und im Übrigen verheiratet; sie kamen nicht in Frage.
Ich war fürs Erste furchtbar enttäuscht, aber wenn ich nur an diesen
Hasen dachte ... Puls, schäum nicht über! Gut, dann musste ich eben
allein gehen, denn der Sohn meines Vaters lässt keine Vergnügung hin-
ten, bedeutete ich den faulen Säcken.
   Ich ging also zur Quelle; und Onkel Pereira, dem ich nie etwas
recht machen konnte, wollte mich einbremsen: 'Mann, du spinnst doch.
Wenn du um diese Zeit badest, dann erwischt es dich. Und dann dürfen
die Anderen deine Arbeit mitmachen.' Ich scherte mich nichts um den
Alten und ging trotzdem an den Weiher. Es war noch früh genug, und so
sprang ich hinein, und die Kälte ging mir durch und durch. Ich tauchte
kurz unter und plantschte herum, um etwaige Kaimane um mich herum zu
verscheuchen. Dann lief ich eilig heim, um mich umzuziehen. Ich zog
mir ein weißes Hemd und eine weiße Hose an und legte das rote Halstuch
um, das ich mir von einem Schiffer an der Lände besorgt hatte. Dann
klopfte ich bei Tante Benta um ein paar Tropfen Pomade an, und im Nu
war ich bereit. Mein weißes Halstuch hatte ich letzte Woche beim Täub-
chen zurückgelassen, auf dass sie es an ihrem Busen trüge und mit ih-
rem eigenen Duft erfülle. Sie würde es mir beim Tanz wiedergeben. On-
kel Pereira ermahnte mich zum Abschied: 'Bleib nicht zu lang, denn in
aller Früh, noch ehe der Mond untergeht, holen wir Verpflegung auf der
Fazenda Marambaia.' - 'Ist gebongt, Onkel. Keine Sorge; ich bin bald
genug zurück, und ich wecke dich morgens auf.'
   So, das war jetzt aber genug des Redens mit dem Onkel, und ich
zischte ab wie ein wütender Strauß. Von Pindobal zur Laube waren gut
zwei Stunden zu Fuß. Ich durchquerte das ganze Land unserer Fazenda
und strebte auf die Guaribenser Stromschnelle zu; und ich erinnere
mich noch, wie wenn es heute wäre, dass alles trocken war, und an die
wenigen dürren Kühe, die mit ihren traurigen Augen, wie denen eines
toten Fisches, in den Sonnenuntergang starrten. Man hörte nur einige
Schweine grunzen, wie sie die Erde nach Regenwürmern durchwühlten. 
Als ich dort ankam, schaute ich noch im Laden Zés des Seemanns vor-
bei. 'Na, Joca, wohin des Weges in diesem Fummel?', fragte der Portu-
giese. 'Mich ein wenig amüsieren, Patron, in Marias Laube.' - 'Heute
ist schon eine Menge junges Gemüse vorbeigekommen. Die Hütte muss ge-
rammelt voll sein. Zu trinken gibt's auch genug, weil's ich geliefert
habe, im Auftrag von Pedro Tupinambá ... na, du weißt schon.'
   Ich weiß nicht, ob es des Seemannes Gequassel war, was mir den
Blutdruck noch einmal emportrieb; aber alles um mich drehte sich, mein
Herz wäre fast davongesprungen, und es zog mir fast die Beine weg ...
Aber ich behielt Haltung und war gleich wieder Herr meiner Worte: 'Al-
so, mir pressiert's dorthin; und man sollte auch nicht schnorren, mei-
ne ich, sondern für sich selber sorgen. Gebt mir also ein Viertel Kla-
ren und schneidet mir zwei Riegel Kautabak herunter.'
   Gesagt, getan, und ich machte mich auf den Weg. Die Sonne war be-
reits verschwunden, und die Glühwürmchen begannen die stille Luft zu
bevölkern, doch ihr Dienst war nicht mehr gefragt, weil der Mond bald
alles in sein Licht tauchte. Ich schlug einen Nebenweg quer durch das
Grundstück ein, an dessen Ende der Festpalast stand. Der Sand war hier
noch wärmer als vorher schon, und die Hitze überwältigte mich schier.
Vorwärts, nur vorwärts; Eidechsen liefen hin und her und wirbelten das
Laub auf, und dann und wann schlug ein Specht auf einem Stücke Totholz
auf seine Weise die Abendstunden. Keine Menschenseele weit und breit,
und ich lief so hurtig auf die Laube zu, dass ich den Staub schluckte,
den ich selber aufwirbelte. Ich fürchtete, der Zug könne abgefahren
sein, mein Täubchen wäre des Wartens müde und schnappte sich einen An-
deren als Partner für die Nacht. Auf, ihr Beine! Allerdings machte der
Kopf nicht recht mit; mich schien es zu zerreißen, und der Magen neig-
te dazu, sich umzudrehen.
   In der Mitte des Dschungels war eine Lichtung, und da schien plötz-
lich ein Gesicht auf mich zuzukommen. Mich kümmerte das gar nicht; ich
dachte mir höchstens: 'Ach, das ist wohl der Seemannssohn, der jetzt
heim muss, weil ihn sein Pa nicht auf das Fest lässt.' Auf einmal hör-
te ich einen scharfen Pfiff hinter mir. Da nahm ich an, es wäre wohl
auch einer, der dort hingeht und mich ruft. Hinter mir sah ich aber
keinen, auch auf den zweiten Blick nicht. Ich schritt weiter ... Und
wieder ein bohrender Pfiff, und wieder, und noch einmal; ja, jetzt
pfiff es mittendrin von überall her, aus der Tiefe des Waldes, von der
Straße her, über den Wipfeln. 'Das muss ja eine ganze Horde Eulen
sein; also, wenn das kein böses Vorzeichen ist?!' Mir lief's eiskalt
den Rücken hinunter, und um Mut zu fassen, schaute ich mich nach dem
Seemannssohn um. Da konnte ich schauen, wie ich wollte; da war nie-
mand. 'Wo ist das Teufelchen nur hin?' Es pfiff immer noch rund her-
um, ich war benommen, und das Herz pochte wie wild. Dann sah ich den
Kleinen wieder vor mir; ich blickte diesmal genau hin, weil er ganz
nah war, aber es war auf keinen Fall der Bub des Portugiesen; nein,
das Kerlchen kannte ich gewiss nicht. Wir standen knapp hundert Meter
auseinander; da verschwand er WIEDER. Das Eulengepfeife ging dabei
munter weiter. Mir entwich es zwischen den Zähnen: 'Erscheinen - ver-
schwinden - was macht der Zwerg nur? Da is' was faul im Staate Mara-
nhão!' Und - wieder war er da. Jetzt rief ich laut und deutlich, um
den Anderen einzuschüchtern: 'He, was soll das? Ist das die feine
englische Art, oder was?' Doch wozu sprach ich überhaupt? Der ganze
Dschungel pfiff los wie der Teufel; diese Vorstellung konnte einem
schon Angst einjagen! Jetzt war das Bürschlein nur noch zehn Meter
weg. Mir kochte das Blut, mit rauchte der Kopf. Und was tat ich ...
natürlich stürzte ich mich blindwütig auf den Zwerg los.
   'Du Teufel; dafür wirst du bezahlen!' Ich erhob meinen Stecken,
aber ehe ich mich versah, hatte mich etwas an den Handgelenken. 'Los-
lassen!', brüllte ich. Das Teufelchen starrte mich mit seinen blutun-
terlaufenen Augen an. 'Losl...!' Doch es half nichts. Ich ging ärger
auf den Mistkerl los als damals auf Antônio Pimenta, eine alte Ge-
schichte, die sich beim Viehtreiben zutrug. Wieviele bullige Stiere
hatte ich nicht schon zu Boden geworfen, und jetzt ließe ich mich vom
einem solchen Dreikäsehoch aufs Kreuz legen? Wir kämpften, was das
Zeug hielt; ich rammte ihm den Kopf ins Gesicht, trat ihm ans Schien-
bein, aber er steckte alles weg wie nichts, der Affe, der! Nach eini-
gen Minuten hörte ich ein röhrendes Gebrüll, wie von einem Jaguar; und
ich dachte, jetzt würde der Wicht Fersengeld geben. Doch nein, es wur-
de schlimmer, denn das Geröhre echote sich durch den Wald; Wildschwei-
ne klapperten mit den Kiefern, Wildkatzen miauten drauflos, die Klap-
perschlangen machten ihrem Namen alle Ehre ... Und schon lag ich auf
dem Boden und der Fiesling auf mir. Die ganze Dschungelmeute machte
sich auf und kam auf uns zu; sogar die Bäume beugten sich und trieben
ihren Schabernack mit mir, die Sperber stießen hernieder, die Aasgeier
witterten in mir schon fette Beute ... Ich war vor Furcht völlig ge-
lähmt. Ich zitterte, und kalter Schweiß ließ meine Kleidung am Körper
kleben. Ich sagte mir: 'Das war's wohl, heiliger Johannes, mein Pa-
tron!' Und wie zum Tode schlossen sich meine Augen ... Lange lag ich
halb besinnungslos da, fühlte wohl die Bestien um mich herum, die der
Teuflische gegen mich einsetzte ... Dann herrschte auf einmal nur noch
Frieden, meine Hände waren frei, mich erfüllte große Hitze, und ich
öffnete langsam, ganz langsam, die Augen: Alles aus, alles weg, der
Mond schien taghell. Der Kampf hatte mich erledigt. Meine Zunge schien
mir so hart und trocken wie die eines Papageis. Jetzt öffnete ich die
Augen richtig, und ich sah weder das Teufelchen noch die wilden Tiere.
Aber ich war völlig verstört und wollte nichts wie weg. Ich griff um
mich nach meiner Schnapsflasche und den Kautabak. Zum Aufwachen hätte
ich nämlich jetzt beides gut gebrauchen können ... Aber es war weg; da
konnte ich noch so sehr suchen. Da legte ich mir zurecht, es könnte
dem Mistkerl von vornherein um den Hochprozentigen gegangen sein. Da
klang mir der alte Onkel Pereira wieder in den Ohren: 'Wenn dich der
Waldschrat heimsucht, gib ihm nur gleich alles, den Schnaps und den
Tabak.' Jetzt wusste ich: Ja, es war der Currupira. Ich sprang auf.
Ich wollte noch zur Laube rennen; dort musste die Fete gerade auf vol-
len Touren laufen. Ich blickte nach vorne, aber die Straße war ja SOO
lang. Und ich wollte auch keinen neuen Zusammenstoß riskieren. Ich
kehrte um, fiel mehr als zu gehen, stieß auf der Weide mit Rindvie-
chern zusammen. Die Augen brannten mir, das Blut wollte mir schier aus
der Haut spritzen, die Zunge war geschwollen, und ich hätte saufen
können wie ein Kamel ... Wie auch immer, irgendwie schaffte ich es
dann doch zu uns heim. Ich versuchte, niemandem über den Weg zu lau-
fen, und, angekleidet wie ich war, warf ich mich in die Hängematte,
die mit mir schaukelte wie ein Kanu auf dem Boqueirão.
   Ich erwachte, als ich an der Tür laute Stimmen hörte. Mein Onkel
war's mit dem Schönen. Sie öffneten, und die Helle des Morgens über-
flutete den Raum.
   'Zeit ist's, Joca; auf jetzt!'
   Ich wollte auch, aber ich schaffte es nicht. Der Alte bremste die
Hängematte ein, die immer noch wie wild schwang, weil in mir gefühlt
jeder Knochen einzeln tanzte. Mein Onkel meinte zum Schönen, er solle
doch Türe und Fenster weit aufmachen, und jetzt war die Kammer erst
recht in gleißendes Sonnenlicht getaucht. Er legte mir die Hand auf,
ich öffnete die feuerglühenden Augen, und Onkel Pereira grummelte:
   'Hab ich's dir nicht gesagt? Geschieht dir gerade recht! Wie kann
man sich auch nur um eine solche Zeit müde ins Bad stürzen?'
   Kleinlaut schwieg ich. Ich konnte ja dem Alten schließlich nicht im
Ernst verklickern, mir wäre der Waldschrat erschienen."
                                 ---
   Nach dieser Erzählung sannen die Siedler still vor sich hin. Jeder
fühlte sich auf seine Vergangenheit zurückgeworfen, an die man teils
unter Bauchgrimmen, teil mit Wehmut zurückdachte.
   Felicíssimo fand, es wäre nun Zeit fürs Bett, und stand als erster
auf. Die anderen erhoben sich gähnend, rekelten sich noch einmal zu-
frieden und waren gleich einverstanden, da sie der Schlaf bereits ko-
send umgarnte. Vom Doce her und aus dem Wald kam sanftes Gemurmel, und
den ruhenden Siedlern kamen diese Laute vor wie Stimmen der Wassermüt-
ter, die um die Liebe der Menschen heischten, oder auch wie Geräusche
herumstreunender Waldschrate auf ihren Streifzügen.

   Im Schlafraum schnarchten die Arbeiter schon auf ihren einfachen
Matratzen auf dem Boden, aber Joca wälzte sich ruhelos herum und wuss-
te, er würde diese Nacht kein Auge zutun. Seine Kehle war ausgedörrt,
die Haut brannte ihm; und so bequem seine Liegestätte auch sein moch-
te, fand er keine Ruhe. Hier, inmitten der Wälder des "Süßen Flusses",
die ihn nie anheimeln würden, kamen all jene Erinnerungen an seine
Heimat wieder herauf, weit oben in den Gefilden um Cajapió mit ihren
scharfen Jahreszeiten, die sich zutiefst in die Mentalität eines jeden
eingraben, der dort groß geworden ist. Espírito Santo war für Joca so
gut wie Ausland; die Berge beengten ihn, die Schluchten erfüllten ihn
mit äußerstem Unbehagen, kurz, ein unbezwingbares Heimweh versetzte
ihn zurück in die unüberschaubaren Ebenen seiner Jugend. Im Sommer war
die Weide tot, verbrannt; die brutale Liebe der Sonne überzog das Land
mit einem Netz tiefer Risse und ließ keinen grünen Halm übrig. Was
blieb, war eine triste Wüste ohne einen Tropfen Wasser, einzig aufge-
lockert durch den schlangengleichen Weg, den der Fuß des Menschen und
der Huf des Tieres der Erde eingestempelt hatten ... An klaren Tagen
ohne ein Wölklein am Himmel, da alles um Regen flehte, verschmolz die
Erde ganz hinten am Horizont mit dem Himmel. Dann wieder senkten sich
die Wolken bis fast auf den Boden, die blutrote Sonne pinselte sie
ein, Luftspiegelungen gaukelten den Sinnen allerlei vor und engten den
Gesichtskreis ein; und der Reisende, der ihnen nachhaschte, würde sie
ewig unerreichbar finden, so wie ein Heer, das auf offenem Felde exer-
ziert, für ihn nicht greifbar ist. Und so bringt wenigstens der Himmel
mit seinen Farbenspielen etwas Abwechslung in die so stur unveränder-
liche Erde ... Kein Tropfen drängt sich zwischen Landschaft und Auge
und erquickt dieses; da und dort kommt ein hungriges Rind vorbei und
klappert mit seinem Gerippe dem Fremden etwas vor ... Ganze Rudel
Schweine wühlen die Erde um und stürzen sich auf die Schlangen, die
sich faul und glücklich in der Sonne rekeln ... Rinderherden erschei-
nen am Horizont, wie wenn sie plötzlich aus der Erde aufgetaucht wä-
ren, rennen wie verrückt, schnüffeln in die Luft, vom Durste geplagt,
rotieren wie ein Wirbelwind, scheuchen Wolken von Staub aus seiner Ru-
he auf, der sie denn auch sogleich wieder einholt und sie gnadenlos
wie eine behende rote Feuersäule zum Husten bringt ...
   Wenn er an jenen Massenauszug des Viehes dachte, hielt es Joca
nicht im Bett, in dem er sich unruhig herumwälzte; und er hatte das
Gefühl, unbedingt aufspringen zu müssen. Dieses Land, diese Ebene
würde ihn nie loslassen. Jetzt wäre zu Hause gerade der Beginn der Re-
genzeit. Joca erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen; da wachte
er eines Morgens oben in Cajapió nach einem fürchterlichen Unwetter
zum Ende der Trockenzeit auf. Der Morgen war noch tauig, aber heiter,
und er schlüpfte aus dem Netz, um das Wetter in Augenschein zu nehmen.
Es schien, als hätte über Nacht jemand auf geheimnisvolle Weise einen
grünen, frischen, feuchten, belebten Teppich vom Himmel herunter über
die Gefilde gebreitet, die gestern noch ausgedörrt waren ... Die Augen
konnten sich gar nicht sattsehen vor Wonne, die Rinder feierten die
Rückkehr des Lebens, indem sie kräftig ins zarte Gras bissen, ein
Schwarm schnatternder Enten überflog das Land und pausierte mal hier,
mal da auf seiner Reise zur Seenplatte ... Tagelang gab's nichts wie
Regen, die Weiden waren üppig; ja, jetzt drohte das Wasser sogar al-
les zu ersäufen. Und siehe da, als der Regen etwas nachließ, sodass
man wieder etwas sah, hatten sich auch schon erste, lieblich anzuse-
hende Seen gebildet. Um sie herum tummelten sich nämlich allerlei Was-
servögel und trugen ihre farbenfrohen Gefieder zur Schau. Es kamen Vö-
gel von überall her, Stelzvögel mit ihren Löffelschnäbeln, lärmende
Enten, anmutige, scheue Jaçanãs. Und nachmittags, wenn sich der Himmel
eingraute, zeigten sich die martialischen, roten Schwärme der Guarás,
dann wieder die blütenweißen Schwingen der Reiher ... Am Grunde der
Seen wimmelte es von Fischlein, wie aus Zauberhand. Überall dasselbe
Wunder, dass sich das Leben sein Terrain zurückeroberte. Es regnete
allerdings immer weiter, und das Wasser verschluckte allmählich das
Land; das Vieh wurde von Unruhe gepackt und ging abermals auf Wander-
schaft, diesmal auf der Flucht vor der Regenzeit, und zog sich auf nur
leicht höhere Inseln im allgemeinen Meer der Ebene zurück. Langsam,
gemächlich ziehen sie dahin, auf schmalen trocken Streifen Landes, im
Wasser, notfalls schwimmend, aber nie verweilen sie auf ihrer Flucht,
um zurückzublicken. In der Mitte der Regenzeit hat das Wasser prak-
tisch das ganze Land im Griff; nur einige Inseln schauen noch heraus,
auf denen sich das Vieh dann zusammendrängt. Ein einziger großer, ru-
higer See liegt jetzt dort, wo einige Monate vorher versengte Wüste
herrschte. Auf ihm treiben die Riesenseerosen und allerlei andere Was-
serpflanzen wie ein grüner Teppich, wippend wie Vögel. Das ganze Leben
ist umgestellt, der Gaul bleibt im Stall, das Kanu wird hervorgeholt,
und Joca sieht sein schmächtiges Gesicht im Spiegel des unbewegten
Wassers ...

   Milkau war noch am Nachsinnen, bis ihn der Schlaf ins Vergessen
entrücken würde. Er hatte die von den Treibern erzählten Sagen genos-
sen; und es erschien ihm, er habe damit einen Schleier ihrer Seele ge-
lüftet. WIE hatte er doch die fernen Landschaften des Geistes genos-
sen, die auf die Urgründe der jeweiligen Ur-Völker zurückgingen. In
den deutschen Sagen sah Milkau den Rhein als den großen heiligen
Strom Germaniens wogen, voller Zauber, dessen blonde Nymphen dem
Schaume seiner selbst entstiegen. Ihm kamen die ganz alten Zeiten in
den Sinn sowie das Mittelalter mit seinen Hexen, fahrenden Rittern und
Burgen. Hierin steckte das Ur-Sein des Volkes, und alle jene aus dem
Wasser geborenen Sagen und Legenden waren wie ehedem und würden ewig
weiterleben; die das Alte überlagernden neuen lateinischen Gottheiten
schlüpften in die Rolle der alten, barbarischen, seine Heiligen waren
nichts anderes als eben jene Rheinfeen und die alten, düsteren und
kampfeslustigen Heidengötter ... Der Currupira stand für eine völlig
andere Welt der Sagen; diese war eben genau das Wetter des Maranhenser
Viehtreibers. Darin manifestierte sich der düstere Wald, die immerwäh-
renden Mächte der Natur, die immer für eine Überraschung gut sind, und
sei es in Form eines Waldschrats, der die Bäume zu lebenden Wesen um-
deutet, die Tiere aus ihrem tropischen Schlendrian reißt und die Natur
vor ihrem Erbfeind, dem Menschen, beschützt, indem er diesen auf Ab-
stand hält. Ja, der Currupira: Er schreckt, rächt, segnet, schlüpft in
tausend Gestalten, am liebsten in böse, in Tiere oder Pflanzen, wie es
gegen List und Tücke erforderlich scheint ... Milkau sah in all jenen
Sagen Erscheinungsformen des Aberglaubens, und jede widerspiegelte den
Menschen mit seinen Antrieben, Wünschen, Sitten und Gebräuchen. Eine
Welt für sich, die Seele der verschiedenen Völker! Der wahre Philo-
soph, sann Milkau nach, wäre wohl der, der den Ursprung kennte, aber
nicht nur von Geschichte und Gesellschaft, sondern auch der einzelnen
Seele, dem es gegeben wäre, die Geister zu scheiden, tief in den Ge-
hirnen die zartesten Sinnesregungen der Völker zu entschlüsseln, und
der über das Einfühlungsvermögen verfügte, im Gemüte eines bestimmten
Menschen den Anteil an Laster und Tugend zu bestimmen, oder gar her-
auszufinden, ob EINE Rasse eher zu eingewurzeltem Hass und die andere
zu unverbildeter Liebe neigte. Jetzt aber schlief Milkau beruhigt ein,
glücklich und zufrieden in jener wohltuenden Tropennacht unter geerde-
ten Menschen, im Schoße eines freundlichen, kräftigen Neulandes; und
was sich am Abend erst undeutlich abgezeichnet hatte, entwickelte sich
in seinem Traume zu einem leuchtenden Bilde am Horizont, und zwar ein
neues Menschengeschlecht als ein glückliches Ergebnis der Liebe aus
allen Rassen, das die Welt übernähme und ein Himmlisches Jerusalem
gründete, in dem das Licht auf ewig schiene, wo es keine Knechtschaft
mehr gäbe und in dem ein völlig neues Leben, leicht, lächelnd, lieb-
reizend, der ewige Spiegel von Freiheit und Liebe wäre.
   Lentz rang vergebens um Schlaf und hatte dafür unso mehr mit seinen
Gedanken zu kämpfen, die in seinem Kopfe herumschwirrten. Alle Eindrü-
cke, die er während der Durchquerung des Waldes aufgenommen hatte, 
prasselten mit aller Gewalt auf ihn ein. Mal fühlte er die Hitze der
Sonne, wie sie sein Blut in Wallung brachte; mal sah er sich durch die
feuchte Schattenwelt des Dschungels stapfen, dessen Üppigkeit sich in
seine Seele einbrannte; dann wieder machte ihm jener gewaltige Fluss
zu schaffen, der jene geheimnisvolle Kraft hinter sich hatte, die noch
die kleinsten Teilchen in dieser neuen Welt in Schwung hielt. Lentz
sah aber auch überall den weißen Mann, wie er sich entschlossen das
ganze Land aneignete und mit all jenen eingesessenen "Rappelschwänzen"
aufräumte. Stolz lächelte Lentz angesichts der Aussicht, seine Rasse
könne hier einst alles übernehmen. Die Verachtung für den Kabokler, in
der sich seine ganze Abneigung gegen dessen Schlaffheit, läppisches
Wesen und Saftlosigkeit bündelte, trübte ihm etwas seine überbordende
Bewunderung für die Natur des Landes. Jetzt ginge es um Größe, um Tri-
umph ... Dieses Land würde die Heimat ewiger Recken werden, diese Wäl-
der würden den furchterregenden Kulten der grimmigen, blonden Maiden
geweiht werden ... Das alte Germanien käme wieder zu seinem Recht. In
seinen fiebernden Gedanken malte er es sich aus, dass die Deutschen
kämen, aber nicht als Häuflein demütiger Knechte und Krämer, nicht um
das Land zu bestellen, während der Kabokler "auf der Barranke huckt",
nicht um ein Grundstück zu erbetteln, das dann von Negersoldaten ver-
teidigt wird. Sie würden zuhauf kommen, unzählige Dampfer, Riesen-
schiffe würden sie über das ganze Land ausspeien. Sie würden kommen,
um sich die Erde untertan zu machen, sie, in ihrem unverderbtem Barba-
rentum, in unendlichen Scharen; sie würden mit jenen schlüpfrigen Nar-
ren Schluss machen, die sich hier als einziger Schandfleck in diesem
formvollendeten Stück Erde gebreitet hatten; sie würden sie ausrotten
mit Eisen und Feuer, sich über den Kontinent ergießen und ein neues
Reich errichten, sich auf ewig mittels der mit eisernem Besen be-
herrschten Natur als die Krone der Schöpfung behaupten; und gebiete-
risch, reich, mächtig, ewig würden sie blühen im Frohsinne des Lich-
tes ... Aber in Lentzens Traum zeichnete sich noch etwas ab: Über den
Schiffen des Meeres und des Landes Heeren marschierte hoch zu Himmel
ein gewaltiges schwarzes Etwas voran, das allmählich eine Gestalt an-
nahm, mit riesigen, die Erde musternden Augen, die Land und Mensch un-
beirrbar und unentwirrbar in Beschlag nahmen: Ganz Brasilien über-
schattete, so schaute es Lentz, der schwarze Adler Germaniens ...


                                 -IV-

   Den Morgen darauf begutachteten Milkau und Lentz gleich einmal die
nähere Umgebung. Sie stiegen an den Doce hinunter, der, seines anfäng-
lichen Geschlängels durch die linde Hügellandschaft des traumhaften
Espírito Santo müde, sich hier ruhig in die Weiten des Horizontes er-
goss. Der reichliche Regen der letzten Tage hatte den Fluss ganz schön
anschwellen lassen; dennoch sorgte eine leichte Brise nur für eine
kaum merkliche Kräuslung des Wassers. Das Hochwasser hatte die Ufer
angeknabbert und den Bewuchs mitgenommen; und die jetzt im Wasser ste-
henden Stämme, deren Äste vorher trauerweidengleich das Wasser gierig
hineinzusaugen schienen, versahen nun das übliche Perlgrau des Flusses
mit einem grünen Saume. Die Flut prägte die ganze Landschaft und ließ
alles sonst Bemerkenswerte, den Urwald mit seinen Lichtungen und die
verschwommene Kontur der fernen Berge, in den Hintergrund treten.
   Dichter Dunst aus dem Wasser stieg auf, vereinigte sich mit Nebel
und Wolken und machte selbst der Sonne zu schaffen, die so weit gezü-
gelt wurde, dass Farbtönungen wieder eine Chance hatten. Es herrschte
Waffenstillstand im ewigen Zwiste von Licht und Farbe, und jetzt hat-
te einmal nicht die Sonne die unumschränkte Gewalt mit ihrer sattgel-
ben Einheitsbeleuchtung; und so kam auch einmal wieder die Landschaft
mit ihren Feinheiten zum Zuge, jenseits des heißen Einerleis, in dem
die Dämmerung nur ein flüchtiger Traum ist und die Nacht wie ein her-
unterratternder Rollladen den Tag aussperrt ...  Milkau und Lentz zo-
gen diese Auferstehung des Farblichen unter der sanften Ägide des Ne-
bels begierig in sich hinein und weideten ihre ausgehungerten Augen
an dem wiedergefundenen Paradiese.
   "Über diesen Frieden steht nichts auf", meinte Milkau unterm Ge-
hen, "wenn du dir über dein Leben klar werden willst ... Ich bin so
glücklich, wie ich nie zu werden glaubte. Vergessen können und zu
hoffen wagen, das ist es. Hier, glaube ich, sind wir endlich da ange-
kommen, wo der Menschen Kummer nicht hinreicht; ich sehe keine Spur
von Leiden; alles ist leicht, lächelnd, lieb ... Der Mensch ist dar-
auf angelegt, das Leben zu genießen; darum nimmt er das Erfreuende
ob seiner Selbstverständlichkeit gar nicht mehr wahr, während der
Schmerz ob seines fremden, rüden Wesens ihn aufscheucht wie ein Wir-
belwind ... Und dabei hätten wir doch alle Mittel in uns, mit dem
Schmerz aufzuräumen, wie leicht vergäßen wir ihn; und reicht nicht
schon ein kurzer Moment des Aufatmens, uns immerwährende Ruhe vorzu-
gaukeln?!"
   "Wir sind eben Opfer, Spielzeuge der Natur, die uns mit ihren sü-
ßen Giften, deren Geheimnis nur sie kennt, einlullt, fesselt, um uns
dafür nach Lust und Laune zu piesacken."
   "Aber das Leben ist natürlicher als der Tod", so Milkau, "und Ver-
gnügen naheliegender als Leiden ... Du schreibst der Natur ein Be-
wusstsein zu, das sie nicht hat. Sie ist keine willensbegabte Persön-
lichkeit. Was uns ihr überlegen macht, ist, wie du weißt, dass wir uns
dessen bewusst sind. Wir kennen ihre Gesetze und strikten Regeln, was
uns auferlegt, den Einklang mit allem anderen zu suchen und anzustre-
ben. Gerade hier, in dieser noch nicht von Opfern befleckten Welt, ist
es an uns, uns unserer Ausnahmestellung klar zu werden. Lassen wir
doch die alten Sorgen zurück, wenn wir sie schon nicht ganz ausmerzen
können, und das neue Leben wird sich uns als wahr gewordener Traum
darbieten."
   "Ich sehe es auch so, dass dieses unbefleckte Land alles bietet, um
einen glücklich zu machen; und ich werde hier wohnen und die Stadt der
alten Zeit in Macht und Herrlichkeit neu erstehen sehen, wie sie, nach
einem Zwischenspiel jahrhundertelanger Demütigung, auf dieser großar-
tigen Szenerie wiedergeboren wird ..."
   "Die Hoffnung", meinte Milkau lächelnd, "ergreift und und entrückt
uns in die Zukunft ... Wir SIND doch glücklich, oder?"
   Durch die Überschwemmung war am Fluss entlang nur noch ein schmaler
Streifen begehbar, und so kamen sie nur mühsam voran. Oft ging auf dem
Weg überhaupt nichts mehr, und sie mussten sich irgendwie durch den
Dschungel durchschlagen, oder sie stiegen am Fluss von Stein zu Stein.
Sie lachten noch über diese Turnübungen; nun, es war ja ein wunderba-
rer früher Morgen, und sie waren noch ganz im Banne ihrer Träume. Über
weite Strecken änderte sich an der Umgebung nichts, aber trotzdem wur-
de es nie langweilig, weil die Weite des Wassers allein schon das Herz
erquickte und den Geist wohltuend beflügelte.
   "Heute", sagte Milkau, als sie an einer offenen Stelle am Ufer an-
gekommen waren, "ist es so weit; wir müssen uns auf einen Platz für
unser Haus einigen."
   "Wieso? Was soll daran so schwierig sein? Hier haben wir doch Aus-
wahl in Hülle und Fülle!", ätzte Lentz.
   "Also, ich kann nicht leugnen, dass mich eine gewisse Beunruhigung
erfasst, auch wenn ich es natürlich als Vergnügen empfinde, hier mit
meiner eigener Hände Arbeit mir eine Heimstatt zu schaffen ... Was
mir allerdings auf der Leber liegt, ist, dass hier in dieser Robinson-
Welt der Staat mitmischt ..."
   "Heißt in unserem Falle in Form des Vermessers Felicíssimo ..."
   "Sollte das Land mit allem Drum und Dran nicht eigentlich allen ge-
hören, ohne Veräußerungen, ohne Besitztitel?", gab Milkau zu bedenken.
   "Ich sehe es genau umgekehrt. Ich sehe es so, dass alles handelbar
ist. Begehr schafft Begehr und ist die Grundlage des Besitzstrebens.
Was heute noch Allmende ist, reißt sich morgen der Mensch unter den
Nagel. Du kannst Gift drauf nehmen, dass dereinst selbst die jetzt
noch gemeinfreie Luft gekauft werden muss, in den schwebenden Städten
der Zukunft, wie heute schon das Land. Eroberung, Aneignung ändern
sich in der Form, und so könnten sie sich in der Zukunft darstellen."
   "Schau doch", wandte Milkau ein, "das Eigentum neigt doch dazu, im-
mer gemeinschaftlicher zu werden. Man sieht doch jetzt schon, dass das
Volk danach begehrt, über die öffentlichen Anlagen, die Schlösser und
dergleichen, die Museen, die Straßen hinaus auch über alles Übrige zu
verfügen ... Die Besitzsucht stirbt aus, wenn sie nicht mehr nötig
ist, wenn man nicht mehr mit dem Rücken zur Wand steht, was nämlich
ihr Auslöser war ..."
   "Also, ich", wandte Lentz ein, "wenn ich denn Siedler werden soll-
te, strebte natürlich nach Erweiterung meines Besitzes, holte mir
Hilfskräfte zusammen und schüfe etwas, was auf Vermögen und Prestige
hinausliefe, denn nur Reichtum oder aber Gewalt reißt uns aus der
Knechtschaft heraus."
   "Mein Stücklein vom Kuchen", zeigte sich Milkau sicher, "reicht
mir völlig, und daran wird sich auch nichts ändern. Ich strebe nicht
nach mehr und Höherem, sondern bin und bleibe bescheiden, ein sich
fröhlich Bescheidender, unter einfachen Leuten. Seit unserer Ankunft
fühle ich eine wahre Wonne in mir, und nicht etwa nur durch die Natur,
sondern auch durch das gewisse Etwas an den hiesigen Menschen. Sie al-
le tragen diese unverbildete Freundlichkeit in ihren Gesichtszügen;
Zorn und Hass kommen nicht vor in ihrer Welt. Sie leben nicht nur die
Liebe, sie gehen voll in ihr auf ... Die Landeskinder sind offenherzig
und willig, uns an ihrem Glück teilhaben zu lassen ... Die aus der
Ferne Stammenden haben ihre Bitterkeit abgelegt und zu Ruhe und Glück
gefunden. Niemands Herr und niemands Knecht, hier ist es Wirklichkeit
geworden; der Höhere reitet im besten altgermanischen Sinne nicht auf
seiner Würde herum. Mir dünkt, dass das ganze Land so ist, ein Hort
von Güte, Vergessen und Friede. Sie alle werden zusammenfinden, Zwist
aus Stolz und Habgier war gestern, es herrscht Gerechtigkeit. Groll
und Hass, die einst so viele Opfer forderten, sind auf dem Weg ins
neue Land verraucht. Alle läutern sich, und auch wir sollten unser
selbst und unserer Vorurteile entsagen, um ganz den Anderen in den
Blick zu nehmen und den Frohmut dieses Lebens nicht zu behelligen ..."
   Ein Zuruf von hinten riss sie aus ihren geistigen Streifzügen:
   "Einfach so abhauen? Sagt mal, wo wolltet ihr denn hin?"
   Wie aus höheren Sphären herabgeholt, wandten sie sich um und blick-
ten in das ratlose Dreiecksantlitz des heraneilenden Geometers.
   "Guten Morgen", grüßte Milkau und schüttelte ausgiebig beide von
Felicíssimo ausgestreckten Hände.
   "Da habt ihr mich schön drangekriegt", rief dieser aus. "Also, ich
wache auf, ziehe mich in Windeseile an, möchte ein wenig schwatzen;
und wer ist nicht da? ... meine Freunde!"
   "Wir hätten Euch nicht gerne aus dem Schlaf gerissen, war doch al-
les noch so ruhig. Und völlig vertieft sind wir dann hier gelandet."
   "Aber ich", ließ der Vermesser nicht locker, "hab euch gleich zu
suchen begonnen, hier und dort, und dann habe ich wenigstens gleich
hierher gefunden ... Ihr hattet ja noch nicht mal einen Kaffee, gar
nichts ..."
   "Ach, lassen wir das", begütigte Lentz, "nutzen wir doch lieber die
Zeit, einfach noch etwas weiter umher spazierenzugehen!"
   "Also gut. Schauen wir, dass wir zum Mittagessen wieder an der Ba-
racke sind. Schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe, und schauen
wir uns die Hube an, von der ich gestern gesprochen habe!"
   "Wohin müssten wir denn da?", fragte Milkau.
   "Immer geradeaus."
   Felicíssimo blickte sich kurz um und war sich dann sicher:
   "Hier muss ungefähr das Los Nummer 20 sein. Jetzt geht's noch einen
Kilometer weiter, und dann wären wir bei der Zehn."
   Felicíssimo setzte sich an die Spitze, und die anderen folgten ihm
im Gänsemarsch auf dem schmalen Uferpfad. Teils unterhielten sie sich
laut, riefen einander allerlei zu, doch immer wieder stockte die Ver-
ständigung. Die durch die Wolken brechende Sonne räumte mit der nebli-
gen Morgenstimmung gewaltig auf. Plötzlich in Gelb getaucht, leuchtete
der Fluss gülden auf, als wäre die ganze riesige, glühende Masse der
Sonne geschmolzen und auf die Erde getropft.
   "Müde seid ihr nicht, oder?", rief Felicíssimo.
   "Wieso; sollten wir?", fragte Lentz zurück.
   "Ich meine nur wegen dem Weg, weil wir jetzt im wahrsten Sinne auf
dem Holzweg sind. Wären wir doch oben geblieben ... Verdammt nochmal!"
   Der Landvermesser trat versehentlich ins Wasser und wäre fast nach
vorne hineingeplumpst. Lentz hinter ihm mahnte ihn, doch besser aufzu-
passen. Des Öfteren mussten sie sich unter Ästen und Gesträuch hin-
durcharbeiten oder sie mit der Hand zurückbiegen. Der Vermesser fand
es furchtbar lustig, von Zeit zu Zeit nach hinten zu rufen: "Ast zur
Rechten! Festhalten!" Er ergriff ihn dann, übergab ihm dem Folgenden
und ließ dann los - mitunter allerdings zu früh, sodass er den Hin-
termann wie ein Peitschenhieb am Körper traf oder ihm ins Gesicht
knallte. "He, pass doch auf!", protestierte das Opfer, aber lachend.
So gingen sie bis zu einer Abzweigung nach rechts, die Felicíssimo
einschlug und sich dabei zu den Einwanderern nicht ohne einen tiefen
Atemzug umwandte:
   "Scheibenkleister! Jetzt sitzen wir schön in der Tinte. Nie hätte
ich gedacht, dass der Fluss dermaßen angeschwollen ist. Na gut, biegen
wir hier ab; so kommen wir am schnellsten zum Grundstück." Durch den
Halbschatten des Waldes wanderten sie auf einer kaum begangenen, nur
schlecht geräumten Schneise dahin und umgingen nach Möglichkeit Hin-
dernisse und Pfützen.
   Lentz schwieg; sein Mumm war auf dem Tiefpunkt. "Noch beschwerli-
cher geht's ja kaum", dachte er; "keine Straße, keine Spur von An-
nehmlichkeiten, nur raue Wildnis. Wär's nicht besser, solch ein Sied-
lerleben abzuschreiben und sich lieber doch auf den Handel zu verle-
gen, wo ich mich nur ins gemachte Bett zu legen brauche? Wahrlich, man
muss schon sehr verrückt sein, wenn man unbedingt hier gegen die Wild-
nis ankämpfen will. Ist da nicht jegliches andere Leben besser als ein
solches hier? ..." Und seine Augen wanderten suchend zu Milkau, der
ihm aufmunternd zulächelte.
   "Was für eine entzückende Wildnis!", rief dieser aus, während sie
immer weiter in die dichte Vegetation vordrangen.
   "Schade, dass der Pfad nicht danach ist, dass wir den Spaziergang
richtig genießen könnten", wich Lentz aus, um nur ja seine Mutlosig-
keit nicht offen zu zeigen.
   "Ach, das wird schon! Wir legen überall Wege an, reuten den Grund
und bauen uns eine gemütliche Heimstätte, die uns für alles entschä-
digen wird ... Oder?"
   "An Arbeit herrscht hier kein Mangel", brachte es der Vermesser auf
den Punkt. "Gemeinhin legt der Siedler eher die Hände in den Schoß. Er
baut sich ein Haus, rodet das Land, und das war's. Und dann soll ihm
'der Staat' Straßen, Brücken und sonst was bereitstellen ... Und wehe,
wenn nicht! Dann wird zu Schultz oder sonst wem gelaufen, dann geht's
zum Gouverneur, dann wird's politisch, und wir bekommen eine auf den
Deckel."
   "Ihr habt Euch also mit vielen Unannehmlichkeiten herumzuschlagen,
nicht?", äußerte Milkau sein Mitgefühl.
   "Ach, nichts als Verdruss hat man. Gerade habe ich wieder einen Be-
scheid vom Inspektor an den Ingenieur auf dem Tisch, er solle sich zum
Falle einer völlig morschen Brücke äußern, die die Siedler beanstandet
haben. Einige Balken sollen schon durchgebrochen sein. Wir geben um
Mittel ein, aber wie üblich schert sich der Inspektor einen blauen
Teufel um uns. Die Kolonisten aber sind mit allen Wassern gewaschen
und gehen gleich zum Schmied, nicht zum Schmiedel. Robert setzt mit
ihnen eine Eingabe nach Vitória auf, der Gouverneur tobt, stehen doch
die Wahlen vor der Tür, schiebt den Schwarzen Peter wieder dem In-
spektor zu, und der wiederum drückt dem Ingenieur aufs Auge, die Kos-
ten zu veranschlagen ... Das alles frisst Zeit. Ich könnte mir ins
Fäustchen drob lachen, dass das Geld, so es denn einmal ankommt, hin-
ten und vorne nicht reicht, weil der Zahn der Zeit nicht ruht und die
Brücke unverdrossen weiterrottet - ja, und dann läuft's eben gleich
auf eine neue Brücke hinaus. Dann geht's erst recht wieder los ..."
   "Ja, und wie behelfen sich dann die Anwohner, wenn die Brücke zu-
sammenkracht?", fragte Milkau beunruhigt.
   "Naja, sie werfen fürs Erste einfach einen Baumstamm über den Bach
und wursteln halt so dahin. Ich stehe Euch zu Diensten, aber die ganze
Obrigkeit samt Inspektor kannst du in der Pfeife rauchen ..."
   Der Vermesser konnte schnell giftig werden und sich mit einigen
Kraftausdrücken abreagieren. Gleich darauf war sein Zorn wieder ver-
flogen, und er war so liebenswürdig wie eh und je. Sie folgten der
Schneise noch etwas und bogen dann seitlich auf einen besseren Weg
ein.
   "So, das wäre also das Grundstück, das ich den Herren empfehle",
gab Felicíssimo nach einigen weiteren Schritten bekannt.
   Die Anderen sahen zunächst nur Dickicht, stattliche Bäume und üppi-
ges Grün, was immerhin auf die Fruchtbarkeit des Bodens schließen
ließ. Man blickte ins schiere Nichts; der Pfad war quasi ein Stollen
durch den Urwald, seine Wände Dunkelheit, Finsternis.
   Überwältigt und eingeschüchtert von dieser Abgeschiedenheit fehlten
ihnen zunächst einmal die Worte. "Also, was jetzt?", konnte sich Feli-
cissimo seine angeborene Ungeduld nicht verkneifen. "Was meint ihr?"
   Und weiter: "Ein erstklassiges Los; schaut nur den Boden an ... Was
für Bäume! ... Gut, etwas Arbeit hängt natürlich schon dran. Das Ab-
brennen erledigen wir mit links, aber dann halt, das Aufräumen ... Ihr
könnt euch aber mit den Jungs kurzschließen; die kriegen das hin, dass
ihr so schnell gar nicht schauen könnt ... Ich könnte juchhu schrei-
en!"
   "Ja, das passt schon", war Milkau gleich dabei, als er erst einmal
seinen Anflug von Zagheit abgeschüttelt hatte. 
   "Bin dabei", zog Lentz zögerlich nach, wobei ihm sichtlich nicht
ganz wohl dabei war. Lässig lehnte er sich an eine Sucupira. Der Ver-
messer musterte den Baum:
   "Schade, wirklich traurig, dass das alles weg muss."
   "Also, ich - mir wäre ja ein Los lieber, wo wir nicht vor diesem
Dilemma stünden", zeigte sich Milkau ganz im Sinne des Vermessers.
   "Gibt aber keines", erwiderte Felicíssimo.
   "Der Mensch", merkte Lentz frohlockend an, muss nun einmal Leben
vernichten, um Leben zu schaffen. Und überhaupt, hat etwa der Baum ei-
ne Seele? Und selbst wenn ... Der muss weg, damit wir Luft kriegen."
   Milkau leuchtete die Sache durchaus ein:
   "Ich bin mir wohl bewusst, dass wir heute noch nicht umhin können,
Mutter Erde wehzutun und ihr mit Gewalt unseren Lebensunterhalt abzu-
trotzen; aber der Tag wird kommen, da die menschliche Art in das All,
das große Alles, hineinwächst und auch dessen Langlebigkeit annimmt,
sodass es sich ihr ganz von selbst zu-entwickelt, in völliger Ein-
tracht mit der Umwelt zu leben, wie dies jetzt schon trefflichst die
Pflanzenwelt vorführt; und dann wird die Opferung von Tieren und Ge-
wächsen der Vergangenheit angehören. Jetzt, in der Übergangszeit, müs-
sen wir aber noch in den sauren Apfel beißen ... Schmerzlich fühle ich
den Angriff auf die Erde als Anschlag auf die Grundlage unseres Le-
bens; und mich dauert auch nicht so sehr, was wir stofflich zerstören,
sondern dass unsere Tat das religiöse, unsterbliche Gefüge der mensch-
lichen Seele unwiderruflich in Mitleidenschaft zieht ..."
   Während die Anderen noch so diskutierten, nahm Felicíssimo als un-
verbildeter Naturfreund die alten Bäume in den Blick und tätschelte
wie zur letzten Liebkosung vor der unentrinnbaren Opferung zärtlich
ihre Stämme. Tief aus dem Walde erdrang unter linder Erschütterung des
Laubes die Morgenbrise und schien ein Murmeln der Bäume wie die dumpfe
Klage der Todgeweihten anzustoßen.
   "Und - WAS jetzt?"
   Die beiden Einwanderer gingen willig auf das angebotene Grundstück
ein.
   "Ihr werdet es nicht bereuen, denn erstens ist der Fleck gerade
recht für den Kaffee, und besser als hier, so bequem an der Straße,
könntet ihr es gar nicht haben."
   "Hat man von hier aus auch Sicht auf den Fluss?", wollte Lentz noch
wissen.
   "Logisch; wenn der Wald erst einmal weg ist, habt ihr ihn voll vor
euch liegen."
   "Ein Häuschen gerade hier, das wäre schon traumhaft", ließ sich
Milkau von seinen kühnen Gedanken forttragen.
   "Wie ihr meint ... Aber jetzt schauen wir zum Schuppen zurück, weil
Zeit zum Mittagessen ist. Und heute kommen wir mit der Truppe wieder
her und ziehen die Vermessung durch." Sie machten sich auf den Rück-
weg, wobei jeder mit seinen Gedanken beschäftigt war. Laut schwatzten
sie auf der Straße dahin, schreckten die schlafenden Vögel auf und
scheuchten die Eidechsen aus ihrer wonnigen Ruhe, die sich denn auch
durch das trockene Laub unter musikalischem Rascheln davonmachten.
   An der Baracke angekommen, gingen sie gleich in die Amtsstube, wo
ihnen der Vermesser auf der großen Flurkarte den ausgesuchten Flecken
zeigte und ihn mit Feder und roter Tinte ankreuzte, wie auch schon die
vorher vergebenen, wobei er sich ein Loblied auf ihre Auswahl nicht
verkneifen konnte. Der Grundstücksantrag war ein Vordruck, den Milkau
mit Namen und Angaben zur Person auszufüllen hatte. Nachdem die beiden
unterschrieben hatten, entrichteten sie die Gebühren für Vermessung
und Eintragung, und damit waren die Formalitäten erledigt, da Felicís-
simo von seinem Vorgesetzten mit allen Vollmachten ausgestattet war.
So einfach kann es also gehen, dachte Milkau, wenn das kostspielige
Räderwerk des Staates mit seinem Beamtenapparat sich in EINEM Amtsträ-
gerlein bündelt, das letztlich der absolute Herrscher über das öffent-
liche Vermögen ist.
   "So, und jetzt ran ans Essen; euch muss ja schon ganz schön der Ma-
gen knurren, nachdem ihr so lange nichts in den Ranzen gekriegt habt",
rief Felicíssimo aus und legte Lentz den Arm um die Schulter.
   Sichtlich unangenehm berührt entzog sich Lentz dieser anbiedernden
Geste des Blauen.
   Die Arbeiter saßen alle schon um die frugal gedeckte Tafel herum,
als die Anderen den Saal betraten. Das Essen begann recht lautstark,
da alle kräftigen Appetit mitgebracht hatten und sie die schon gut
eingespielte Gemeinschaft in Stimmung versetzt hatte. Gegen Ende wurde
Felicíssimo immer kleinlauter; und so sehr er die Laus, die ihm über
die Leber gelaufen sein mochte, auch zu verbergen suchte, schaffte er
es nicht und strahlte etwas tief Bedrücktes aus. Dies übertrug sich
auf den ganzen Tisch, was die Unterhaltung ziemlich abwürgte. Kaum war
das Mittagessen vorbei, verdrückte sich die Truppe, die offenkundig
schon solche Kümmerniserscheinungen des Vermessers gewohnt war und
diese als Vorspiel zur Vermessungsarbeit bestens kannte, aus dem
Schuppen, um das trübsalblasende Gesicht ihres Chefs nicht länger an-
schauen zu müssen. Im Hof drängten sie sich um ein Wasserfass, in dem
sie sich die Hände wuschen und dann mit Getöse und prustend auf das
Gesicht übergingen. Das Fass war natürlich viel zu wenig für so viele
Leute, und sie begannen, sich scherzhaft um die besten Plätze zu ran-
geln. Es entstand ein großes Getümmel, bei dem jeder den anderen an-
puffte, einer den anderen, aber gutmütig, wegzuzerren suchte, alles
hin und herraunzte und, ohne zu wissen warum, quiekte und kicherte.
   "Jetzt aber los!", befahl Felicíssimo. Das Kommando war für die
Arbeiter der Startschuss, und Schluss war mit der allgemeinen Wa-
schung. Sie ergriffen ihre Instrumente und Werkzeuge und setzten sich
in Marsch. Felicíssimo machte mit den neuen Siedlern den Letzten. Im-
mer wieder suchte Milkau höflichkeitshalber das Gespräch mit dem Geo-
meter, der sich aber völlig eingeigelt hatte und kaum antwortete. Al-
so blieben sie bei ihrem Schweigen, zumal die selbst im dichten Walde
noch sengende Sonne für stickige Luft sorgte. Nach einem ausgiebigen
Fußmarsch ertönte plötzlich Felicíssimos Befehl: "Halt!"
   Sie standen still wie Zinnsoldaten.
   "Hier setzen wir an."
   Die Arbeiter begannen, ihre Gerätschaften samt Zubehör auszupacken.
Der Herr der Maße folgte ihrem Tun mit religiöser Andacht, und mit ei-
ner gewissen Unruhe sah er ihnen zu, wie sie eine Kiste öffneten, um
daraus ein Instrument hervorzuholen, das er mit fiebrigem Blicke in
die Hand nahm. Er verlangte den Dreifuß, den ihm einer eiligst hin-
schob; und darauf begann der Geodät, darauf das Gerät festzuschrauben.
Alles wirkte höchst feierlich, und der junge Cearenser nahm seine Tä-
tigkeit äußerst ernst. Nach angemessener Zeit setzte er sich mit dem
Ding in Position und schickte drei Arbeiter mit ihren rotweißen Mess-
stangen an der Gasse entlang auf ihren Platz. An Milkau und Lentz ge-
wandt verkündete er feierlich:
   "Ich weiß nicht, ob die Herren so etwas kennen. Das ist ein Theodo-
lit. Eine sagenhafte Erfindung! So viel Arbeit, wie der einem erspart!
Heutzutage legen wir die Vermessung im Nu hin. Bekanntlich geht's ja
darum, dass man den Höhen- und Ebenenwinkel zugleich erfasst ... Wie
gesagt: Eins A! Ohne ihn könnte ich gar nicht mehr leben."
   Die neuen Kolonisten lernten einen neuen Felicíssimo kennen; "ein
Schelm ist, wer dabei lacht." Der Vermesser klemmte sich hinter das
Instrument, guckte durch die Linse, kauerte sich nieder, erhob sich,
um über das Gerät zu äugen, schraubte am Objektiv herum, hin, zurück,
doch irgendetwas schien nicht zu klappen. Schon wurde er ungeduldig,
doch er ließ nicht locker. Dann betrachtete er das Wunderwerk aus ei-
nigen Schritten Entfernung, ging wieder zurück, stellte wieder daran
herum, blickte hindurch, doch so sehr er sich auch bemühte, es half
nichts. Die Arbeiter schwiegen tunlichst, denn sie kannten die Ge-
schichte mit dem Theodoliten bereits in- und auswendig. Felicíssimo,
das wussten sie, wurde dann immer ein anderer Mensch, einer, der seine
Angestellten ausschimpfte und auf sie losging. Jeder fürchtete ihn und
machte instinktiv um das Teufelsgerät einen weiten Bogen, um nicht in
die Schusslinie zu geraten. Und jetzt kam noch dazu, dass er eigent-
lich vor Milkau und Lentz den großen Macher markieren wollte. Die Son-
ne stach hernieder, die Füße brannten auf dem Boden, und schierer kal-
ter Schweiß rann den Körper des Vermessers hinunter und machte ihm zu-
sätzlich zu schaffen. Die Zeit floss dahin, ohne dass mit der Ausmes-
sung etwas vorwärts gegangen wäre, und Felicíssimo schien die Zeit un-
endlich; und er wusste nicht mehr ein noch aus.
   "Also, heute steckt einfach der Teufel drin", entschuldigte er sich
bei seinen Gästen. "Man sieht gar nichts. Ich wette, einer dieser
Blindgänger hat ihn kaputtgemacht." Mit einem vernichtenden Blick
machte er die Truppe nieder, die den Neuen dankbar zublinzelte, hat-
te ihr Beisein sie doch vor einem schlimmeren Ausbruch ihres Chefs
bewahrt. Die Helfer an den Latten waren inzwischen etwas ermüdet und
hatten Mühe, Haltung zu bewahren und die Rotweißstangen gerade zu hal-
ten.
   Felicíssimo stauchte den ersten zusammen:
   "He, du Vollpfosten, ich hab's genau gesehen, dass DU mich am Theo-
doliten drausgebracht hast. Ist der nicht einmal fähig, den Pfosten zu
halten!"
   Der so Amgeschnauzte entschuldigte sich halbherzig; er habe nur
kurz nicht aufgepasst, als er den Vermesser nicht am Messgerät wähnte.
Da war Felicíssimo drauf und dran, richtig aufzugehen, doch die Scham
über sein Versagen hieß ihn besser etwas zurückrudern. Nein, jetzt
sackte er fast in sich zusammen und brachte nur ein Stottern heraus.
Ein letztes Mal versuchte er es mit seinem Instrument, ob nicht doch
etwas zu machen wäre, aber mehr als er selbst als Bild der Traurigkeit
kam nicht heraus. Mitleidig nahm Milkau die Sache in die Hand:
   "Lassen wir's für heute, wo's doch so heiß ist. Morgen ist auch
noch ein Tag ... Wir haben Mittag ziemlich üppig gegessen, waren vor-
her schon ausgiebig unterwegs; da muss der Herr doch müde sein. Wie
wär's mit morgen in der Morgenkühle? Und, wer weiß, etwa ist ja der
Theodolit wirklich beschädigt, und zu Hause könnt Ihr ihn in Ruhe un-
ter die Lupe nehmen."
   "Stimmt, Ihr habt recht. Mit dem Gerät ist etwas faul, ohne Frage
... Aber bevor wir noch einmal Zeit verplempern, warum nehmen wir
nicht einfach das Maßband? Das ist zwar etwas altmodisch und eigent-
lich nicht so mein Ding, aber da nun einmal der Kasten kaputt ist,
bleibt uns nichts anderes übrig."
   "Sag ich auch."
   "Also weg damit!", befahl Felicíssimo einem seiner Männer und deu-
tete voller Widerwillen auf das Instrument.
   Die Arbeiten schauten einander wissend an. Das war also wieder ein-
mal der immer gleiche Zirkus mit dem Theodoliten gewesen. Wie wenn sie
nicht gewusst hätten, dass es der Geometer bei über zweihundert Ver-
messungen nicht geschafft hatte, mit dem verflixten Gebilde umzugehen,
das auf ihn einen satanischen Einfluss ausübte, aus ihm einen ganz An-
deren machte, ihn außer sich brachte und der Grund des Schreckens war,
der ihn seit dem Ende des Mittagessens überschattet hatte. Je tiefer
allerdings das Gerät in den Kasten getaucht war, verzogen sich auch
Felicíssimos Angstzustände, und seine leutselige Art gewann wieder die
Oberhand und ließ seine wissenschaftlichen Martern vergessen.
   "Diese Mulatten ...", wisperte Lentz Milkau verstohlen zu.
   Und als der Vermesser, jetzt ohne jenen Stein auf dem Herzen, auf
die Deutschen zukam, übernahm Lentz das Kommando:
   "Stillgestanden! - An die Bänder!"
   Die Vermessung lief wie üblich. Die Maßnahme begann an der Gasse
auf der Vorderseite und zog sich in den Dschungel hinein, und mit
Pfosten an den vier Ecken der künftigen Hube wurde der Besitz der bei-
den Einwanderer abgesteckt. Noch aber waren die Grundstücksgrenzen
nicht geräumt, wie es Vorschrift war. Da wandte sich Milkau an Feli-
císsimo, ob er mit den Leuten reden könne, dass sie dies auch gleich
miterledigten. Der Vermesser wandte ein, dass zuerst der Grundriss
stehen müsse.
   "Daran soll's nicht hapern", beruhigte ihn Milkau; "die Endpunkte
sind ja jetzt klar, und so genau wie jetzt gemessen worden ist, dürf-
ten wir mit den Schneisen nicht ganz falsch liegen. Und überhaupt
übernehmen wir die Kosten, sollte die March noch nachzuarbeiten sein."
   Der Vermesser war gleich zu Diensten und ließ ihn gewähren, und
Milkau schloss sich mit den Männern kurz. Sogleich machten sie sich an
die Reutung, beginnend mit kleineren Sträuchern und zunächst unter Um-
gehung der großen Bäume. Diese Hundsarbeit würde noch früh genug auf
sie zukommen. Die Gasse geriet zunächst noch etwas eng und ungelenk.
Als sie sich aber ihr Werk betrachteten, legten sie auch angesichts
der beiden Neuen ihre gewohnte Trägheit ab, machten richtig Dampf und
stürzten sich geradezu auf die Rodungsarbeit. Die Axt sang sich in das
Mark der Bäume, und gleich zu mehreren gingen sie auf einen einzelnen
Baum los, den armen. Nicht mehr nur Arbeitswut, nein, schiere Zerstö-
rungswut hatte sie übermannt, und binnen Kürzestem hatten sie ob ihres
Werkes die Welt ringsum vergessen. Der Stahl in ihren nimmermüden Ar-
men schwang in harmonischem Takte. Das unaufhörlich fallende Beil
spaltete zischend die Luft und entlockte der muskulösen Brust der Ver-
wüster ein zufriedenen Grunzen. Kamen sie an einen Baum, der zu hin-
haltendem Widerstande entschlossen schien, verdoppelte sich ihr In-
grimm. Schweiß rann in Strömen, der Hieb musste sitzen; und so tief
drang mitunter das tobsüchtige Eisen ins Holz, dass es einer verzwei-
felte Anstrengung bedurfte, um es aus seinem Würgegriffe zu befreien.
Immer weiter voran ging es, und allmählich fanden sie zu ihrer gewohn-
ten Routine. Die Mühe tat den Muskelpaketen richtig gut, und Frohsinn
ergriff Besitz von ihren aufgewühlten Gesichtern. Vorbei das Ächzen,
das ihre anfänglichen Schläge begleitete; jetzt waren sie in ihrem
Element, heiter und wohlgestimmt, und ihren kunstlosen Mäulern ent-
strömten ihre alten Lieblingslieder. Joca war der Erste mit seiner
Darbietung. Die Deutschen wollten nicht nachstehen, und jeder steuerte
in seiner Muttersprache bei, was er von seiner Kindheit her musika-
lisch zu bieten hatte. Des Maranhenser Mulatten Gesang zeugte von Weh-
mut und Heimweh und gab seinen verborgensten Gefühlen Ausdruck, etwa
wie in einem langgezogenen Seufzen:

  "Lebt wohl, ihr Felder und ihr Wälder,
   geliebtes Elternhaus, ade!
   Auch wenn ich jetzt von euch muss scheiden,
   gewiss ich euch einst wieder seh."

   Seine Heimat aufzugeben, war Jocas Lebensdrama, das er nie verwin-
den konnte. Er besang es, ohne auf die Mitwelt zu achten, wobei er die
Axt wie ein Hammerwerk in die Bäume sinken ließ. Dann und wann verließ
ihn seine Schwermut, und seinen Lippen enthuschten ganz andere Verse:

  "Ich sah den Abdruck deines Fußes
   im Sand, was mir zu denken gab,
   gedachte deines Leibes Wonnen,
   wenn schon die Spur die Seele labt."

   In fein ziselierter Gestalt schüttete Joca sein Herz aus und gab
doch seiner geradezu animalischen Wollust ungedämpft Ausdruck. Melodie
und Worte atmeten gleichermaßen die überschäumende, himmelhoch jauch-
zende Mentalität, die seiner Rasse eigen ist.
   Dieser einsamen Stimme Brasiliens gesellten sich die kraftvollen
Bässe aus deutschem Munde hinzu. Sie sangen im Chore, und ihre Verse
ließen Wirtshausgesänge aus germanischen Landen widerhallen. Einen Au-
genblick lang redeten sich die Einwanderer hier, mitten im Urwald in
den Tropen, mit ihren Liedern ein, sie säßen irgendwo in der alten Hei-
mat in der Kneipe lautstark und in aller Gemütlichkeit beisammen: "Die
alten Deutschen trinken noch ein, noch ein ..." Die Rodung nahm in al-
ler Fröhlichkeit wieder Fahrt auf. Das Echo aus dem Urwald hatte alle
Mühe, die sonderbaren Verse der beiden Rassen zu scheiden, und so fan-
den sie in der Luft zu einer wunderlichen Gemeinschaft zusammen:

  "... die Seele labt."
  "... noch, noch ein ..."

   Milkau verblieb noch einige Tage in der Einwandererunterkunft, ließ
wonnetrunken die Zeit verstreichen und konnte sich nicht aufraffen,
sein seit Langem erträumtes Leben anzutreten.
   Ihn plagten Skrupel ob der Opferung des Urwalds, sie trieben ihn um
und lähmten seine Tatkraft. Er fühlte, ein Stück Schönheit und Pracht
von Mutter Erde würde dahinscheiden. In ihm liefen alle Leiden wieder
ab, die der Mensch über die Welt gebracht hatte, indem er sein Ohr dem
Stöhnen des weiten Meeres verschloss, der Klage des Waldes in Flammen,
dem Erschauern der zerwirbelten Luft, indem er allenthalben in den
Stiefeln des Sensenmannes alles niedermachte, was ihm in den Weg kam.
Damit nicht genug: Was ist mit seinem Heimatland, der geliebten Frau,
ja, selbst dem Staub, in den er tritt? ALLES lebt, hat eine Stimme,
eine Seele im ewigen großen Ganzen ... Dennoch gewährte Milkau dem
Menschen Vergebung. Er wusste um die Unentrinnbarkeit dessen Schick-
sals und unterwarf sich schließlich den Sachzwängen.
   In der Morgendämmerung kam er auf Lentz zu teilte ihm kurz und bün-
dig mit:
   "Wir brennen den Wald ab."
   Das Wort "brennen" hatte Lentz sofort entflammt. Kurz darauf mar-
schierten die Männer andächtig, wie eine Prozession von Opferpries-
tern, auf den Urwald los, als käme es ihnen zu, dort ihr höllisches
Ritual abzuhalten. An einer Ecke legten sie Feuer am Buschwerk, wo es
ihnen dürr genug erschien. Noch ehe die Lohe blutrot emporzüngelte,
entstiegen dem Unterholze dicke Rauchschwaden, bissen sich an der lin-
den Waldesluft fest und waberten schließlich, einer Gewitterwolke
gleich, auf das Hauptgeräumte zu. Es war so weit. Die Flammen stiegen
auf und leckten mit teuflischer Gier an den Stämmen, die sich voller
Schmerzen wanden und verkrampften. Das Unterholz stand in hellster
Brunst, und die Schlingpflanzen leiteten, einer Zündschnur gleich, den
Brand bis in die Kronen. Der Qualm als Vorhut überrollte die Pfade wie
eine Lawine und brachte in seinem Schlepptau das Hauptheer des Flam-
menmeeres mit sich. Bäume hatten Feuer gefangen wie Riesenfackeln und
gaben in einer gigantischen wechselseitigen Umarmung den Stab des Ver-
derbens rundherum weiter. Der Wind pfiff in die entstandenen Lücken
und wirkte wie ein ungeheurer Blasebalg. Schwere fallende Äste, bers-
tende saftige Stämme und schmelzendes, knarzendes Harz führten ein
verzweifeltes Konzert knatternden Gewehrfeuers auf. Die Männer blick-
ten einander angesichts der Wehklage der Opfer verdattert an. Schon
schickten sich schlangengleiche Feuerszungen an, auf sie zuzugreifen.
Im Antlitze der auf sie zumarschierenden Kolonnen wichen sie zurück.
Aufgeschreckte Vögel suchten hoch über den Kronen das Weite, im ver-
zweifelten Versuche, über das Rauchmeer hinauszutauchen. Eine Araponga
erschütterte die Luft mit ihrem metallischen, herzzerreißenden Schrei.
Die Baumnester fingen Feuer, und ein klägliches Piepsen der Vögelchen
gesellte sich dem allgemeinen Chore zu. Über die Geräumte versuchten
die vom Brande ereilten Tiere zu entkommen. Die einen schafften es,
andere fielen dem Inferno zum Opfer.
   In einem wahren Freudentaumel sahen die Männer das Blattwerk er-
gilben, das Fleisch, und die hochragenden, massiven Stämme zerbersten,
das Knochengerüst des Ungeheuers. Aber das Feuer stürmte bedrohlich
auf sie zu und versalzte ihnen die Suppe. Überrascht, verblüfft däm-
merte es ihnen, dass ihnen die unheimliche Verwüstung ans Leben ging
und ihr Waldstück voll im Griff hatte und darüber hinaus auszugreifen
drohte. Wild entschlossen griffen sie zur Hacke und begannen einen
Graben anzulegen. Auf der Uferseite war es noch ziemlich leicht, weil
das Gelände bereits geräumt war. Dort hoben sie in Windeseile einen
Sperrgraben aus. An den anderen Seiten aber, an den Marchen inmitten
des Dschungels, wurde es ein schrecklicher Kampf. Die schiere Angst
verhundertfachte ihre Kräfte. Die Menschlein, die es nicht mit den
Bäumen hatten aufnehmen können und deshalb aufs Feuer zurückgegriffen
hatten, warfen sich nun in nackter Notwehr gegen das Holz mit dem Un-
gestüm eines Rübezahl. Angesengt, verrußt gruben sie die Reutgasse
entlang; und wenn ihnen ein Baum im Wege stand, behackten sie ihn mit
äußerster Inbrunst. Sie gruben und hieben, bis das Feuer sie erreich-
te. Der flammende Lindwurm näherte sich feierlich, begierig, seinen
Appetit zu stillen. Nach wie vor fielen Äste auf den verkohlten, glut-
heißen Boden herunter. Alsbald wurde auch ein Bambusdickicht vom Brand
erfasst. Es hörte sich wie eine wilde Schießerei an, als die Taboca-
Rohre in den Flammen zerbarsten. Der Rauch blähte sich hinauf in die
brandrote Luft, das Knallen verstärkte sich immer weiter, die Lohe
züngelte, während die Brunst das Bambusgehölz in ihrer fürchterlichen
Weise umarmte. Hundert Meter weiter waren die Kolonisten immer noch
am Ausheben. Des unbekömmlichen Bambusses überdrüssig, suchte sich das
Feuer leichtere Kost und eilte leichtfüßig, verschlingwütig geradewegs
aufs Ufergebüsch zu, bis ihm der Schanzgraben Einhalt gebot. Unter
Einsatz all ihrer Kräfte waren die Männer inzwischen gewaltig vorge-
rückt. Die Flammen beschauten sich die neue, unüberwindliche Hürde und
entschlossen sich, lieber nach links und rechts in gewohnter Manier
weiterzuschwelgen.
   Die todmüden Kolonisten und Arbeiter kehrten im Bewusstsein nach
Hause zurück, nicht nur ein Ungemach gemeistert zu haben, sondern in
ihrem Opferdienste unbezwingbar zu sein.
   Nachts, auf der Veranda des Schuppens, als die Sterne den Himmel
in ihrer gemächlichen Gangart zu durchstreifen schienen, malte sich
Milkau jene jeglicher Gewalt entblößte künftige Welt aus, wogegen die
Anderen in teuflischer Befriedigung den glühenden Wald im Blicke hat-
ten, wie er sich im Todeskampfe der Feuersbrunst zu entwinden suchte.


                                 -V-

   Milkau war vor Glück ganz aus dem Häuschen. Er hatte seine Rastlo-
sigkeit bezwungen, die Makel des Stolzes, Herrschaftsgeistes und Hö-
herstrebens durch Streben nach Höherem ersetzt und der Schlichtheit
des Herzens weiten Raum eröffnet. In Ruhe und Demut beackerte er sein
Stücklein Land. Seine bescheidene Heimstätte in der Stille der Wälder
unterschied sich kaum von der anderer Kolonisten, und in ihr fand sich
nichts, was auf feinere Lebensart oder das Bedürfnis nach etwas Be-
quemlichkeit hingewiesen hätte. Das bäurische Einerlei wurde aller-
dings durch Milkaus Schlafgemach aufgebrochen, ein wahre Kapelle der
Liebe, Verehrung und Wehmut, ein Bilderbuch der aus dem Jenseits über
einen Menschen während seiner irdischen Pilgerschaft Wachenden. Foto-
grafien von der Familie waren dabei, die Mutter, noch jugendlich, mit
ihren großen, hilfeheischenden Augen, der Vater, zwar lächelnd, aber
wie es nur ein Märtyrer zuwegebringt, und jene Frau, eher noch Mäd-
chen, seine große Liebe, bis sie ihm vor den Augen wegstarb, für ihn
aber verklärt entrückt wurde. Die meisten Bilder stellten große Ge-
stalten dar, Dichter, Liebende, Leidende. Mit diesen fühlte sich Mil-
kau engstens, fast religiös, verinnigt und schöpfte daraus nimmer en-
denden Frohsinn, Arznei gegen die Leere der Abgeschiedenheit. Er fühl-
te sich unter einem Schutzschirme der Hoffnung und der Ergebung, der,
der Liebe und Erinnerung entflossen, ihn unbezwingbar machte wie die
Rüstung den Ritter. Fürbass würde ihm das Leben einer glorreichen Auf-
erstehung gleich zulächeln. Die Arbeit im Schweiße des Angesichtes be-
glaubigte ihm die Würde seines Menschseins. Jetzt STAND sie im Mittel-
punkt seines Interesses, die Umwelt, die Mitwelt, der er sich aus vol-
lem Gemüte, in den Adelsstand des Glückes erhoben, zuwenden würde, er-
hoben nicht aufgrund von Getanem, sondern kraft seines künftigen Han-
delns.
   Milkau wandte sich denn auch sogleich der Siedlergesellschaft am
Doce zu. Es behagte ihm, Teil dieses erdverbundenen Völkchens zu sein,
das ihn vorbehaltlos annahm und ihn aufgrund seines Köpfchens und sei-
ner netten Art schätzen lernte. Milkau ritt nicht auf seinem geistigen
Niveau herum und war jederzeit bereit, von den eingefuchsten Altsied-
lern jegliche Ratschläge zur Landwirtschaft zu beherzigen. Diese Of-
fenheit ohne Bildungsdünkel kam bei den Bauern gut an; und wo immer er
erschien, traten sie ihm wohlgefällig und achtungsvoll gegenüber. So
blieb es nicht aus, dass sich Milkau als DIE Bezugsperson der Gegend
herausschälte. Wie von allein ergab es sich, dass sich die Siedler un-
bewusst so manche Scheibe von ihm abschnitten, so wie die Erde unmerk-
lich die feinen Tropfen des Taues schluckt, bis sie satt ist.
   Anders als sein Gefährte nahm Lentz nie richtig Fahrt auf und übte
sich im Trübsalblasen. Das Leben, in das er sich hineinbugsiert hatte,
war weit unter seiner Würde. Er konnte es nicht haben, so zu leben,
wie es seinen Idealen diametral widersprach. Dennoch brachte er es
nicht fertig, Milkau zu verlassen, so sympathisch wie er ihm war und
wie er seinen, Lentzens, Geist auf Trab hielt. Sein schwacher Charak-
ter biss sich mit der Kühnheit des Träumers, und seine Grundgütigkeit
stellte seinen hochfliegenden, grundbösen Plänen ein Bein. So hielt
er sich unwillentlich selber in Schach und schlich im freilich ange-
nehmen Schatten Milkaus umher.  ER, Schöpfer des Gewaltigen, Herold
des Tatendranges, wäre jetzt ein Widerspruch seiner selbst, ein ein-
faches Menschlein?
   Um sich von derlei quälenden Überlegungen freizuschwimmen, über-
nahm Lentz Botengänge und Besorgungen und freute sich wie der Schnee-
könig, wenn er einsam die Ruhe der Berge durchschritt und sich dabei
sein künftiges Leben zurechtträumen konnte. Dann wieder ging er auf
die Jagd, was ihn ebenso zunächst anstrengte wie ihm half, hernach
wieder herunterzukommen. Und bei solchen Gelegenheiten lief ihm mit-
unter jener Nachbar über den Weg, der den Mund nicht aufbrachte, der,
den sie am Abend ihrer Ankunft vor der Baracke gesehen hatten. Ohne je
einen Ton von sich zu geben, ging der alte, aber kräftige, drahtige
urtümliche Deutsche seiner Wege, und nie ohne seine "wilde Jagd", die
um ihn herum oder ihm voraus hüpfte und mit hängenden Ohren den Boden
abspürte.
   Eines Nachmittags kam Lentz von Santa Teresa mit der Nachricht zu-
rück, dass tags darauf in Jequitibá ein Fest steigen würde, und zwar
hielte der neue Pastor seinen Einstandsgottesdienst im Beisein seiner
Amtsbrüder aus Altona und Luxemburgo. In Santa Teresa und den Siedler-
häusern, an denen Lentz vorbeikam, bereitete sich schon alles auf die-
se willkommene Abwechslung vor. Für Milkau, der es nun einmal mit sich
abgemacht hatte, ganz in seiner neuen Heimat aufzugehen, gab's nur ei-
nes: "Da müssen wir hin!". Frühmorgens brachen denn auch die beiden
Freunde auf und nahmen die Straße, die ins Gebirge führte.
   Selten hatte eine Landschaft auf Milkau einen solchen Eindruck ge-
macht wie diese Hochflächen. Ganz versunken in seinen Aufstieg war er;
zugleich erklomm auch seine Seele die stillen, ruhigen, weiten Gefilde
des Unendlichen. Unter dem kristallklaren Himmel der Morgendämmerung
schien die Erde aus sich selbst aufzugehen und in einem gewaltigen,
gleichsam verzweifelten Kraftakte dem blauen Dache zuzustreben. Von
schwindliger Erregung geleitet, hießen Milkaus mystische Anlagen ihn,
es ihr nachzutun, die Ewigkeit zu erhaschen und im Entgrenzten aufzu-
gehen.
   Als sie sich Jequitibá näherten, war die ganze Straße erfüllt mit
einer wahren Prozession von Kolonistenfamilien und -gruppen, zu Fuß
wie zu Pferd. Alle schienen bester Laune, wozu die Morgenkühle ebenso
beitrug wie die Aussicht auf einen geselligen Tag, hatte es doch seit
Monaten keinen Gottesdienst gegeben, weswegen auch die Siedler nie zu-
sammengekommen waren. Sie begrüßten einander überschwänglich, als sä-
hen sie sich das erste Mal. Einige galoppierten heran und rissen die
anderen mit, die sich denn auch auf der Straße ein lusterfülltes Ren-
nen lieferten. Je näher sie der Kirche kamen, desto dichter wurde die
Menschenmenge. Mitunter mussten sie ihre Gangart mäßigen, um sich
nicht im Gewimmel zu verhaspeln, und fanden schließlich zu einer an-
gemessenen Marschordnung. Nach einigen Stunden Wanderung, nachdem sich
ihnen zuletzt noch ein Schleichweg durch den Dschungel geboten hatte,
enthüllte sich ihnen die Jequitibaenser Kirche.
   Sie lag genau vor ihren Augen, denen jetzt all jene Hügel und Hü-
gelchen zu Füßen lagen, die, in güldenes Licht getaucht, den sanften
Wellungen eines friedlichen Meeres glichen. Von Weitem hatte man den
Eindruck, eine Welt von Zwergen hätte sich angeschickt, den Kirchberg
zu ersteigen. Wo die Leute nur alle herkamen, schien ein Rätsel, gera-
dezu als sprudelten sie aus der Erde hervor. Aus dieser Entfernung
wähnte man das umwuselte, umwogte weiße Gotteshaus als die betulich
abgeschleppte Beute eines Ameisenhaufens.
   Alsbald erreichten sie den Fuß des Buckels und stiegen auf unregel-
mäßig in den Boden eingelassenen Holzstufen, den anderen Kirchgängern
nach, hinauf, wo sich hinter dem Kirchlein auch der Pfarrhof befand.
Dabei blickten sie zurück und sahen Reiter ankamen, wie sie abstiegen,
die Tiere anpflockten und sie fütterten. Der Kirchplatz selbst war
eben, und dort herrschte dichtes Gedränge, EIN Schubsen und Stoßen.
Getratsche und Geplärre tränkten die Luft und pfiffen in Milkaus und
Lentzens Ohren, die die Geruhsamkeit und Stille der Abgeschiedenheit
schätzen gelernt hatten. Doch alsbald hatten sie sich auf den Lärm
eingestellt und fanden Vergnügen daran, bis die Kapelle öffnen würde,
die Leute zu mustern.
   Es war ein Querschnitt der ganzen hiesigen Siedlergesellschaft.
Manche waren seit dreißig Jahren ansässig, mit wettergegerbten Gesich-
tern; andere waren jung, das blühende Leben. Sie hatten ihr bestes Ge-
wand hervorgeholt, sollte heißen, ein Sammelsurium von in religiöser
Inbrunst bewahrter Kleidung, die jeglicher Mode standhalten würde. Je-
de Frau war so aufgeputzt, wie es zur Zeit ihrer Auswanderung gängig
war. Lange Röcke mit kurzen Schößen und Rüschen, enge Mieder, Reifrö-
cke, Spitzen, strenge Kostüme, Seidenhauben, schlichte weiße Kopftü-
cher, Samtkappen, Bauerntrachten, Bürgergewänder, sie alle kamen wie-
der zu Ehren im Gebirge Espírito Santos, wie in einer zeitübergreifen-
den Modenschau oder auch einem wunderlichen Maskenball.
   "Das allein schon ist es wert, dass wir gekommen sind", scherzte
Lentz; "wer sich auskennte, könnte abschätzen, wer wann eingewandert
ist."
   "In der Tat", stimmte Milkau dem zu, was sein Freund an den ver-
schiedenen Kleidungsstilen beobachtet hatte, "aber auch diese Fröh-
lichkeit versetzt einen in helle Bewunderung ..."
   "Sogar noch bei den Alten ..."
   "Der Alten Frohsinn ist ein Lebenssinn."
   Zusammen mit dem Aroma der Natur trug der Duft der Blumen im Haar
der Mädchen und der lange in der Truhe aufbewahrten Sonntagsgewänder
dazu bei, den strengen Geruch der zusammengeströmten Menge zu mildern,
die weiterhin fröhlich durcheinanderquasselte. Milkau blickte etwas
umher und entdeckte von Weitem Felicíssimo, Joca und die Vermessungs-
helfer, die schon vor einiger Zeit das Doce-Gebiet abgeschlossen hat-
ten und jetzt anderswo beschäftigt waren. Der Geometer hatte eine Nel-
ke im Revers, und aus der Joppentasche ragte ein sauber gefaltetes Ta-
schentuch. Er grüßte aus der Ferne, indem er den Hut lupfte und ihnen
ein Lächeln seiner schadhaften Zähne schenkte.
   "Nun gut", meinte Lentz halblaut nach einiger Zeit, "gesehen haben
wir's jetzt eigentlich. Heiß wird es auch. Was scheren wir uns um den
Gottesdienst? Schlagen wir uns doch in die Berge oder legen wir uns
unter einen schattigen Baum, und danach können wir uns immer noch an-
schauen, was die Leute danach so machen."
   "Nein, wennschon - dennschon. Wir bleiben und tun mit diesen netten
Leuten mit. Sagen wir's so: Wir ergötzen uns an ihrer Ergötzung."
   "Aber, jetzt mal ganz ehrlich, könnten sich die nicht auch anders
belustigen? Dieser Kirchenkram ..."
   "Diese Religion ist so achtenswert wie jede andere."
   "Es kommt schon noch die Zeit, da man nicht nur seine Ahnen in die
Kiste legt, sondern auch die Kiste, die sie uns aufs Auge gedrückt ha-
ben. Alles vergessen, und man lebt ohne diese ewige Furcht."
   Milkau nahm den Freund scharf in den Blick. Er schwieg, unschlüs-
sig, ob er überhaupt antworten solle. Schließlich sagte er:
   "Das Religiöse entspringt aus des Menschen Innersten. Wollte man es
ausrotten, müsste sich der Mensch All und Leben erklären können. Und
wenn wir mit unserem Wissen auch noch so weit kommen, entschlüsselt es
noch lange nicht alle Wunder der Welt. Die Wissenschaft schreitet in
uns ähnlich fort, wie wir durch die Wüste schreiten: Da meint man, man
sähe das Ziel am Horizont, und dann ist es doch nur wieder eine Fata
Morgana. Und weiter geht's, immer noch weiter ... Und hier springt der
Glaube ein, wie er auch sei, an einen Gott, an das große Etwas; und so
ist der Mensch losgelöst von Religion auch nicht denkbar. In ihr
drückt sich unser unsterbliches Gemüt aus, unser ewiges Staunen in An-
gesichte des Alls, unsere überbordende Liebe, kurz, eine immerwähren-
de heilsame, überirdische Macht."
   Vor ihnen, an der Hangkante, ritten drei Männer heran und gaben ih-
ren heraufkeuchenden Pferden kräftig die Sporen. Als sie abstiegen,
stellte Milkau fest, dass sie die am besten Gekleideten aller waren.
Der Älteste war großköpfig mit einem kräftigen Bauchansatz, ließ sich
Koteletten stehen und trug ein dunkles Monokel. Der Zweite, ein noch
recht junger, war dunkelhaarig und bartlos, während des Dritten, von 
einem Ansatz rötlichen Bartes gezierten, helles Gesicht einen Hauch
abgespannter Melancholie ausstrahlte. Lentz drückte die Neugier, wer
sie nur seien. Einer der Danebenstehenden erklärte ihm, es handle sich
um die Obrigkeit aus Port, dem Gemeindesitz.
   Genau gesagt waren sie das Dreigestirn der Bezirksrichter. Wer sie
unter die Lupe nahm, merkte gleich, dass sie sich als etwas Gehobene-
res fühlten. Sie sahen auf die Kolonisten als namenlosen Haufen Unter-
tanen herab, und der Monokel-Alte nahm steif, unbewegt die Grüße des
Volkes entgegen. Zwei oder drei Männer aus der Stadt drängten sich
durch den Haufen und schmeichelten sich an die hohen Herren heran; an-
dere weiter weg grüßten ebenfalls recht auffällig, um sich lieb Kind
zu machen. Und so setzte sich die Welle des Begrüßungsdranges, ob aus
Nachahmungstrieb oder wirklicher Höflichkeit der unverbildeten Sied-
ler, fort und mündete in ein Meer des Köpfenickens in Richtung der
Amtspersonen, die selbiges herablassend zur Kenntnis nahmen.
   Die Sonne stieg, die Hitze auch, und so auch die Ungeduld der Kir-
chenbesucher. Alle starrten auf die verschlossenen Tore und murrten
über die Unsitte, sie so lange heraußen warten zu lassen. Die Männer
nahmen den Hut ab wischten sich den Schweiß von der Stirn, und viele
bedeckten den Kopf mit einem Taschentuch. Die Mädchen banden sich ihre
um den Hals, während sich ältere Frauen mit den Röcken anfächelten.
Man stöhnte unter der Hitze und murrte ungeduldig. Manche drückten
sich in den spärlichen Schatten an den Wänden; eine Reihe Leute ver-
suchte sich unter einem kläglichen Busche vor der Sonne zu schützen;
die Tiere schnaubten, schlugen mit dem Schwanz um sich und taten sich
an ihrer Ration Mais gütlich.
   Die Menge drängte sich langsam, aber sicher an die Tore, fast als
wollte sie sie aufbrechen. Doch dann stockte sie und quetschte hin und
her, als wollte jeder dem anderen die Hitze zuschieben. Endlich ging
die Türe auf, und die lichtgedämpfte, kühle Kapelle wurde wie von ei-
ner Invasion überrollt. Milkau und Lentz ergatterten einen Bankplatz
und musterten in aller Ruhe die Schlichtheit des Raumes, die sich mit
dem Erscheinungsbild von außen deckte. Es fand sich keine Spur von
Kunst, an den getünchten Wänden befanden sich Bibelverse, in der Mitte
thronte eine Kanzel aus rohem Holz, an dem weiße Bänder mit schwarzer
Schrift ebenfalls Religiöses kundtaten, und schließlich und endlich
stand vorne ein großes, schwarzes Kreuz, von dem ein weißes Schweiß-
tuch hing.
   "Trist, kahl, wie immer bei denen", raunte Lentz dem Kameraden zu.
"Der Protestant hat mit Zierrat und Kunst nichts am Hut; da lobe ich
mir eine katholische Kirche mit ihrem Gepränge und ihren Zeremonien,
die wiederum für ein Mysterium stehen."
   Milkau nickte ihm zustimmend zu. Getratscht wurde rundherum, aber
nur flüsternd.
   "Hast du ihn noch nicht gesehen?", fragte irgendwo eine Alte und
bezog sich auf den neuen Pastor.
   "Nein", antwortete eine andere. "Ich bin zwar schon ewig und drei
Tage hier. Und du schon; wo wär das denn gewesen?"
   "In Jakob Müllers Laden, noch nicht lange her. Er scheint mir ganz
nett zu sein."
   "Muss er wohl auch; schließlich erwartet er ja, dass wir ihn bezah-
len."
   "Da bleibt uns auch nichts anderes übrig. Noch dazu hat ihn uns ja
Robert auf unseren Wunsch hin herbeigebracht. Wie er auch sein mag,
wir müssen mit ihm klarkommen."
   Nach der anfänglichen Erquickungsphase in der kühlen Kirche regte
sich verhaltene Ungeduld, die sich in Gähnen und gelangweilten Bewe-
gungen Luft machte. Dann aber brachte das plötzlich einsetzende Harmo-
nium die Gemeinde zum Verstummen. In andächtigem Schweigen folgte sie
dem Instrumente mit seinen Solos, in seinem Säuseln etwa zwischen Kla-
vier und Flöte, um dann mit einem vielstimmigen, gewaltigen Chore
nachzuziehen. Die Musik war eingängig und traf den Nerv der Gemeinde.
Milkau ging sie durch Mark und Bein. Die Weise rüttelte seine Seele
derart auf, dass diese vermochte, noch die tiefsten Geheimnisse der
Töne und Akkorde zu erhaschen und so über sich selbst hinauszuwachsen,
dass sie ihr eigenes Ich verlor und in den Gipfel betörendster Genüs-
se hinüberleitete. Musik! ... Welch erhabene Sinneseindrücke sich
nicht in ihr ballen seit den Seelen unserer Vorvorderen, welch Ströme
von Blut sind nicht von Vater zu Sohn geflossen, über Aber-Geschlech-
ter, immer darauf bedacht, von der kleinsten Zelle an schmerzhaft und
langwierig die Welt der Nerven so weit aufzurüsten, dass sich zu guter
Letzt im Menschen die noch ausstehende Seele bildete, nämlich die mu-
sikalische! ... Und während über ihm die Orgel ihr Lied ertönen ließ,
ließ sich Milkau, von seiner Sehnsucht geleitet und den Harmonien ge-
tragen, in sein altes Leben zurückversetzen. In einer Kirche in Hei-
delberg war's, lange her ... Die Augen noch immer geschlossen, ver-
schwammen Traum und Wirklichkeit. Alles verschmolz, alles war wunder-
lich ... Er sieht eine Frauengestalt, die in den stillen Schatten ein-
tritt und sich unauffällig setzt. Ihre Augen haften an der Bibel, und
über selbige fließt ihr Haar wie ein goldener Regen hinunter, wie Se-
gen und Licht vom Himmel, die das heilige Buch erhellen. Musik auch
damals in Heidelberg: Musik aus einer anderen Welt, wie von Engeln,
erfüllt die Kirche. Musik! Es singt die Frau, die er, Milkau, liebt.
Traum inmitten eines Traumes, in der Weltenlust eines Tempels; während
sie andächtig, versunken, innig Hymnen rezitiert, schreibt er unter
dem Banne der Weisen fromme Gedichte, denn Schreiben heißt Singen mit
der Feder ... Musik!
   Die Orgel hatte ihr Stück beendet. Milkau war eingenickt, und es
riss ihn auf. Seine etwas überraschten Augen fielen auf eine junge
Frau, die ihm offenbar belustigt beim Schlafen zugeschaut hatte. Mil-
kau war aus dem Konzept ... War das jetzt immer noch der Traum, oder
saß da die Frau aus seinem Traume leibhaftig neben ihm? Dieses Ge-
sichtlein mit denselben sanften Zügen, diesem lieblichen, kindhaften
Lockenkopf, ja, das konnte er doch nicht von einem anderen Leben her
kennen? Sie musterte ihn unbefangen. Als sie merkte, dass er auch sie
im Auge hatte, wandte sie sich ab und senkte züchtig ihr Haupt wie ei-
ne zahme Taube.
   Jetzt bestieg der neue Pastor die Kanzel, umgeben vom erwartungs-
vollen Volke. Groß war er, mit feuerrotem Bart, der ihm bis auf den
Talar fiel und mit diesem heftig kontrastierte. Seine schwieligen Hän-
de, das Rot des rauen Gesichtes, sein Akzent und Sprachbau verrieten
Milkau den Bauernburschen; und ihm kamen wieder die Worte Lentzens in
den Sinn, der den Protestantismus als staubtrocken und rustikal sah,
der durch seine Kargheit dem Judentum nicht unähnlich sei, ebenso auch
durch seinen auf die Spitze getriebenen Monotheismus, ein bäurischer
Glauben, dessen Hauptverfechter rohe, gewaltbereite Eiferer gewesen
seien. Und, so der Gedankengang weiter, nach der Kirchenspaltung
schieden sich die Geister, und die bildungsfernen, wilden, freiheits-
liebenden Nordvölker lehnten sich gegen die zivilisierten auf, in de-
nen der gewandte, feine, prachtliebende Katholizismus als der geborene
Nachfolger des Heidentums fungiert.
   Sanft, geradezu scheu erging sich der Pfarrer in seinem Kirchen-
deutsch. Diese erste Begegnung mit der Siedlerwelt würde für ihn eine
Bewährungsprobe werden, das wusste er; und in der Tat, anstatt frisch
von der Leber weg zu predigen, wagte er dem Volk nicht in die Augen zu
schauen und verstummte ob seiner Versprecher. Dann wieder verlor er
den Faden und mogelte sich irgendwie durch. Die Gemeinde verlor an dem
unbeholfenen, langatmigen Sermon ihr Interesse und wandte selbiges da-
für der Person des Geistlichen und dessen Familie zu.
   Neben Milkau kam wieder Klatsch auf, und zwar deutschte ein Mann
einer Frau bezüglich zweier weiterer Frauen im Chor etwas aus:
   "Also diese dürre, braune ..."
   "Die schaut ja wie eine Jüdin aus ..."
   "Schon, aber sie scheint recht nett zu sein ... Das ist also die
Frau des Pastors."
   "Ah! Dann ist die andere wohl seine Schwester?"
   "Klar; wie aus dem Gesicht gerissen!"
   "Und woher kennst du sie?"
   "Na, von hier. Kürzlich richtete ich den Garten her, der ja völlig
verwildert war ... Schau ihn dir nur an, wie er jetzt ist. Ich glaube,
der Pastor mag so was. Aber die Hosen hat schon die Schwester an!"
   "Und Frau Pastor?"
   "Ich weiß nicht; sie ist halt die graue Maus."
   "Oje! Wie das denn?"
   Der Kolonist antwortete nicht, weil man allmählich auf ihn aufmerk-
sam geworden war, und wandte sich wieder frömmelnd seiner Bibel zu.
   Auf der Kanzel lief immer noch des Geistlichen Predigt ab, der es
aber nicht schaffte, zu seiner Form zu finden, und sich dafür in Laut-
stärke und Brüllen versuchte. Dann machte die Stimme nicht mehr mit,
und er verfiel in ein laues Säuseln.
   Milkau gegenüber saß Felicíssimo, sichtlich nicht angetan und äu-
ßerst ungeduldig. Der Cearenser blickte seine Freunde vom Rio Doce
auffällig an, schüttelte den Kopf im doppelten Sinne des Wortes und
schöpfte seine Geschicktheit im Grimassenschneiden voll aus. Lentz
konnte es nicht lassen, Milkau, der dem Vermesser amüsiert zusah, zu-
zufispeln: "So ein Affe!" Auch die Justizdiener waren von der Veran-
staltung alles andere als angetan. Sie saßen zu dritt nebeneinander
an der Kanzel und studierten die Kirchgänger. Der Älteste, der Amts-
richter, konnte seine Hände nicht stillhalten; einmal zog er das Ta-
schentuch und wischte sich die zerfurchte Stirn, dann putzte er das
Monokel, das an seinem rechten Auge nicht richtig saß und immer wieder
herunterfiel, sodass alles von vorn begann. Neben ihm ballte der
Staatsanwalt missmutig und mit zusammengepressten Lippen die Fäuste,
wackelte mit den Beinen, schwitzte und, hätten dies Blicke vermocht,
machte den Pastor samt Gemeinde nieder. Der Dritte im Bunde, der Orts-
richter, kratzte sich in Ermangelung einer anderen Beschäftigung am
Bart, rekelte sich auf der Bank, streckte die Beine aus, gähnte. Von
Zeit zu Zeit wisperte er dem Amtsrichter etwas zu, der sich das Mono-
kel aufsetzte, als bräuchte er es zum Hören, und dann ausgestattet
war, um freundlich zurückzulächeln.
   Die kirchengewohnten Deutschen zappelten nicht herum; sie vertief-
ten sich in ihre Gebetbücher oder versenkten sich mit geschlossenen
Augen in die leeren Abgründe ihres Geistes, die sie ohne tiefere Ge-
dankengänge und wohl auch ergebnislos ausloteten.
   Die Stimmung blieb auf dem Tiefpunkt, bis der neue Pastor endlich
sein Amen geschafft hatte. Die einsetzende Orgelmusik und der Gesang
zunächst der Chorsängerinnen war schon eher dazu angetan, die Herde
mitzureißen. Anschließend trugen die drei Pastoren im Altarraum ab-
wechselnd etwas aus den Psalmen vor. Die Musik setzte aus, um dann
wieder mit dem Chor und Antwortgesang aus dem Volk zu beginnen. Der
alte, bartlose Luxemburger Pfarrer, ein Brillenträger, hatte eine
Stimme wie ein Reibeisen, die immer wieder versagte. Sein Amtsbruder
aus Altona trug einen kurzen, stoppligen Bart und strahlte etwas wie
eine rotzfreche Art aus. Zwischen ihnen wirkte der neue Jequitibaenser
Gottesmann mit seiner Größe und seinen milden Augen wie ein ver-
schreckter Riese. Dann war der Gottesdienst auch schon wieder vorbei;
die Geistlichen setzten sich nieder und begleiteten die Gemeinde mit
den Augen, wie sie, sichtlich erbaut von der Musik und dem Wiederauf-
leben alter Gesangserfahrungen, geordnet auszog. Draußen blendete sie
die Sonne dermaßen, dass alle schnell das Weite suchten. Die Esel wur-
den losgebunden, die leeren Futtersäcke zusammengepackt und am Sattel
verstaut, und binnen Kurzem stiegen Männer und Frauen auf, und die
Menge plätscherte den Hang hinunter, wie sich die dunklen Wasser bei
einem Dammbruch in das Grün der Landschaft ergießen. Sie bremsten sich
alsbald wieder ein; so eilig hatten sie es auch wieder nicht, schon um
sich nicht ineinander zu verheddern. Und so hielten das große Getrat-
sche, Geplärr, Gelächter und die Ausgelassenheit aus tausend Kehlen
noch einige Zeit an und ließen nicht die sonst dort übliche Stille
aufkommen. Auch Milkau und sein Gefährte ließen sich mitreißen und in
die allgemeine Fröhlichkeit hineinziehen, waren sie doch deshalb her-
gekommen, um einmal spontan Teil einer solch pulsierenden Gemeinschaft
zu sein. Unten an der Kreuzung verklaubte sich das Volk; die einen ga-
loppierten, in eine Staubwolke gehüllt, davon, andere liefen, ja, lie-
fen, zu Fuß; die Frauen rafften zwecks Schonung die Überröcke und be-
deckten mit ihnen den Kopf, während die Männer Stiefel und Schuhe aus-
zogen und in der Hand trugen. Die Leute verteilten sich auf den Wegen
und strebten entweder nach Hause oder zum nächstbesten Wirt, wo man
des Sonntags abzuhängen pflegte. Milkau drehte sich um, als ihm auf
die Schulter geklopft wurde. Es war Felicíssimo, der ihn von hoch zu
Esel ansprach:
   "He, Mann, nett, euch zu sehen ... Wie lange ist das schon wieder
her?! Und wo wollt ihr jetzt hin?"
   "Heim, wohin sonst?", antwortete Milkau.
   "Na, dann schlüge ich euch vor ..."
   "Was?", fragte Lentz, der nichts erwarten konnte.
   "Gehn wir zu Jakob Müllers großem Ball heut abend! Ich glaube, vor-
geglüht wird jetzt schon."
   "Wir - so ganz ohne Einladung?"
   "Lebt ihr hinter dem Mond? Hier in der Kolonie gibt's sowas nicht.
Steigt irgendwo eine Fete, dann kommt man ganz einfach; darum geht es
ja ..."
   "Wieso - worum geht es?", war Milkau neugierig.
   "Ja, was wohl?", klärte ihn der Vermesser auf. "Wer so etwas
schmeißt, der will etwas verkaufen, also Essen, Bier und so weiter ...
Wisst ihr, was? Wir gehen einfach hin. Das heißt, ich reite ja, und da
bleiben wir nicht beisammen. Aber ist ja auch egal. Der Weg ist hier
links; zuerst geht's abwärts und dann wieder bergauf, bis ihr ganz
oben die kleine Herberge mit Laden erreicht, an der ihr vorbeigeht und
dann nach rechts, und dann könnt ihr nicht mehr aus. Ihr stoßt dann
auf ein weißes Stockhaus mit Vorplatz; das wär's dann. Und überhaupt
könnt ihr nicht irregehen, weil ja eh schon die Gaudi läuft."
   Die zwei Freunde wechselten einen fragenden Blick, aber Lentz ant-
wortete wie aus der Pistole geschossen:
   "Ist gebongt; wir gehen."
   "So mag ich die Burschen", strahlte der Vermesser, "keine Mätzchen,
keine Ausflüchte! Immer ran wie Blücher. Also, ich muss jetzt ... Ich
mach die Vorhut und halte gleich mal drei Plätze frei für uns ... Wir
haben so viel zu bequatschen ..."
   Und er deutete mit der freien Hand auf die dabei anzufeuchtende
Zunge. Dann schoss ihm wieder einmal etwas ein, er führte seine Gri-
massenposse auf und lachte wie ein Irrer. "Also, man sieht sich!" Er
gab seinem Esel die Sporen, peitschte ihn, plärrte und galoppierte
los und brachte mit seinem Gehabe die Kolonisten auf dem Weg durchein-
ander. Milkau und Lentz folgten seiner Beschreibung und gingen eilig
los.
   Oben stand in der Tat der Imbiss, wo sich bereits viele zu mehreren
Gruppen eingefunden hatten, alle mit mitgebrachter guter Laune. Die
Kneipe war sauber und ordentlich und hatte zwei große Türen. Drinnen
lehnten die Deutschen am Tresen und tranken Bier aus der Porter Brau-
erei, einige auch Schnaps. Einige Frauen verschiedenen Alters gesell-
ten sich zu den Männern, und man begrüßte einander herzlich und bot
sich Getränke an. Die Wirtin und eine junge, strohblonde Kellnerin,
deren Rose im Haar die ewige Koketterie des Weibes verkörperte, warte-
ten den Gästen zügig auf. Hinten herum führte ein Laubengang am Haus
entlang, und in seinem großzügigen Schatten speisten Familien an rohen
Tischen zu Mittag und wurden vom Wirt selbst bedient.
   "Dieser Schatten lädt zum Hängenbleiben ein!", juckte es den von
der Sonne ermüdeten Lentz.
   "Kein Problem, dann bleiben wir halt etwas und gehen nach Lust und
Laune", war Milkau einverstanden.
   "Nein! Solange du nicht tot bist, geht's weiter, denn ich fürchte,
wenn wir erst einmal sitzen, dann hat mich die Sonne GESEHEN."
   Und so rissen sie sich los, nicht ohne einen lüsternen Blick auf
die belebte Laube geworfen zu haben, wo das Grün der Rankpflanzen
trefflich mit den einfachen, lebhaften Farben der Frauenkleider kon-
trastierte.
   Auf dem Weg sahen sie bereits viele Leute auf die Feststätte zu-
wandern. Und schließlich kamen sie oben auf einem Buckel an, erblick-
ten im Tale ein munteres Bächlein, und dort in der Nähe jenes große
Haus, wo sie schon aus ihrer Entfernung ausmachen konnten, dass dort
etwas Großes stieg.
   "So, jetzt aber im Laufschritt", schlug Lentz vor; "jetzt brauchen
wir uns nicht mehr zu schonen, wo wir doch gleich da sind."
   "Genau; es geht ja eh abwärts."
   Sie wurden von jeder Menge kreischender Burschen und Mädchen über-
holt, die es gar nicht erwarten konnten anzukommen, und steckten mit
ihrer Lust, sich im Frohsinne der Brise wie in einem Schwindel zu ver-
lieren, auch Milkau und Lentz an, die denn auch noch einen Zahn zuleg-
ten. Schnell aber kriegten sie sich wieder ein, bremsten und lachten
über sich selbst ob ihrer Kindischkeit.
   "Narren sind wir", lachte Lentz; "alles müssen wir nachmachen!"
   "Ach, egal; ich hab doch nicht deswegen angehalten; wir waren doch
einfach außer Atem", setzte Milkau entgegen, der immerhin überrascht
war, zu was für Ausbrüchen der Jugendlichkeit er noch fähig sei. "Al-
le Achtung!", sagte er zu sich selbst. "Die Natur holt sich zurück,
worauf sie ein Recht hat."
   Er ließ die Seele baumeln, und es war ihm, als schösse ein Schwall
Lichtes in ihn hinein und versetzte ihn in vollen Einklang mit jener
immergrünen, glorreichen Welt der Jugend.
   Entschlackt hob er den Kopf und schüttelte seinen goldenen Bart.
Seine blauen Augen strahlten Ruhe und Friede aus, und majestätisch,
anmutig schritt er aus, den Berg hinunter.
   Die ganze Umgebung von Jakob Müllers Anwesen war bereits von den
zusammenströmenden Gästemassen geprägt. Viele gingen zu Fuß oder rit-
ten von der Jequitibaenser Kapelle her, Andere aus Santa Teresa, wie-
der Andere von Port. Das Anwesen war zentral gelegen und für das Inne-
re der Kolonie einer der wichtigsten Handelsstützpunkte. Sonntags zog
der Treffpunkt auch Leute aus weiter Ferne an, sogar noch die Handels-
gehilfen aus Port. Es war ein weißes Stockhaus im Talgrund am Gestade
eines ausgelassenen Flüsschens, das sich, ohne sich eine Verschnauf-
pause zu gönnen, aus Bergeshöhen in den Santa Maria stürzte. Die enge-
re Umgebung war nicht landwirtschaftlich genutzt, sondern bestand in
einem saftigen, üppigen Rasen, der in der Sonne glänzte. Das Gebäude
stand in deutlichem Kontrast zu den üppig bewaldeten Kuppen der Umge-
bung.
   Als sie den Vorplatz erreichten, schwappte den Neuen bereits der
Festlärm entgegen, und sie ließen sich auf den Trubel ein, auf die
Hochstimmung der Deutschen im Schatten der Veranda, gerade als sich
die Nachmittagskühle fühlbar machte und die Sonne nachzugeben begann.
   "Nur herbei, Freunde!"
   Und Felicíssimo lief lauthals auf sie zu und fing sie ab. Die bei-
den waren darauf nicht gefasst und fragten, was er denn mit ihnen vor-
habe.
   "Na, einen heben, was sonst?"
   "Oh nein, danke; wir würden uns gern zuerst einmal hier in den
Schatten setzen", wehrte Milkau ab und setzte gestelzt hinzu: "Wir be-
dürfen der Ruhe."
   "Ja, verflixt und zugenäht!", zeigte sich der Vermesser gar nicht
erbaut und verzog sich brüsk. Milkau wäre ihm noch nachgegangen, um
ihm alles zu erklären, aber der Andere war so eingeschnappt, dass er
sich durch die Leute hindurchwand und hinten im Lagerhaus verschwand.
Milkau ließ ihn, wenn er denn wolle, und kam zu Lentz zurück, worauf-
hin sie sich beide eine Sitzgelegenheit zum Rasten suchten. Sie fanden
eine solche in Form einer Bank unter einem Orangenbaum vor dem Haus.
Noch immer war ein großes Hin und Her. Haufenweise erschienen händ-
chenhaltende Mädchen in Weiß, hemdsärmlige Burschen liefen zum Spaß
um die Wette, eine Horde Kinder ohne Aufsicht vergnügte sich krei-
schend auf dem Vorplatz und machte mehr Lärm als ein aufgescheuchter
Papageienschwarm.
   An der Verkaufstheke war ein großes Kommen und Gehen, und es wurde,
teils schon unter erheblichem Alkoholeinfluss, kräftig gesungen. Das
Stampfen der Tänzer im Obergeschoß hallte herunten im Laden wider, und
der schmachtende Ton eines Leierkastens winselte unaufhörlich herunter
und lullte die Leute ein. Durch die Fenster lehnten sich viele Leute
auf den Hof hinaus, sahen dem Getümmel zu und betrachteten die Land-
schaft, die gleichfalls so in Bewegung schien, als würde sie von der
Leichtfüßigkeit des Baches mitgerissen.
   Milkau hatte sich bis dahin begnügt, sich stumm der Anderen Ver-
gnügen zu verinnerlichen, als er auf einmal ein sehr bekanntes Ge-
sicht heranrücken sah. Joca war's, in Hemdsärmeln, mit Halstuch und
einem ledernen Gürtel angetan, und sogleich begrüßte er sie mit einem
Lächeln seines katzenartigen Gebisses.
   "Hat's euch also auch hierher verschlagen? Genug vom Daheimsitzen?
Da habt ihr euch aber was vorgenommen; schließlich ist es vom Doce
hierher nicht gerade ein Katzensprung!"
   "In aller Früh ging's los, aber dann nahmen wir's locker", erklärte
Milkau.
   "Von wegen locker", unterbrach Lentz; "ich bin fix und fertig, und
außerdem meldet sich allmählich der Kohldampf."
   "Essen ist das kleinste Problem. Schaut nur hier ins Lagerhaus hin-
ein, falls ihr über die Köpfe der Leute drüberseht, wieviele Kunden
sich an der Theke drängen wie Aasgeier mit Aussicht auf Beute. Und 
hinten im Speisesaal stehen bereits Tische zuhauf fürs Abendessen. Re-
servieren muss man halt jetzt schon."
   "Das hat eigentlich dein Chef übernommen", erklärte Lentz; "nur
leider ist er jetzt fort und hat vergessen, uns Bescheid zu geben, was
los ist."
   "Ach, der kommt schon wieder", beruhigte Milkau; "und ich bin mir
sicher, dass er alles gedeichselt hat. Ja, und wo bist du so gesteckt,
Joca?"
   "Überall und nirgendwo ... Zur Zeit vermessen wir ein wenig drüben
in Guandu ... Das heißt, in den nächsten Tagen haben wir frei und las-
sen es in Port ein bisschen krachen. Und - was macht der Hof? Das Haus
wird wohl ganz nett anzusehen sein? Und der Kaffeehain?"
   "Schon gepflanzt."
   "Da, wo wir gerodet haben?"
   "Klar doch, ganz am Haus."
   "Preisfrage: Wann trinken wir davon den ersten Kaffee?"
   Die Antwort war eine abwehrende Handbewegung, die wohl ferne Zu-
kunft besagen sollte. Einen Augenblick lang fühlte Lentz ein leichtes
Nervenzucken über sein Gesicht laufen, ein Zittern, als er sich besag-
te lange Zeiträume und das ihm doch so fernliegende Leben vor dem
geistigen Auge vergegenwärtigte.
   "Ah, jetzt kommt Schwung in die Bude", begeisterte sich der Mulat-
te, als er hinter das Haus blickte. "Da rückt die Musik an."
   Die Porter Kapelle kam auf dem Rummelplatz an, und alle Blicke
richteten sich auf sie. Da ging's unter den Leuten erst richtig auf,
und alle drängten sich an die Musikanten heran, die wie in alter Ge-
wohnheit auf den betonierten Innenhof marschierten, der sonst als Dar-
re für den von Jakob Müller aufgekauften Kaffee diente. Unter der Wo-
che schützte diesen Teil des Hofes ein Maschendrahtzaun gegen Tiere
und hielt die Kinder fern. An Sonntagen allerdings, wenn ein Fest
stieg, kam das Gitter weg, und alle durften auf den Platz hinein. Joca
verließ Milkau und wandte sich an die Musiker, unter denen er Bekann-
te und Kameraden hatte.
   "Jungs, bis jetzt habt ihr ja keinen Finger krumm gemacht! Die jun-
ge Szene hier ist schon ungeduldig ... Da spielt sich der arme alte
Martin an der Drehorgel den Arm wund, um die Leute oben bei Stimmung
zu halten. Aber jetzt ran an die Tröten!"
   Der Mulatte fing in seinem Überschwang an, die Porter Kapelle mit
Hoch- und Vivat-Rufen zu preisen. Das donnernde Gelächter darauf wur-
de als Zustimmung gewertet. Die Spielleute lächelten, erröteten sogar
und zogen als Dankerbietung wie eingelernt den Hut.
   Der Mulatte war in seinem Element und begann mit Hurra-Schreien
auf "die lieben Porter", auf Jakob Müller, auf die Burschen und Mädel
hier beim Fest. Alle waren gut drauf, werkelten herum, tanzten, so man
es so nennen wollte, auf die gespielten Weisen. Die Musikanten stell-
ten sich in einer Ecke des geräumigen, gesäuberten, für den Anlass ge-
radezu polierten Platzes auf, der die Gewalt der Sonne widerzuspiegeln
schien. Im Nu war der Hof mit Menschen gefüllt, einfach und anspruchs-
los, aber vom Frohsinne gehätschelt, dem sie keinen Stein in den Weg
legten.
   Die Musiker steckten die Noten auf, setzten sich und stimmten einen
Marsch an, in den die Leute begeistert einstimmten. Joca, der grimmig
in seinem Gesange aufging, verfolgte mit erregten Blicken und dem Mie-
nenspiel seiner Nase eine Schar blonder, errötender Mädchen, die in
vorgetäuschtem Erschrecken lachend davonrannten. Einige alte Männer,
Pfeife rauchend und sichtlich schon geladen, lallten unter Verbeugun-
gen Frauen an, die mit heftigem Lachen reagierten. Jetzt forderten die
Kinder ihr Recht, indem sie sich geballt unter Einsatz der Ellenbögen
durch die Menge arbeiteten. Der Wirt, in Hemdsärmeln und ganz in Weiß
und mit einem großen Strohhut, erschien im Hof, und gab nach Absprache
mit dem Kapellmeister Anweisungen. Einige alte Freuen klopften ihm auf
die Schultern, andere zupften ihn am Bart; er aber stellte blaffend
klar: "Erst sind die Kinder dran! Verzieht euch, raus jetzt! Ihr könnt
am Abend noch genug tanzen." Und dann wandte er sich mit einen un-
schlagbaren Argument an die Hartnäckigen, beispielsweise:
   "Komm mit, Alterchen, hilf mir ein bisschen an der Schenke! Kannst
dir dafür auch selber was zapfen."
   Da konnte der Betreffende wahrlich nicht nein sagen; es war wieder
einer auf dem Platz weniger, und das Geschäft kurbelte es auch an. So
war nun allmählich der Hof von Erwachsenen frei, die um ihn herumstan-
den und ihn sozusagen umrahmten. Jetzt konnte sich die Kinderschar
entfalten, die sich im Kreis drehte und drehte, wie wenn ein Wirbel-
sturm sie antriebe.
   Der Marsch war zu Ende, und jetzt wurde eine Quadrille angekündigt.
Ein großer Alter mit einem verschlissenen schwarzen Gehrock, blauer
Brille und einem Gesicht wie ein Lederapfel betrat die Fläche als
Tanzmeister des Kinderballs. Erstmal war Ruhe. Der Alte teilte die
Schar zunächst nach Geschlechtern und stellte dann die Paare zusammen,
etwa so: "Albert und Emma", "Hermann und Sofie", "Wilhelm und Ida ..."
Mitunter passte das auch einem der Kleinen nicht.
   "Aber ich bin doch verlobt, Herr Lehrer!"
   "Was? Mit wem?"
   "Na, mit Augusta Feltz ..."
   "Also, sag mal: Du bist noch so klein, sie dagegen doch schon so
groß", wandte der Alte unter Kieferverrenkungen ein.
   Da mischten sich die Mütter ein, und auch andere Frauenstimmen
machten sich bemerkbar.
   "Ist doch egal, Herr Lehrer. Sollen sie sich doch aussuchen, wen
sie wollen."
   Dem Schulmeister wurde es recht, und Augusta Feltz mit ihren zwölf
Jahren, langen Beinen und Augen wie ein Reh nahm ihren Platz ein und
neigte sich ihrem Kavalier zu, der sie am Arm nahm und stolz ob seines
Sieges anblickte.
   Zu guter Letzt hatte der Meister seine Paare beisammen, und die Mu-
sik machte sich an die Quadrille. Die Kleinen waren gar nicht so unge-
übt, und so ging alles reibungslos über die Bühne. Vielen Erwachsenen
gefiel der Schwof, den sich die Kinder lieferten; anderen gab er nicht
so viel ab, und sie streunten um den Flecken herum, ans Ufer hinunter,
wo sie sich ins Gras legten und den Bach bespähten. Manche verzogen
sich Arm in Arm, schwer verliebt, ins Gebüsch, und andere fanden sich
am Tresen zusammen, tranken und sangen die gemütlichen Wirtshauslieder
von einst, die sie wieder einmal kurz in ihre alte Heimat versetzten.
Jede Bewegung, jede bloße Geste, alles an der Veranstaltung hier in
Cajá strahlte Sich-Vergessen und Sich-Gehenlassen aus.
   "Genau das habe ich gesucht", sagte Milkau zu Lentz, als sie um den
Tanzboden herumguckten und ihnen der Rhythmus in die Beine schoss.
"Gesucht hab ich's und endlich gefunden ... Unter einfachen Leuten zu
leben und wie sie so mir nichts dir nichts den Schmerz zu vergessen,
dem Hasse abzuschwören ... Man sehe doch nur einmal diese hier und
vergleiche sie mit anderswo, wo scheint's jeder vom Teufel geritten
ist, wenn er auf die Welt wie durchgedreht losfährt, bis er sich in
einer letzten Aufbäumung zu Tode zappelt. Hier ist zumindest alles
Heiterkeit, Ruhe, Freude."
   "Aber", konnte sich Lentz nicht verkneifen, Salz in die Suppe zu
streuen, "letztlich kann man das auch Stillstand, Leere, Unnutz nen-
nen."
   "Aber ist nicht die Liebe der Inbegriff der Tat? Bewegt nicht gera-
se sie hier in der Kolonie, diesem Stücklein All, den Menschen? Was
wollen wir mehr?"
   Sie kamen wieder an den Ballplatz, wo die Kinder mit Begeisterung
zugange waren. Gerade bildeten sie einen Reigen, der einmal hitzig,
einmal schleppend die mehr lautstark als tontreu geschmetterten Kin-
derlieder unterfütterte. Und als die Jungschar gerade besonders gut
drauf war, sprang der August in den Ring, zerlumpt, mit weiß be-
schmiertem Gesicht und knallroten Wangen und Lippen. Die Erwachsenen
empfingen ihn mit dröhnendem Gelächter, und die Kleinen vergaßen,
ein wenig erschrocken, zu tanzen und ließen ihn in ihren Kreis hin-
ein. Der Spaßvogel begann mit seinen Bocksprüngen, plärrte herum,
muhte, quiekte, blökte, und stürzte sich mit bedeckten Augen in den
Kreis der Kinder, die sich köstlich amüsierten.
   Milkau wandte sich vom Tanz weg und tupfte den Freund am Arm: "War-
um hat eigentlich Felicíssimo nicht mehr nach uns gesucht?"
   "Da hast du Recht. Ich glaube, wir sind bei ihm unten durch."
   "Dann suchen halt wir ihn", schlug Milkau vor.
   "Zeit wird's, zumal ja jetzt auch das Abendessen gerade recht wä-
re", stimmte Lentz bei.
   Die sich abschwächende Sonne verzauberte zu jener Stunde die Land-
schaft und erweiterte die Farbpalette, die allmählich dem Schoße der
Natur zu entsteigen schien und sich immer freier und ungebändigter zu
entfalten begann. Das erfrischende linde Lüftlein driftete über die
blonden Köpfe der Frauen und spielte sich mit ihrem Haar, das sie kit-
zelte und ihnen einen leichten Schauer ins Genick jagte. Der Abend-
frieden lief zu seiner Vollform auf und überströmte die Menschen mit
wohltuender Mattigkeit.
   "Wo ist denn bloß der Geometer hin? ... Wo kann er sein?", fragte
sich Lentz überall durch und schaute weiß wo herum.
   "Wunderlich benimmt er sich heute uns gegenüber ... Wohl, weil wir
sein Bier ausgeschlagen haben? ... Hätten wir's doch angenommen!"
   "Dann hätten wir auch keinen solchen Deppen von Freund verloren",
brachte Lentz es auf den Punkt.
   "Na, nicht gleich ausfällig werden!"
   Sie suchten den Vermesser um das ganze Anwesen herum, aber verge-
bens. Sie kamen sogar bis ans Bachufer und an die Landstraße und rede-
ten alle möglichen Leute an, ob sie den Cearenser gesehen hätten, aber
ohne Erfolg. Sie versuchten es sogar im Wald, unter dessen schattigem
Geäst sie aber nur ein turtelndes Liebespaar aufscheuchten. Als es die
Eindringlinge bemerkte, tat der Bursche in seiner Verlegenheit so, als
sammelte er Brennholz vom Boden auf; das Mädchen aber bedeutete ihnen
selbstbewusst, mit offenen, eindeutigen Blicken, sie sollten gefäl-
ligst verschwinden.
   Als sie wieder aus dem Wald heraußen waren, ließen sie Felicíssimo
Felicíssimo sein und wandten sich dem Haus zu.
   Die Theke war immer noch schwer umlagert; und man trank ausgiebig,
begleitet von ziemlich schwerfälligem Gesange. Die zwei Freunde warfen
einen Blick in die Halle, sahen aber den Vermesser nicht. Jakobs Frau
sah ihre Unschlüssigkeit und fragte mit einer Handbewegung, was sie
denn trinken wollten. Milkau kam unter Umgehung einiger heftig tor-
kelnder Kolonisten auf sie zu und fragte um Felicíssimo. Die Wirtin
riet ihnen, doch nach hinten oben in den Saal fürs Abendessen zu
schauen; dort müsse er wohl sein, zumal er auch schon drei Plätze für
sie alle reserviert habe. Und tatsächlich war oben der Tanzsaal so gut
wie leer, bis auf einige, die von dort aus der Kinderdarbietung zusa-
hen; hinten aber ging's bereits hoch her. An den Tischen wurde eifrig
geschmaust. Andere verspeisten im Stehen ihre Suppe oder griffen sich
Würste mit einer Schnitte Brot und mampften mit blutunterlaufenen Au-
gen mit einem Heißhunger wie die Scheunendrescher. Schwaden von Knob-
lauch-, Essig- und Pfefferduft überzogen die Menge und hielten ihre
Fresslust aufrecht.
   Felicíssimo hatte den Bürgermeisterplatz eines Tisches belegt und
zwei Sitze an seiner Seite freigehalten, und als er die Gefährten er-
blickte, schrie er ihnen zu:
   "Hier! Hier!"
   Daraufhin arbeiteten sie sich zu den angebotenen Plätzen durch.
   "So, seid ihr also doch noch gekommen, was? ... Ich dachte schon,
ihr wollt mit mir heute nichts zu tun haben, wo ihr doch so beschäf-
tigt seid ... Was ist denn so lustig heute?"
   "Jetzt mal langsam", hielt ihm Lentz entgegen, "umgekehrt wird ein
Schuh draus. IHR habt doch eine Schnute gezogen und uns sitzen lassen.
Na, da gingen wir halt aufs Geratewohl in der Gegend herum; so einfach
ist das!"
   "Wer's glaubt, wird selig. Du Schlingel hast doch hier bestimmt
die eine oder andere laufen, so wie du dich hier durchgesüßelt hast!
Also raus mit der Sprache!"
   Der Deutsche errötete, um eine Antwort verlegen. Milkau sprang ihm
bei:
   "Lentz hat's nicht so mit dergleichen."
   "Ach, das kannst du deiner Großmutter erzählen."
   "Uns geht es drum, einfach in den Frohsinn dieser Leute einzustim-
men und ihr Leben, ihr Glück zu verstehen ..."
   Das war Felicíssimo sichtlich zu hoch. Dann fand er inmitten eines
eher dümmlichen Lächelns doch noch zu einigen Worten:
   "Kein Seemannsgarn, Kamerad! Ihr habt doch gerade selber gesagt,
dass ihr auf der Welle ihrer Freude segeln wollt. Also was liegt näher
als ...?"
   "Und überhaupt: Wenn wir hier noch lange herumalbern, kommt uns
noch das Abendessen aus", machte Lentz Nägel mit Köpfen.
   "Auweh, ja!", rief der Landvermesser und arbeitete sich mit den
Händen empor.
   Dann rief er laut: "Bedienung!" Schließlich erhörte ein Serviermäd-
chen sein Rufen und wartete vor dem Cearenser mit resolutem Blick auf
eine Bestellung. Felicíssimo blickte sie zweideutig an und zwinkerte
den Gefährten zu, und erst als es der verlegenen Deutschen zu dumm
wurde und sie sich zum Gehen wandte, bequemte er sich zu einer Bestel-
lung:
   "Meine liebe, holde Maid, bring doch bitte diesen beiden Freunden
das gleiche Essen wie mir schon, angefangen mit Gemüsesuppe."
   Die Kellnerin drehte abrupt um und entschwand anmutig, als wäre sie
selbst gerade am Tanzen.
   Felicíssimo schnalzte mit der Zunge und schaffte es nicht, seine
Augen zurückzupfeifen. 
   "Das Leben ist schon ein ...", murmelte er versonnen, ohne einen
tieferen Sinn dareinzulegen.
   Er nahm den Bierkrug und trank, und trank - ex. Dann nahm er die
leere Flasche vor sich ins Visier, schlug auf den Tisch und bestellte
noch einmal sechs.
   "Da können wir nicht mithalten", warf Milkau ein.
   "Wenn ihr schlapp macht, ich nicht. Ich pack sie alle sechse."
   Milkau und Lentz verspeisten die einfachen Tagesgerichte, die im
allgemeinen Trubel und Wirrwarr aufgetragen wurden. Viele Handelsge-
hilfen aus der Stadt, die auch schon durch feinere Kleidung aus den
Bauern herausstachen, fanden diese Speisen unter ihrem Stande, und
fragten um Geflügelkonserven, die sie sich mit Rheinwein munden lie-
ßen. Einige dieser Burschen, Beschäftigte bei Schultz, erkannten die
alten Gäste jetzt als neue Kolonisten und nickten ihnen freundlich
grüßend zu. Von ihrem Platz aus boten sie ihnen, mit den Flaschen
winkend, Wein an. Milkau lehnte ebenso freundlich dankend ab, und die
vom Volke abgehobene Gruppe trank wie gehabt weiter.
   Hätte Felicíssimo vom Volke unbeachtet saufen müssen, wäre es nur
halb so lustig gewesen, und daher sorgte er mit entsprechendem Gelärme
für Abhilfe. Endlich hatte er, was er wollte, er sang, tanzte, stieg
auf den Stuhl und prostete rundherum allen zu. Für die Bauern war er
der große Zampano, die Städter aber überschütteten ihn mit ironischem
Beifall und Derberem und machten sich lauthals über ihn lustig. Doch
der Cearenser war auch kein heuriger Hase und wusste sich mit Steg-
reifversen nach der Art seiner Heimat zu helfen, Schnaderhüpferln aus
dem Land der Dornen, natürlich auf Portugiesisch. Viele verstanden ihn
gar nicht einmal, aber etwas an diesen Versen rührte sie zutiefst an;
und so baten sie den Mann aus dem dürren Hinterlande des alten Nordos-
tens lauteren Herzens, er möge doch bitte fortfahren. Dieser hatte
aber auch noch anderes auf Lager, etwa deutsche Lieder, die auch zu-
weilen etwas schiefgingen, aber von der Siedlergemeinde mit höchster
Freude und in bester Stimmung aufgenommen wurden. Alters- und ge-
schlechterübergreifend entstand nun eine gewaltige Lärmkulisse, noch
gesteigert durch Besteck, das Krüge und Teller als Schlagzeug nahm,
und durch die Drehorgel, die es sich nicht nehmen ließ, alles Gesunge-
ne auch zu begleiten, auch wenn der Krach die Feinheiten verschluckte
und nur noch die "Paukenschläge" zum Tragen kamen. Der Wirt hätte der
Sache gerne ein Ende gesetzt und versuchte, Felicíssimo vom Stuhl her-
unterzuzerren. Das war dem Herrn der Maße gar nicht recht, der munter
weiterquiekte; und andere bildeten einen Schutzwall um ihn gegen den
Wirt, der mit entsprechendem Körpereinsatz des Saales verwiesen wurde.
Der Vermesser schmiss eine Lokalrunde, doch kaum erschienen die Kell-
nerinnen mit dem Bier, wurden ihnen die Flaschen aus der Hand geris-
sen, und im allgemeinen Durcheinander, im Eifer der Aneignungsmaßnah-
men ergoss sich das kühle Nass aus den Gläsern über den Tisch. Milkau,
der fürchtete, alles könnte aus dem Ruder laufen, versuchte den Geome-
ter aus der Schusslinie zu nehmen und wollte ihn dazu bringen, den
Abend lieber draußen fortzusetzen.
   "Ich weiche nicht!", war die trotzige Antwort.
   Und die betrunkenen Deutschen bildeten ein lautstarkes Echo:
   "Er weichet nicht!"
   Und von da an diente diese Zeile als etwas schräger Kehrreim jedes
Liedes. Wer noch Herr seiner Sinne war, belustigte sich über die nicht
mehr so Standfesten und erst recht darüber, wie die eigenen, von Liebe
und Herz und Schmerz handelnden Lieder im Refrain des Cearensers ihren
Abschluss fanden.
   Milkau und Lentz fühlten sich wie im Narrenhaus, so wie die Leute
einander mit allerlei spaßigen Schimpfwörtern bedachten, und sie zogen
sich möglichst unauffällig, begleitet vom Spotte der Verbleibenden,
aus dem Saale zurück.
   Draußen ging der Mond auf, und sein Schein bemächtigte sich ver-
stohlen der von der Sonne aufgegebenen Niederung. In dieser zeitlichen
Grauzone erstarb die Brise, und alles ließ seine Augen träumerisch im
Nirgendwo versinken und fühlte sich unter einem geheimnisvollen Banne
von Sehnsucht und Abendfriede. Die Kinderschar im Hof war ihres Herum-
getolles müde und schien ob ihrer eigenen Stille zu erschrecken, und
die Kleineren kuschelten sich schläfrig an ihre auf dem Boden sitzen-
den Mütter. Die Musiker packten ihre Instrumente zusammen und machten
sich ans Abendessen. Milkau und Lentz wanderten an den Fluss hinunter
und folgten ihm ein Stück weit, um sich schließlich auf einen Stein
niederzulassen. Später, als es allmählich kühl wurde und sie die Musik
wieder erklingen hörten, kehrten sie ins Festlokal zurück, das inzwi-
schen hell erleuchtet war; und das rote, warme Licht aus den Fenstern
und Türen ergänzte den milden, milchigen Mondenschein mit einem glit-
zernden Feuerbogen. Auf dem Hof heraußen war fast niemand mehr; die
Kinder waren mit ihren Eltern heimgegangen, und ein Teil der Erwachse-
nen hatte sich in den Tanzsaal begeben. So gingen auch sie dort hin-
auf, wo der Tanz soeben begonnen hatte. Die Kapelle spielte einen
langsamen Walzer, der aber bei den Leuten noch nicht so ankam, die da-
für lieber sitzen blieben oder, sei es träge oder schüchtern, an den
Türen und Fenstern herumlehnten. Wenn, dann waren die Paare eher Mäd-
chen, die, eng umschlungen, mit ihren Rhythmen die scheuen Burschen 
auf den Geschmack zu bringen versuchten, die sich dann doch herbeilie-
ßen, die Paare zu trennen und ein Mädchen zu übernehmen.
   Es ging aber nicht lange her, da brandete der Tanz richtig los. Im
Laufe des Abends war immer mehr los in der Bude, die Musik kam kaum
mehr zum Verschnaufen, und alles war in trefflicher Stimmung. Jetzt
konnte man sich in Ruhe ansehen, was sich da alles für Leute in Jakobs
Haus versammelt hatten. Da waren also Handelsherren aus Port mit Gat-
tin, Verkäufer aus der Stadt, Maultiertreiber, Bauern, Mägde, alle in
einer einzigen klassenlosen Gesellschaft vereint. Vor den Augen Mil-
kaus, der am offenen Fenster das Fest verfolgte, tanzte unter den Pol-
ka-Paaren immer wieder ein besonders anmutiges Mädchen mit sinnenfreu-
digen Schwüngen vorbei und hob sich dabei ab vom Rest der Weiblich-
keit, der eher schwerfällig und saumselig wirkte und mehr von den
Partnern mitgezogen wurde. Ein bärbeißiger Mann neben Milkau wusste
etwas über sie:
   "Also, über Luise Wolf steht keine auf."
   "Wirklich ein Prachtstück."
   "Ja, und wer sie kennt, weiß, dass sie nicht nur beim Tanzen so
ist. Sie wird nie müde, dieses gewisse Etwas auszustrahlen. Morgen ist
sie wieder bei der Arbeit; da ist sie genau so ..."
   "Eine Kolonistin, oder?"
   "Nein, sie ist Dienstmädchen in Port, und ihr Chef ist der, der da
mit ihr tanzt ... Martin Fidel. Kennen Sie ihn nicht?"
   "Nein."
   "Kein Wunder, er ist einer der reichsten Handelsherren der Stadt;
seine ganze Familie ist hier. Die Gattin ist schon alt, er ja auch ...
Ah, da kommt sie mit diesem großen Burschen daher, dem mit dem Zinken
im Gesicht. Er ist ein Siedlersohn aus Jequitibá. Sein Vater, hier der
Kleine, Bauchige mit Bart und Hut, tanzt auch, und zwar mit seiner
Magd, einem langweiligen Trampel, wie Sie sehen."
   Die Tänzer versenkten sich weiter in die schmissige Polka, drehten
Figuren dazu, bildeten Halbmonde, teilten sich zu Flügeln, marschier-
ten vis-à-vis und trennten sich nach Frauen und Männern zu je eigenen
Schwenkungen, um nach einigen Runden wieder zusammenzufinden. Die Be-
wegungen fielen ihnen nicht leicht und waren dementsprechend schwer-
fällig, wozu auch die klobigen genagelten Schuhe beitragen mochten,
die dem Fußboden einiges abverlangten und auf selbigem kräftigen Lärm
verursachten, der die Instrumente erheblich in Bedrängnis brachte. Als
der Kontretanz zu Ende war, verließen die Paare wie fluchtartig den
Tanzboden, um sich dann aber doch gemächlich einen Platz auf den Bän-
ken an der Wand entlang oder in den Fenstererkern zuzulegen. Viele
gingen auch zur Erfrischung auf den Hof hinaus, Liebespaare spazierten
dort Arm in Arm im Dunklen, und Alte schmauchten ihr Pfeiflein und
tauschten Belanglosigkeiten aus, bis die Musik wieder einsetzte, wor-
aufhin alle wieder ohne Gedrängel in den Saal zurückkehrten und ohne
Umschweife gleich wieder am Tanzen waren, die Männer mit Hut sowie ih-
rem Stumpen oder der Pfeife im Mund und die Frauen mit dem Taschentuch
um den Hals, um dem von ihrer Stirn laufenden Schweiß Einhalt zu ge-
bieten.
   Milkau war jetzt allein; sein Gewährsmann von vorhin hatte ihn,
wohl des Tratschens über das Kolonieleben überdrüssig, verlassen.
Lentz war ohnehin schon länger nicht mehr im Saale, und Milkau dachte,
er hätte sich angesichts dieses eintönigen Getanzes nach draußen abge-
setzt und ginge allein irgendwo spazieren. Felicíssimo blieb im Spei-
sesaal kleben, wo er mit seinen deutschen Kumpanen weitersang und da-
hinsoff. Wann immer die Musik verschnaufte, hörte man deren fröhliches
Gegröle bis in den Saal.
   Neben Milkau hatten sich zwei Frauen niedergelassen. Die eine er-
kannte er gleich wieder; es war jene, die ihn in der Kapelle beim
Schlafen ertappt hatte. Da waren sie wieder, ihm so nahe, diese zärt-
lichen, unergründlichen Augen, über die sich Bilder der Traurigkeit
gelegt hatten, die Leben und Liebe des Mädchens widerspiegeln mochten.
Sie atmete keuchend, wirkte ermüdet und hatte sich mehr fallen lassen
denn niedergesetzt. Auch sie konnte nicht widerstehen, den Nachbarn
verstohlen zu beobachten, und mitunter blickte sie ihm in aller Ruhe
und Unschuld auch frei in die Augen. Sie war von einer besonderen
Schönheit, anders als man sie sonst in der Kolonie fand, ihre Haltung
graziös, ihre Brüste üppig, jedoch fein ziseliert. Ihre vielleicht et-
was zu langen, blassen Hände entwuchsen den Armen wie Schwanenhälse.
Aber was sie eigentlich anderen voraus hatte, war ihre hohe, edle
Stirn, das füllige, gleichsam schwebende, blonde Haar, der Ausdruck
ihrer Lippen, die wohl etwas blass waren, aber voll und voller Güte.
Einige Minuten darauf spielte die Musik wieder einen Walzer, und fast
alle standen auf dazu. Milkau fragte die Nachbarin:
   "Und Sie, Sie tanzen nicht?"
   Die Frage hatte sie keineswegs auf dem falschen Fuß erwischt, ob-
wohl er bis dahin nichts gesagt hatte, und willig antwortete sie:
   "Leider nicht - ich fühle mich nicht wohl; aber wenn Sie eine
Partnerin suchen, fordern Sie doch meine Freundin hier auf. Die hat
den Walzer wirklich im Blut."
   Und mit fast mütterlicher Zärtlichkeit ergriff sie die Hand des an-
deren Mädchens, das sich gerne streicheln ließ und solches von der
Freundin wohl schon gewohnt war.
   Milkau fühlte sich etwas aus der Bahn geworfen, entschuldigte sich
und bekannte, er könne selbst gar nicht tanzen. Da meinte sie:
   "Das sag ich auch immer, wenn ich mich nicht wohlfühle. Mir kauft's
aber keiner ab. Wenn die wüssten ..."
   Sie versuchte ein Lächeln. Ihre Stimme klang wie Engelsgesang, wie
wenn ein Schleier von hinnen wehte, um die berückenden Gefilde ihrer
Seele offenzulegen. Wie jede menschliche Stimme gab auch ihre die Tie-
fen ihrer Persönlichkeit preis. Die Stimme drückt ja die im Inneren
schwingende Musik aus und deckt die verborgenen Merkmale des Geistes
auf, den Edelsinn oder auch die Grobheit der Rasse oder Schicht, der
wir angehören.
   Ein Bursche kam herbei, nahm das andere Mädchen nach dem Brauche
der Gegend wortlos bei der Hand und war im Begriffe, es zum Tanzen
mitzunehmen. Da drehte es sich der Freundin zu und sagte, von der Vor-
freude auf den Tanz erfüllt, noch geschwind:
   "Maria, wo wartest du denn auf mich? ... Nicht, dass wir uns ver-
lieren; ich habe dir soviel zu erzählen ..."
   "Hier, auf der Bank oder am Fenster."
   Als das Mädchen mit seinem Partner weg war, fragte Maria Milkau:
   "Na, ist sie nicht hübsch? Sie ist eine Kolonistentochter aus Lu-
xemburgo. Wir hatten uns lange nicht gesehen. Herrlich ist es hier
heute ..."
   "Aha! Bei uns ging's schon in der Früh mit dem ganzen Trubel an.
Ich erinnere mich, Sie in der Kirche in Jequitibá gesehen zu haben",
bemerkte Milkau.
   "Genau. Ich weiß noch, dass wir gar nicht weit auseinander waren."
   "Auf gut Deutsch, dass ich geschlafen habe ..."
   Maria errötete, fand aber gleich den Faden wieder.
   "Da war aber auch eine Affenhitze ... Und der Pastor hat Sie auch
nicht gerade vom Hocker gerissen, oder?"
   "Ich weiß nicht recht ... Dafür aber fühlte ich mich ungemein wohl,
und der Schlaf entrückte mich in den siebten Himmel."
   "So?", erwiderte sie etwas unsicher und gestand dann: "Manchmal wä-
re es wirklich besser, das Leben schlafend zu verbringen ..."
   "Na, das hört sich ja an, wie wenn ich mit einem richtigen Faul-
pelz redete ..."
   "Wo denken Sie hin?", widersprach das Mädchen scharf. "Mit Faulheit
hat das nichts zu tun ... Aber um all meinen Verdruss zu vergessen,
möchte ich am liebsten einfach wegnicken ..."
   Das Ende des Satzes kam schleppend und war kaum mehr wahrnehmbar.
   "Verdruss? Ich glaube, ich kann mir zusammenreimen, was Sie damit
so traurig benennen", dämmerte es Milkau.
   Sie schlug nur die Augen nieder, antwortete aber nicht mehr. Als
sie ihn wieder anblickte, wechselte sie das Thema.
   "Ach, Tanzen ist schon was Schönes!"
   Mit ihrer grazilen Hand winkte sie ihren Freundinnen zu, die sich
gerade, ganz in ihrem Walzer aufgehend, vorbeischwangen.
   Milkau fand zunehmend Gefallen an der Unterhaltung mit dem Mädchen,
das sich seinerseits völlig unbefangen dem Gespräch öffnete, als wäre
er ein alter Bekannter.
   Als das Musikstück zu Ende war, trennten sich die Paare, und die
Tänzer und Tänzerinnen gingen ihrer Wege.
   "Wie du siehst", sagte Maria zu ihrer Freundin, "habe ich hier auf
dich gewartet."
   "Hab ich auch nie dran gezweifelt. Und; willst du spazieren gehen,
oder bleibst du lieber hier?", fragte die Andere, die vor Erschöpfung
keuchte und niedersank.
   "Du bist gut! ... redet vom Spazierengehen und kann kaum noch ste-
hen. Nein, Liebes, ruh dich etwas aus."
   "Vielleicht", brachte Milkau ins Spiel, "sollte sich deine Gefähr-
tin lieber ans Fenster setzen; dort sind auch noch Stühle frei. Gehen
wir doch dorthin. Die frische Luft wird ihr gut tun."
   Er erhob sich, und die Mädchen eilten zu den bewussten Stühlen, auf
dass ihnen nicht noch jemand zuvorkäme. Ihr erster Blick fiel auf die
Szene draußen. Die ganze Landschaft war von milchigem Mondscheine ge-
flutet; die von der Höhe herabsteigenden Wolken verloren sich am wei-
ten Horizont, und das dunstige hohe, freie, sternenlose und mattblasse
Himmelsgefilde wandelte sich allmählich in einen reinen, glänzenden,
durchscheinenden Kristallpark. Das Grün der Bäume geriet im diamante-
nen Licht noch lieblicher; der Fluss gurgelte vorbei; ein lindes Wind-
lein tupfte die Zweige an, deren Schatten denn auch mit einem eigen-
willigen Tanze antworteten.
   "Was ist denn JETZT los?", fragte Maria etwas erschrocken, als sie
aus dem Speiseraum hinten Geschrei und Gebrüll noch bis in den Tanz-
saal vernahm.
   Alle sprangen auf, um der Sache nachzugehen. Es ging dort hinten
hoch her, und es wurde schwer debattiert und gestritten, aber immer
wieder aufgelockert von schlagartigem donnernden Gelächter. Dennoch
fühlten sich Maria und ihre Bekannte nicht wohl in ihrer Haut, da sie
wohl eine Riesenrauferei sich anbahnen wähnten. Milkau schaute nun
draußen nach dem Rechten und kam alsbald zurück.
   "Halb so schlimm. Der Geometer Felicíssimo meinte, jetzt müsse ge-
nug sein mit diesen fremden Tänzen, und jetzt wären einmal die brasi-
lianischen dran ... Die Musikanten können sie aber nicht; den Burschen
passt so etwas Neumodisches, von dem sie keine Ahnung haben, auch
nicht; gut, und der Maßbandspezialist gibt nicht nach, zeigt einige
Schritte, pfeift herum, lässt bei der Kapelle nicht locker ..."
   "Ja, und dann?", fragte Maria.
   "Anscheinend hat Felicíssimo seinen Willen bekommen, und wir erle-
ben gleich einmal ein paar einheimische Tänze."
   In der Tat hatte der Vermesser seinen Kopf durchgesetzt; und er
ließ die Kapelle so lange an ein Stück hinprobieren, bis etwas heraus-
kam, was einigermaßen dem Takt des Tanzes entsprach, der ihm vor-
schwebte. So weit, so gut, die Musiker gingen also auf ihre Plätze,
und die Leute rannten unter heftigem Gelächter in den Saal, um nur ja
einen guten Platz zu ergattern. Dann herrschte gespannte Stille. Nie-
mand rührte sich mehr. Die Tanzfläche stand bereit, denn die Leute sa-
ßen alle oder lehnten irgendwo an den Türen und Fenstern. Felicíssimo
trällerte den Kapellenmitgliedern die Melodie vor. Und es ging nicht
lange her, da hatten sie die Instrumente gestimmt und legten los mit
einem gemessenen, um nicht zu sagen schmalzigen Stück. "Was wird das
denn jetzt?", fragte einer aus der Menge. Der schwankende, bereits
schielende Felicíssimo peilte die Mitte des Saales an und schrie, vul-
go lallte:
   "Freunde, d-das ist der Chorado!"
   Unter heftigem Auf und Ab der Arme versuchte er, seine Finger als
Kastagnetten zu gebrauchen. Seinen ungelenken Händen war aber kein Ton
zu entlocken. Das Musikstück stöhnte sich gequält, schmachtend dahin,
und der einsame Tänzer in der Mitte versuchte sich mit allerlei Gri-
massen und Verrenkungen über Wasser zu halten. Er drehte sich um die
eigene Achse, ging nieder, zog das Bein an, aber nie war ein Zusammen-
hang mit dem Takt herzustellen. Die groteske Darbietung brachte die
Herumstehenden wenigstens zum Lachen. Besoffener hätte der Vermesser
nicht sein können, vollkommen mattgesetzt. Felicíssimo gab noch eini-
ge Schwünge zum Besten und, wie ein Schiff unvermittelt seinen Kurs
schwenkt, steuerte voll die Wand an, auf die er mit einem entsprechen-
den Krach auftraf. Jetzt ging's erst richtig los; alle schrien vor
Schrecken auf, andere suchten das Weite, wieder andere fanden das
Spektakel ganz erheiternd. Der Vermesser fing sich an der Wand ab, um
wenigstens seinen Kopf zu retten, und plumpste mit voller Wucht auf
einen leeren Stuhl. Mit voller Inbrunst spielte die Gruppe ungeniert
weiter. Felicíssimo unternahm noch einen Aufstehversuch, aber die Um-
stehenden hielten ihn zwecks Abwendung weiterer Unfallgefahren nieder.
Er fügte sich und dankte ihnen mit mit dem typischen gerührten Blick
eines Betrunkenen.
   Eine Zeitlang war niemandem zum Tanzen zumute, und die Musik
schleppte sich solo mit ihren Schmachtfetzen weiter. Mittendrin aber,
einem Faun der Antike gleich, sprang Joca in den Saal und tanzte
drauflos. Seine Brasilianerseele vergaß einmal den schmerzlichen Hei-
matverlust und sein Leben unter lauter Fremden. Die Musik schlug tief
verborgene Saiten und Tasten in seiner Seele an und entrückte den Mu-
latten über sich selbst hinaus in ungeahnte Sphären der Freude und des
Glücks. Körper und Rhythmus waren eins, sein stolz erhobenes Haupt
zeugte von Vergnügen ohne Maß und Ziel, sein halb offener Sägezähne-
mund war von einem Lächeln überzogen, und seine Haare genossen freien
Lauf und schienen bald borstig nach oben zu ragen, bald locker in die
Stirn zu fallen. Die Füße überwirbelten das Parkett und landeten, um
selbige in ein frenetisches Schütteln zu überführen. Die Hände hingen
nach unten und lieferten die schnalzende Begleitung, verschränkten
sich, als ob er die Luft umarmen wollte, oder fanden über dem Haupt
zusammen; und so schien es, als er trunken vor Musik auf Zehenspitzen
mit offenen Armen durch den Raum glitt, als könne er jederzeit abhe-
ben. Mal eilte er, sich heftig schüttelnd und mit eng geschlossenen
Füßen, hoppelnd durch den Saal; mal glitt er streng nach dem Takte da-
hin, lässig, schmachtend, mit gesenktem Haupte und aufgerissenen Au-
gen, wobei er sich mitunter, fast auf Knien schwebend, einer Frau nä-
herte, als wolle er sie in verhohlener, aber wie man erriet, dennoch
fieberheißer, betörender Wollust entführen. Tigergleich sprang er so-
dann auf, fand zu seiner Raserei zurück, wie wenn ihm der Teufel ein-
geschossen wäre, schüttelte sich über und über und schoss mit einer
Behendigkeit in der Luft herum, dass er dort festzuhängen schien wie
ein Kolibri. Und hätte die Kapelle jetzt ausgesetzt und vermeintlich
alles zum Erliegen gebracht, hätte Joca es gar nicht mitbekommen, da
er in seinen triumphierenden Körper, in seinen seltenen Glücksmoment,
in das Aufbäumen seiner Seele angesichts des alten Heimattanzes alles
hineinlegte, was sein Selbst ausmachte; kurz, er tanzte nicht mehr auf
Musik, er WAR Musik.
   So ging's noch einige Zeit weiter mit jener Einmannvorstellung. Jo-
ca hätte eine Tanzpartnerin gesucht, eine Frau, die auf ihn eingegan-
gen und mit seinen Schritten und Wendungen klargekommen wäre. Es kam
aber keine; keine fühlte sich berufen, sich mit ihm in Takte dieses
Tanzes zu schütteln und zu rütteln. Neugieig waren wie wohl, aber das
war's auch. Tiefe Traurigkeit überfiel ihn, wenn er an die Gespielin-
nen in seiner Jugend dachte, an die schwarzen Frauen, zu denen er ein-
fach einen Draht fand; und so fühlte er sich allmählich müde, nur noch
müde ... Aus der Brust keuchte es, die braunen Beine hielten nicht
mehr so stramm durch wie noch eben, mit der Spannkraft eines Pfeilbo-
gens ...
   Ausgelaugt beugte er den arg mitgenommenen Körper, und der letzte
Mohikaner des bodenständigen Tanzes überließ das Feld den Siegern mit
ihrer anderen Musik, anderen Formen des Tanzes. Der deutsche Walzer
floss herein, klar, weit und breit wie die blaue Donau.

   Im Saale waren die Paare außer Rand und Band. Dabei war auch noch
Marias Freundin. Draußen setzte sich der Mond immer klarer durch und
verwies die Schatten in ihre Grenzen. An einem der Fenster vergaß ein
Paar vor lauter Wispern das Tanzen. Es hörte schier nicht mehr auf zu
raunen, doch einen Augenblick lang ließ sich die Geliebte mit einer
Zeile aus einer alten Ballade vernehmen: "Ob ich dich liebe? Frage den
Stern ..." Maria erschauderte geradezu ob dieses Liebesliedes, und un-
bewusst starrte sie gen Himmel, nahm den Mond in den Blick und murmel-
te mit bebender Stimme:
   "Traurig ... einfach traurig!"
   Wie von einer geheimnisvollen Stimme dazu geleitet, wandten sich
Milkaus Gedanken dem leblosen Erdengefährten zu. Er malte sich die Öde
einer Welt ohne Leben aus, eine Wüstenei, die wie ein wunderlicher
Leichnam dem Unendlichen entgegentreibt ... Er legte sich weiters zu-
recht, wie dereinst auf dieser glanzvollen, glückstrahlenden Mutter
Erde die Lichter ausgehen und unendliche Trauer und nie gekannte Stil-
le das bisherige Reich des Trubels und des Frohsinns übernehmen wür-
den. Und der Vorbote des Todes, die Einsamkeit, für wie viele war sie
denn nicht jetzt schon ihr täglich Brot? ... Er dachte an sein eigenes
Leben, an sein Geschick, diese Einiglung, in der er immer noch dahin-
lebte, eingepfercht in einen unsichtbaren Zwinger, der ihn von der Au-
ßenwelt abhielt, ebenso wie er diese nicht an sich heranließ. Ja, sein
tristes Leben als Hagestolz, ohne Weib, dafür mit mystischen Anwand-
lungen, war es nicht schlimmer als der Winter der Ewigkeit? ...
   Der Ball war zu Ende und die Zeit der Heimkehr gekommen. Ein alter
Mann kam zu Maria ans Fenster und holte sie ab. Das Mädchen verab-
schiedete sich von Milkau wie von einem alten Bekannten, den man als-
bald wieder träfe. Milkau, der sich von seinem vorübergehenden Tief
wieder aufgerappelt hatte, suchte Lentz und entdeckte ihn unter ande-
ren Siedlern draußen auf dem Hof.
   "Oh, ich dachte schon, du würdest heute den Allerletzten machen",
rief Lentz dem Gefährten bestens gelaunt entgegen. "Ich wusste gar
nicht, dass du dermaßen auf Feste stehst."
   "Ja, es baut mich auf, wenn ich die Anderen fröhlich sehe. Und da
wollte ich dir nicht im Wege stehen, wenn du dich auf deine Weise amü-
sierst."
   "Naja, ich habe hier mit diesen Freunden über Deutschland gespro-
chen, das heißt, auch über ein zukünftigen, wie wir es uns vorstellen
... Oder, Kameraden?"
   "Genau!", stimmten sie ein.
   "Ist ja gut", meinte Milkau, "aber jetzt machen wir uns auf den
Heimweg."
   "Also Marsch! Ade, Kameraden; bis zum nächsten Mal!"
   Stundenlang zogen sie dieselbe Straße wie am Morgen dahin. Plötz-
lich, am Ausgang eines riesigen, üppigen, an einen majestischen Berg
geschmiegten Kaffeehaines, erblickten sie, noch inmitten der Pflanzen,
eine Reihe schwarzer Kreuze und weißer Steine.
   "Was ist das denn?", war Lentz ratlos.
   "Ein Friedhof!", antwortete Milkau.
   Und er fügte hinzu:
   "Du siehst, im Gelobten Land hat Gevatter Tod keinen Platz. Die Er-
de rückt so wenig Grund für Gräber heraus wie irgend möglich. Sie sind
hier und da am Fuße des Berges verstreut, verdüstern nicht die Macht
des Lichtes und werfen keinen Schatten auf das Leben, das sie in sei-
nem Triumphzuge vereinnahmt und sich gefügig macht."


                                 -VI-

   Maria kamen die flüchtigen Begegnungen mit Milkau nicht mehr aus
dem Sinn. Gar manches, was der ihr Fremde gesprochen hatte, blieb in
ihrem Gemüte haften; und jenen Balltag behielt sie als Balsam für ihre
Seele in Erinnerung, als Hoffnungsschimmer in der Bitternis ihres Le-
bens.
   Die Geschichte der Maria Perutz war ebenso einfach wie traurig. Ge-
boren war sie in der Kolonie, in dem Hause, wo sie immer noch wohnte.
Als Tochter von Einwanderern lernte sie ihren Vater nie kennen, der
kurz nach seiner Ankunft in Brasilien noch im Übergangslager in Vitó-
ria verstorben war. Die Mutter stand als Witwe wie eine bessere Bett-
lerin da und verdingte sich als Magd beim alten August Kraus, einem
alteingesessenen Kolonisten in Jequitibá, ein schönes Stück von Port
entfernt. Mit dem Siedlerhof lief es gut, und sonst wohnten dort noch
der Sohn mit Gattin und ein Enkel, der ein Jahr vor Maria geboren war.
Es war ein ruhiges Leben, die Kinder wuchsen wie Geschwister auf, und
August, der in jenem Alter schwebte, da man geneigt ist, sich selbst
mit seinen Lebenserfahrungen dem Jungvolk weiterzugeben, erfüllte der
Kinder Seelen mit eben solchen Erinnerungen von weit her aus deutschen
Landen. Maria hatte den Tod ihrer Mutter, der ihrer frühesten Kindheit
zuzurechnen war, verdrängt und vergessen. Ihre Familie, da, wo sie
hingehörte, war der Kraus-Hof, sonst nichts. Von ihren eigenen Wurzeln
abgeschnitten, lebte sie über Jahre einfach so dahin, ohne die Welt zu
erfassen, in der sie die kleine graue Maus war und in der sie in ihrer
Unbefangenheit aufging. Sie lebte, ohne etwas zu hinterfragen, in vol-
lem Glücke und in Einklang mit dem großen Ganzen, einem Baume gleich.
Nur Leiden zeigt das Leben auf; nur Schmerz erweckt Bewusstsein.
   Maria, jetzt schon ein junges Fräulein, verstand sich besonders gut
mit dem "Opa", dem sie auch half, wo es nur ging. Mit ihm hätte sie
ewig reden können; ihm sang sie Lieder, deren Sinn sie gar nicht rich-
tig erfasste, Liebesschnulzen, Sagenhaftes, Träume ferner Länder, aber
genau das Richtige für die nostalgische Stimmung des alten Mannes, ge-
rade als ginge die Sonne dabei extra für IHN auf. Erst nach dem Abend-
essen war Abschied angesagt. Dann setzte sich der Alte auf einen Baum-
stamm draußen auf dem Hof, schmauchte sein Pfeiflein und sinnierte,
träumte vor sich hin, und zwar immer das Gleiche: "Kehr ich einst zur
Heimat wieder ... mein Schlesierland ...". Dort, in Rübezahls Bergen,
war er beim Hüten des Viehes oft selig eingenickt. Jeden einzelnen
Stern konnte er beim Namen nennen. Und er ließ sie nicht aus den Au-
gen auf jenem "Zug der Tränen" durch den blauen Himmel, bis sie ihm
bei der Auswanderung auf der Überfahrt eines Nachts in die Wogen ent-
glitten und so mir nichts dir nichts durch andere ersetzt wurden ...
Aber selbst hier, in dieser anderen Welt, tauchten mitunter einige der
alten Bekannten auf, wie von ihrem Klüngel ausgerissen, und in jugend-
licher Wiedersehensfreude hieß er sie alle namentlich willkommen. Eben
um die alten Sterne zu sehen, wollte August Kraus unter freiem Himmel
sitzen, um dann mit sich im Reinen wegzunicken. Emma, Augusts Schwie-
gertochter, und Maria machten die Betten, und nach getaner Arbeit ging
Maria hinaus, weckte ihn sachte, legte den Arm um ihn und brachte ihn
vorsichtig ins Schlafzimmer, wo sie ihn ins Bett legte, das so leicht
und fluffig wie ein Baumwollballen war. Doch eines Nachts, und es war
die letzte, fand ihn das Mädchen auf, wie er mit dem Gesicht nach un-
ten auf den Boden gestürzt war, eiskalt.
   Nach dem Tode von Großvater Kraus änderte sich für Maria allmählich
manches in der Familie. Kummer hatte sie erfasst und öffnete ihr die
Augen, wie das Leben wirklich ist. Dazu kam, dass die Eheleute wie der
Teufel das Weihwasser fürchteten, es könne sich zwischen ihrem Sohn
und Maria etwas anbahnen; und sie wusste, die Herrschaften würden aus
Habgier solches durchkreuzen und die beiden auseinanderbringen. Trotz
allem aber begab es sich, dass der junge Moritz Kraus und Maria sich
näher kamen, ZU nahe. Eine solche Liebschaft war in der Kolonie nicht
ungewöhnlich und pflegte in die Ehe zu münden, so auch in ihrem Falle,
dachte sich Maria trotz allem. Sie hatte aber die Rechnung ohne die
Alten gemacht, deren Gier den Fortgang, wie er sich gehört hätte,
durchkreuzte. Sie hatten sich für ihren Sohn eine Emilie Schenker aus-
ersehen, eines der reichsten Mädchen am Orte. Es ging nicht um große
Klassenunterschiede, wie sie bei den Kolonisten mit ihrer meist glei-
chen Herkunft ohnehin nicht anzutreffen waren, wenn sie zwischen Maria
und Moritz einen Keil trieben; sie waren nur höchst scharf darauf, den
Sohn in die Familie Schenker hineinzuhieven. Die Eltern, denen es noch
nicht aufgegangen war, wie es zwischen Moritz und der Magd bereits
stand, und die nur vorsorglich verhindern wollten, dass sich mehr und
gar Dauerhaftes daraus entwickelte, beschlossen nun, den Sohn in einen
Ort weit weg von Jequitibá zu verfrachten, wo er sich als Knecht ver-
dingen und jene Liebe vergessen sollte, während sie die Schenkers be-
arbeiten würden, um die gewünschte Ehe zuwegezubringen.
   Maria konnte es gar nicht fassen, wie ihr Geliebter zu Kreuze kroch
und sich anscheinend sogar bereitwillig in die Pläne der Eltern fügte.
Sie war völlig aus dem Gleis geworfen. Sie konnte Moritz nicht mehr
erreichen und hatte auch keinerlei Mumm, auf einer Heirat zu bestehen.
Was war sie denn gar, eine elende Magd, eine Überflüssige, die jeden
Moment auf der Straße landen konnte? Wie könnte sie sich nur erdreis-
ten, mit ihren kleinlichen Wünschen der Familie an den Karren zu fah-
ren? Für den Burschen war das Techtelmechtel die zwangsläufige Folge
dessen gewesen, dass man eine solche Gelegenheit vor der Nase hatte.
Es ging um Triebe, nicht um Liebe; und wenn sie ihm jetzt eine andere
Frau, noch dazu mit dem entsprechenden Zaster, herüberschöben, würde
er sie freiweg heiraten.
   Allmählich änderte sich etwas mit Maria; und sie war nicht mehr die
über den Dingen stehende Magd, die alles im Griff hatte. Sie fiel in
ein tiefes schwarzes Loch, und zwar, wie sie zunehmend erkannte, nicht
nur aufgrund der erlittenen Enttäuschung, sondern weil sich auch in
ihrem Leibe etwas geheimnisvoll aufrührte, zu Schwindelgefühlen führte
und ihr die Augen trübte und ihr kalten Schweiß über die Stirn laufen
und durch die Kehle Übelkeit aufsteigen machte. Wenn sie im Kaffeehain
plötzlich von derlei heimgesucht wurde, gab sie die Arbeit auf und
warf sich in der prallen Sonne einfach auf den Boden. Die blonden Haa-
re vermengten sich mit dem Grün der Halme; der Busen schwoll ihr an,
sodass sie sich etwas frei machte, um sich Erleichterung zu verschaf-
fen; der Mund wurde ihr feucht und wässrig, und die halb geschlossenen
Augen verloren sich im blauen Himmelsmeere, und alles, oben, unten,
schien von den Wogen geschüttelt wie auf hoher See ... Wenn in der Ko-
lonie etwas los war, ging sie voller Vorfreude hin, würde sie ja etwa
Moritz antreffen. Dieser ließ sich aber weder in der Kirche noch bei
Jakob Müllers Ball blicken. Maria, die ob ihres Schicksals seelisch
immer tiefer absackte, musste es besonders schmerzlich empfinden, die
Anderen lustig und fidel zu erleben; und, den Tränen nahe, die sie
aber gerade noch im Zaume hielt, musste es für sie erst recht fürch-
terlich sein, andere in aller Unbefangenheit ihre Liebesdinge aushan-
deln und ihre Minneschwüre ablegen zu hören. Umso weniger vergaß sie
die Unterhaltung mit Milkau. Wiewohl für ihn eher ein Schwatz, ein
Schnack ohne Tiefgang, hatte sie aus seinen wenigen Worten doch seine
grundmenschliche Art herausgehört, die sich ihr wie Balsam in die See-
le tröpfelte ... In ihrem verkorksten Leben, durch das sie mehr wil-
lenlos tappte denn ging, klammerte sie sich an jenen Lichtblick, wie
man der Wasserstelle in der Wüste entgegenlechzt. Wer er wohl sei?
Wann sie ihn denn wiedersähe? ... Ihr war klar, dass ihre Begegnung so
flüchtig war wie die Spur, die ein Spatz in der Luft hinterlässt; aber
sie scheute sich, sich jenes winzige Zeitfenster zu vergegenwärtigen,
in das sie in ihrer getrübten Wahrnehmung und wirren Erinnerung in ei-
ner Art träumerischer Verschwörung mit sich selbst zunehmend mehr hin-
einzulegen begann, Ausgeprägteres, Stärkeres, Entscheidenderes.
   Eines Morgens, da der Bauer gerade zu seinem Kaffeehain am Hofanger
unterwegs war, kam ein Mulatte hoch zu Esel gemächlich auf ihn zu.
   "Heißt Ihr Franz Kraus?", fragte der Farbige von seinem Reittier
herab und hielt ihm ein Schriftstück aus seiner Tasche vor die Nase.
   "Stimmt, ja."
   "Also, dann nehmt dies zur Kenntnis", verkündigte er und überreich-
ten dem Bauern hoheitsvoll den Schrieb.
   Kraus blickte darauf, und weil er auch nach dreißig Jahren in Bra-
silien immer noch nicht Portugiesisch lesen konnte, stand er blöd da.
   "Ich kann nicht lesen ... Worum geht's denn?"
   "Also jetzt! Da sind sie schon das ganze Leben in Brasilien, und
dann das da!", zeigte sich der Mulatte empört. "Wo auch immer ich hier
hinkomme, kann keine alte Sau unsere Sprache ... Saubande!"
   Der Kolonist war auf diesen unverschämten Ton nicht gefasst. Er
hatte schon eine deftige Antwort parat, aber da fuhr der Blaue fort:
   "Noch einmal zum Mitschreiben: Das ist eine Vorladung. Sie geht vom
Herrn Ortsrichter aus und besagt, dass Ihr das Nachlassververzeichnis
für Euren Vater selig August Kraus liefert. So hieß er doch? Der Orts-
termin ist morgen, hier, Mittag ... Die Justiz übernachtet in Eurem
Hause. Richtet etwas zum Essen her ... nicht etwas, das Beste. Und
dann die Zimmer ... Drei Richter sind's, der Landschreiber und ich,
zwar der Büttel, aber besser als nichts."
   Als der Bauer "Justiz" hörte, zog er untertänig den Hut und war wie
vom Blitz getroffen.
   "Also: Richtet alles für die Aufstellung her. Verhehlt wird nichts;
sonst geht's in den Knast. Klar? Also, ade; das reicht jetzt. Die Vor-
ladung braucht Ihr nicht; Ihr könnt sie ja eh nicht lesen ... Ende der
Vorstellung!"
   Er gab dem Esel die Sporen und ließ ihn in einen leichten Trab fal-
len. Auf die Straße zu, noch vor dem Gatter, drehte er sich noch ein-
mal um. Kraus stand noch immer wie angewurzelt da und knüllte an sei-
nem Hut herum. Der Büttel schrie: "Kost und Logis für fünf, wie ge-
sagt!"
   Und weg war er, doch der Kolonist hatte sich immer noch nicht weg-
gerührt. Das Wort "Justiz" war ihm mächtig in die Glieder gefahren. In
der Gegend erstarrte jeder, wenn er nur "Gericht" oder "Prozess" hör-
te. "Gesetz" und "Recht" hatten hier einen besonderen, einschüchtern-
den Klang.
   Franz Kraus war die Lust zum Arbeiten gründlich vergangen. Käseweiß
ging er ins Haus zurück. Als die Bäuerin ihn so sah, musste sie ihm
jedes Wort betreffs der Vorladung aus der Nase ziehen. Danach blieben
sie den ganzen Tag über stumm. Maria hätte sie wohl aufzurichten ver-
sucht, aber der Schauder der Anderen, als wäre ihnen der Leibhaftige
erschienen, schlug wieder auf sie, die ohnehin schon Verzagte, zurück
und nahm ihr jegliche Kraft, auch noch die Herrschaften zu trösten.
Immerhin raffte sie sich am Nachmittag auf, ihnen klarzumachen, dass
tags darauf jene Gäste ins Haus stünden und dass es schon angesagt
sei, ihnen bestmöglich aufzuwarten. Das sah auch Franz ein, und mit
Hilfe Emmas und der Magd begann er, sich auf die Beherbergung einzu-
richten. Die Frauen schlachteten Hähnchen, buken ihr typisches
Schwarzbrot, räumten das Haus auf und stöberten die alten Möbel in den
Zimmern, die sonst gerne übersehen wurden. Alles wurde vorher beredet,
denn wie es in Zeiten des Kummers zu sein pflegt, wollte niemand für
sich Verantwortung tragen, sondern suchte Anlehnung und Bestätigung.
   Den Morgen darauf war der Hof herausgeputzt. Kraus in seinem Sonn-
tagsgewand stieg im Hof von einem Fuß auf den anderen und harrte der
Vertreter des Rechtes. Die Frauen hatten sich ebenfalls in Schale ge-
worfen, ließen sich aber von ihrer Arbeit in der Küche nicht abbrin-
gen.
   Es war schon Mittag vorbei, als die Justiz in der Ansiedlung ein-
zog. Die hohen Herren ritten erstklassige Pferde, die sie sich wie
üblich von den reichen Porter Kaufleuten geborgt hatten. Den Hut in
der Hand, rannte der Kolonist auf sie zu und konnte es schier nicht
erwarten, ihnen herunterzuhelfen. Einer der Richter überließ ihm das
Pferd, während die anderen es selbst an einen Baum banden; und dann
staubten sie mit ihren Peitschen die Stiefel ab und stampften kräftig
auf dem Boden auf.
   "Mann, bin ich fertig!", rief der Ortsrichter aus und reckte und
streckte sich.
   "So eine Schinderei! Vier Stunden bis hierher ... Gut, Ihr seid
hier, weil es Euch obliegt, aber wir zwei, der Kollege und ich, sind
ja eigentlich nicht beteiligt; wir dachten da eher an eine Art Spa-
ziergang. Irgendwie muss man ja auch die Zeit hinüberbringen ...",
sagte der Amtsrichter und peilte mit dem Monokel den Staatsanwalt an.
   "Ach, ich dachte, ich hätte hier schon etwas zu tun?", fragte die-
ser und fummelte an seiner blauen Brille herum.
   "Hab ich ganz vergessen; Ihr seid ja auch für die Waisen zustän-
dig ..."
   "Hier gibt's aber keine ... Alle, mein Herr Doktor, sind volljäh-
rig", kam ein alter, olivenfarbiger Mulatte mit einem spöttischen Lä-
cheln dazwischen. Seine Gesichtszüge, die sich bald hinüber, bald her-
über verzerrten, erinnerten an eine Waldkatze, einen Maracajá, und das
war denn auch sein Spitzname. Er war der Landschreiber.
   "Hineinspaziert, meine Herren ... Im Namen des Gesetzes: Das Haus
ist unser", verkündete der Amtsrichter und wandte sich hinein.
   "Und wo ist der Listenführer, dieser Schwachkopf?", fragte der
Staatsanwalt im vollen Bewusstsein seiner Würde.
   "Dieser Trottel hängt noch immer bei unseren Pferden herum und
schert sich um uns einen blauen Teufel", erklärte der Schreiber.
   Nun drängten alle in die gute Stube, peitschten auf die Möbel ein,
fluchten, machten sich über die armseligen Bilder an den Wänden lustig
oder schnüffelten in Richtung Küche, aus der ein verführerischer Es-
sensduft wehte.
   "Das riecht sich ja großartig an!", rief der Amtsrichter aus.
   "Na, komm doch raus, hübsche Maid!", schrie lachend der Staatsan-
walt.
   "Ist denn da niemand drin, oder was?"
   Angesichts des Lärms eilte Kraus ganz aufgeregt in die Stube, als
hätte er bereits seine erste Straftat hinter sich, und brachte sich
untertänig in Stellung.
   "Wie wär's mit Rum?", befahl die Waldkatze. "Aber nicht so einen
Fusel."
   Der Kolonist ging und kam sogleich mit einer Flasche und einem
Glas zurück.
   "Ja, gibt's denn in diesem Hause nicht mehr Gläser?", murrte der
Schreiber.
   Der Bauer ging noch einmal und kam unter einem Schwall von Ent-
schuldigungen und dieses Mal vier weiteren Stampern zurück.
   "Also ran an die Pulle, meine Herren!", munterte der Staatsanwalt
auf, packte die Flasche und schenkte dem Amtsrichter ein:
   "Erst Euch, Dr. Itapecuru, als dem Ranghöchsten ..."
   Dann füllte er auch die anderen Gläser:
   "Ihr auch?", wurde der Ortsrichter bedacht.
   "Schon, aber ganz wenig."
   "Na, ziert Euch doch nicht so!"
   "Jetzt Ihr, Herr Sekretarius", fuhr der Staatsanwalt mit dem Aus-
schank fort.
   "Aber Dr. Brederodes", scherzte der Schreiber, "Ihr wollt mir doch
wohl nicht ein volles Glas andrehen?"
   Zufrieden schmatzte der Maracajá seine Füllung hinunter:
   "Nicht schlecht ... Also, eines haben diesen fremden Teufel sofort
heraußen, nämlich wie der Parati mundet."
   "Meine Herren", warf Brederodes ein, "ich bitte um ein Rechtsgut-
achten. Darf der Gerichtsdiener, unser Büttel hier, vor der Amtshand-
lung schon trinken?"
   Dieser stand nämlich schon erwartungsvoll in der Tür. Die Anderen
lachten, ohne aber diese Frage zu klären.
   "Herr Doktor, also wenn Ihr mich fragt ...", wand sich der Mulatte
unsicher mit erwartungsvoll ausgestreckter Hand an den Tisch heran.
   "Na schön! Aber am Ende vergesst Ihr noch die Glocke zu läuten, und
dann wäre alles null und nichtig."
   "Hab ich alles im Griff!"
   Mit einem Schluck putzte er den Schnaps weg, als fürchtete er, je-
mand könnte ihn ihm nehmen. Blut schoss ihm ins Gesicht und machte es
noch schwärzer als ohnehin schon, und seine Augen tränten und nahmen
einen roten Schleier an.
   "Was ist jetzt mit dem Kerl und unserem Mittagessen? Zeit wär's ...
Schaut doch bitte nach dem Rechten, Schreiber. Ihr regelt das für
uns", sagte Dr. Itapecuru mit einem Blick durch sein Monokel auf den
Untergebenen.
   Der Protokollführer ging Richtung Küche und schaute um den Haus-
herrn, und als er zurückkam, meldete er:
   "Doch, doch, es ist schon alles bereit; wir können essen. Am besten
kommen wir gleich zur Sache und übernehmen das Regiment, denn wenn wir
warten, bis uns die entgegenkommen, sitzen wir am Sankt-Nimmerleins-
Tag noch hier. Übrigens, zum Händewaschen geht's hier hinein."
   Dann zeigte er ihnen die Schlafgemächer. Zunächst kamen sie in ein
Zimmer mit zwei richtigen Betten und raschelnden, bequemen Strohma-
tratzen.
   Der Ortsrichter betastete mit Wonne eins der Betten:
   "Hier schlafen wir ja wie die Götter!"
   "Aber, halt! Nur zwei Betten; wir sind doch vier?", wandte der
Staatsanwalt ein.
   "Nein, nein, hier drüben ist ja noch ein Zimmer." Der Schreiber öf-
nete ihnen eine Zwischentür.
   "Hier lässt sich's bleiben, für heute jedenfalls!", zeigte sich der
Amtsrichter angetan. "Ich fühl mich wie zu Hause. Manoel, meine Pan-
toffeln!"
   Der Büttel stand bereit. Die Kollegen taten es dem Chef nach, und
bald darauf gingen die drei umgezogen, gewaschen und erfrischt, wie
wenn sie hier daheim wären, in bester Stimmung in die Stube, wo be-
reits das Mittagessen auf sie wartete.
   Mit großem Appetit schmausten sie die ortsüblichen Speisen und
sprachen auch dem Biere kräftig zu. Der Bauer und der Büttel trugen
gemeinsam auf, und erst gegen Ende kam Maria, die bis dahin in der Kü-
che zu tun hatte, mit dem Kaffee. Als die einzige Frau unter all jenen
Mannsbildern war ihr äußerst unbehaglich zumute, zumal ihr die
schlüpfrigen, lüsternen Blicke keineswegs entgangen waren.
   "Sieh mal an! Heißer Feger! Die würde ich jederzeit ...", erdreis-
tete sich der Strafverfolger.
   "Pfeift Eure Augen zurück, Brederodes!", mahnte ihn der Gemeinde-
richter und puffte ihm in die Seite.
   Maria stellte verunsichert jedem Gast seine Kaffeetasse hin. Sie
bedankten sich, nicht ohne zweideutige Blicke, mit denen sie die Augen
des Mädchens fixierten.
   "Was, auch Ihr, Herr Dr. Sousa Itapecuru?", fiel dem Schreiber das
läppische Gegaffe des Amtsrichters durch sein Monokel auf.
   "Schauen wird man wohl noch dürfen ..."
   Als das arme Mägdelein seine Pflicht hinter sich hatte, wandelte es
mit linkischen Schritten hinaus. Während die Anderen das Thema noch
einschlägig vertieften, braute sich in Brederodes etwas zusammen. Sei-
ne Augen unterliefen ihm mit Wollust, und er dachte ernstlich daran,
sich die Frau gefügig zu machen.
   Nach der Mahlzeit zog man sich entspannt zum Rauchen zurück; und
angesichts der allgemeinen Schlappheit ergriff der Schreiber die Ini-
tiative und forderte den Ortsrichter auf:
   "Ja, will Seine Exzellenz nicht allmählich mit der Anhörung begin-
nen?"
   Dr. Paulo Maciel streckte sich gähnend, als halste ihm jemand et-
was furchtbar Mühsames auf.
   "Doch, doch, Pantoja, gehen wir's an."
   Der Maracajá setzte die Brille auf, schob sie für's Erste nach oben
und bereitete den Schreibtisch vor. Der Gerichtsdiener reichte ihm ein
Aktenköfferchen, aus dem er Schreibzeug und ein Geschäftsbuch hervor-
holte, in dem er eine angemerkte Seite aufschlug. Er suchte sich das
beste Licht, setzte sich und begann, über die herausgefaltete Seite
gebeugt, mit der Festhaltung des Sachverhalts. Paulo Maciel nahm den
Bürgermeisterplatz ein und eröffnete, sichtlich lust- und interesse-
los, die Amtshandlung.
   "Die Einleitung hätten wir", meldete der Schreiber.
   "Gut, dann legen wir los", wandte sich der Ortsrichter an den Ge-
richtsdiener.
   Dieser ging mit der Glocke in der Hand vor das Haus hinaus und sag-
te mit näselnder Stimme sein Sprüchlein auf:
   "Ortstermin seiner Exzellenz des Gemeinderichters ... Ortstermin
seiner Exzellenz des Gemeinderichters ..."
   Unter der stechenden Sonne brach dieses Gellen in die Weltenstille
ein und brachte Angst und Schrecken über die Bewohner.
   Anschließend wurde der Hausherr aufgerufen, der sich verwirrt und
eingeschüchtert heranwand. Es war ihm versagt, den Sachverhalt zu ver-
innerlichen; er erkannte seine eigene Stube nicht wieder, die nunmehr
als Gerichtssaal fungierte und in der jene Männer das Sagen hatten,
während er selber sich fremd und als Gefangener fühlen musste. Sie
hießen ihn herankommen und stellten ihm allerlei Fragen, die er mit
brüchiger, bebender Stimme beantwortete. Als er erklärte, dass sein
Vater vor vier Jahren verstorben sei, knurrte der Schreiber:
   "Also sowas! Meint der, man könne einfach so erben und weitertun,
wie wenn nichts gewesen wäre, und die Rechtspflege und Staatskasse
übergehen!"
   Paulo Maciel, lustlos wie er war, erhob sich und trug dem Land-
schreiber auf:
   "Pantoja, Ihr macht hier weiter und nehmt alles auf."
   Sprach's und zog sich ins Zimmer zurück, wo die Kollegen, behag-
lich aufs Bett ausgestreckt, vor sich hin rauchten. Er legte die Joppe
ab und tat es ihnen gleich.
   In der Stube löcherte Pantoja den Bauern mit Fragen und malte ihm
die Folgen etwaiger Fehlangaben in den schrecklichsten Farben aus:
   "Wenn Ihr mir irgendetwas bezüglich des Hauses, des Grundes oder
des Kaffeehains verschweigt, kriegt Ihr es mit der Justiz zu tun ...
Ihr mögt mit allen Wassern gewaschen sein, aber ich bin erst recht
kein heuriger Hase ... Steuer-, Gebührenhinterziehung, darauf steht
Schreckliches!"
   So würzte er seine Drohungen mit allerlei Fachausdrücken, was dem
Deutschen erst recht das Herz in die Hose sinken ließ. Die Anhörung
spielte sich nur zwischen den zweien ab. Am Fenster schlummerte der
Büttel vor sich hin und öffnete ab und zu kurz seine schlafroten Au-
gen, um sie aber gleich wieder zufallen zu lassen, und aus dem Zimmer
hörte man nicht einmal mehr das Plauschen, sondern nur noch das eintö-
nige Schnarchen wie von Leuten, die in das Reich der Glückseligkeit
entrückt sind.
   Zwei Stunden brauchte der Schreiber für die Bestandsaufnahme, die
in sein Belieben überstellt war, und ließ nur die Stelle für die Un-
terschriften des Ortsrichters und der Schätzer frei, die er als anwe-
send führte und die aber nur seine Erfüllungsgehilfen waren, also wie-
der einmal das übliche Komödienspiel, das ihm einen dicken Reibach
einbrachte.
   Als alles über die Bühne war, hatte der Hausherr noch brav seine
Unterschrift abzuliefern, ohne die geringste Erklärung zu bekommen,
und war damit entlassen. Dann nahm Pantoja die Brille ab, bewegte sich
auf Zehenspitzen zum Zimmer des Ortsrichters und flüsterte:
   "Ich wär dann so weit, Herr Doktor."
   Maciel erschrak ob der Stimme seines über ihn gebeugten Untergebe-
nen mit seinem teuflisch-verschlagenen Blick.
   "Ach, Ihr? Schon fertig?"
   "Wo Kohle ist, Herr Doktor, da brummt der Kessel. Und hier gibt's
wahrlich genug ... Da hätte ich noch einige Bescheide für etliche
Nachbarn hier herum auf Lager, die ihren Nachlass verjubeln, ohne dass
wir dran teilhaben. Mögen Euer Ehren so gut sein, diese abzusegnen,
damit wir morgen diese Bestandsaufnahmen auch gleich durchziehen kön-
nen. Es springt nicht viel heraus, aber ..."
   "Ach, Pantoja, lassen wir doch diese armen Teufel in Frieden! Ihr
sagt ja selber, dass nicht viel zu holen ist."
   "Nein, mein Doktor, was im Netz ist, ist gefischt; und auch einer
Zitrone kennt man erst nicht an, wieviel man herauspressen kann."
   "Ihr seid mir schon so einer", wehrte der Gemeinderichter halbher-
zig ab, als wollte er die Gier des Schreibers in seine Schranken wei-
sen. Letztlich stand er aber resigniert auf und hatschte in Hemdsär-
meln und Hausschuhen hinüber, um die Bescheide abzuzeichnen.
   "Neves, Arbeit gibt's", trug der Schreiber dem Büttel auf, und er
las ihm anhand der Unterlagen die Namen der Vorzuladenden vor: "Witwe
Schultz ... Witwe Kölner ... Otto Bergweg ... alles Nachbarn hier.
Auf morgen um neun, hier."
   "Zu Befehl, Chef. Bin gleich wieder zurück."
   Der Gerichtsdiener steckte die Bescheide in die Tasche und sattelte
seinen Esel.
   "Seid ihr noch zu retten?", rief der Ortsrichter, als er zu seinen
dösenden Genossen ins Zimmer zurückkam. "An einem solch schönen Tag
herumduseln! Meine Herren, hinausspaziert!"
   Er öffnete die Fenster und ließ einen Schwall linden Lichtes her-
ein, gerade recht dosiert durch das üppige Laubdach der Bäume, die
das Haus umgaben.
   Die beiden öffneten ihre Augen.
   "Na, der Schlaf scheint Euch trefflich zu munden", meinte Maciel,
an den Amtsrichter gewandt. Und zum Staatsanwalt: "Das war jetzt aber
schon genug, oder?"
   "Ach, genau für dergleichen haben wir doch den Kolonisten, als 
Stütze und Aufwärter der Justiz. Maciel, wenn ich Ihr wäre, also für
diese Nachlassgeschichten zuständig, ginge ich von hier gar nicht
mehr weg."
   "Schon recht, Dr. Brederodes", wandte der Amtsrichter ein, "es ist
eben aber auch unsere Pflicht, die uns zu unseren Schäflein treibt,
wie einen Priester; ja, es ist geradezu unsere Religion. Nur mit Dr.
Maciel ist das so eine Sache. Ihr wisst ja selbst, dass wir ihm zure-
den mussten wie einem kranken Ross, bis er zu dieser kleinen Tour be-
reit war."
   "Mir tun die leid ...", rang sich der Gemeinderichter ab.
   "Wie das denn, Herr Doktor?", bohrte der Schreiber nach.
   "Naja, das sind sind doch arme Schlucker, nicht?"
   "Die Justiz braucht aber auch etwas zum Schlucken. Habt doch lieber
mit Euch selber Mitleid, Eurer Familie, Euren Landsleuten! Was meint
Ihr, Herr Amtsrichter?"
   Itapecuru, der dastand und mit seinem Kamm sein schütteres Haar zu
scheiteln versuchte, wandte sich mit amtsgemäßer Miene um, richtete
sein Glas und warf sein Gutachten in die Waagschale:
   "Das fragt Ihr ausgerechnet mich? Ich war zwölf Jahre Gemeinderich-
ter oben in Bahia. Fragt dort ruhig nach; ich war der Schrecken der
Hinterbliebenen. Nicht ein Fall entkam mir. Ich ging von Tür zu Tür im
Namen des Gesetzes, wo immer ein Todesfall eintrat, und dreißig Tage
darauf ließ ich sie antanzen. Da klingelte es in der Staatskasse! Die-
se Jungspunde heute zieren sich ja so ... Capitão Pantoja, dass nie-
mand herzhaft anpackt, daran krankt ja gerade unser Land heute. Wir
sind eben noch von der alten Schule."
   Ihn freute es sichtlich diebisch, sich mit diesen Worten mit dem
Untergebenen gemeinzumachen, der aber politisch im Ort die erste Geige
spielte.
   "Entschuldigung, Dr. Itapecuru, schiebt mich nicht in die Schublade
der Romantiker", verwahrte sich Brederodes entschieden. "Der Capitão
weiß, dass ich den Kolonisten Beine mache."
   Paulo Maciel fühlte sich etwas ausgebootet und äugte ein wenig ab-
gehoben auf die Kollegen, die der Raubkatzenblick des Schreibers fest
im Griff hatte. Sie hatten sich zum Spotte am Gemeinderichter zu einer
unheiligen Allianz zusammengefunden, und ihr Lachen offenbarte ihren
jeweiligen Charakter, das albern polternde Itapecurus, das gebellarti-
ge Brederodes' und das eher leise, kraftlose des Schreibers, das ihm
in Form eines breiten Lächelns über das Gesicht zerlief.
   Alle traten auf den Hof hinaus und spazierten ziellos umher. Die
Sonne hatte nachgelassen und einem milden Nachmittage Platz gemacht.
Von den in der Küche eingepferchten Kolonisten sah man nichts. Haus
und Hof waren fest in der Justiz Hand. In Pantoffeln und Hemdsärmeln
ergötzten sich die jungen Beamten am angenehmen Nachmittag; bloß der
Amtsrichter hielt nichts von der weichen Welle und erschien korrekt in
feinem Zwirn und mit Krawatte, wohlgekämmt und mit einer Samtkappe.
Der Schreiber trug seinen schwarzen, allerdings schon recht verbliche-
nen Alpaka-Gehrock. Das Haupt, und damit auch seine Glatze, bedeckte
ein Wollkäppchen.
   Sie drehten einige Runden und beschauten die Hofstatt von allen
Seiten; und als sie den Orangenhain durchstöberten und die je nach
Reifegrad gelben und roten Früchte prangen sahen, bemerkte Paulo Ma-
ciel:
   "Schon bewundernswert, wie sauber und gepflegt hier alles ist. Hier
passt alles, alles gedeiht, alles ergötzt uns ... Was für ein Unter-
schied, wenn wir in die Ländereien der Kabokler kommen ... alles ver-
wildert, verkommen, und als logische Folge davon herrscht bittere Ar-
mut. Und da sage noch einer etwas gegen die Einwanderung!"
   "Wenn ich Euch recht folge", so der Staatsanwalt, "müssten wir ei-
gentlich alles den Deutschen hinschmeißen?"
   "Anders", erklärte der Landschreiber, "kann man Dr. Maciels Worte
kaum auslegen."
   "Ja", setzte dieser noch eins drauf, "mir machte es keine schlaflo-
sen Nächte, bekämen das Land Ausländer, die es besser zu schätzen
wüssten als wir. Was meint IHR denn, Dr. Itapecuru?"
   Der Amtsrichter setzte eine amtliche Miene auf.
   "Ja und nein, wie der Dialektiker sagt. Man kommt nicht drum herum,
dass es dem Brasilianer an Analysegeist gebricht. Und wenn ich Brasi-
lianer sage, dann meine ich uns alle. Und ohne analytisches Denken ist
nun einmal alles nichts. Was ist denn mit Spanien?: Abgestürzte Philo-
sophen! Mit einem Volk, das alles systematisch durchdenkt, nimmt es
keiner auf ..."
   "Wie das denn?", rief der Ortsrichter. "Dann wären also die Verei-
nigten Staaten ..."
   "Das Land der Zerdenker, mein Freund. Nicht knackbar. Schaut, ich
hab's nun einmal mit der Analyse. Sehe ich jemanden, studiere ich sei-
ne Gewohnheiten; und da brauche ich gar nicht einmal groß etwas über
seine Gedanken wissen - nein, mir reicht eine Einzelheit, etwa was der
Mann isst, und ich glaube mich nicht wesentlich zu irren, wenn ich ihn
psychologisch einordne. Ja, dann habe ich ihn in meiner Schublade!"
   "Ja, Ihr seid ja Doktor Schreckenstein", meinte Maciel und zwinker-
te dem Strafverfolger und Waisenwart zu.
   "Und ich sage, über die neuen Völker, die diese Schule intus haben,
steht nichts auf. Als ich in Frankreich war, ging ich im Parlament ein
und aus und bewunderte die jungen Geister, wie sie den Haushalt zer-
klaubten und die Steuern zerpflückten ... Meint da doch, in Paris, so
eine Type, und noch dazu ein Landsmann von uns, zu mir: 'Ja, Lamartine
oder Berryer, so vor fünfzig Jahren, DAS waren noch Redner! Die ganze
Welt hörte ihnen zu, als sie hier, in der Nationalversammlung, das
Wort ergriffen. Die heutigen reißen ja nicht einmal mehr eine Markt-
frau um die Ecke vom Hocker.'"
   "Was habt Ihr da geantwortet?"
   "Ja, meint Ihr, ich hätte da nur brav genickt?", lachte der Amts-
richter in seinem vollen Bass drauflos. "'Da seid Ihr aber gewaltig
auf dem Holzweg', antwortete ich; 'was taten diese früher denn, als
reden um des Redens willen, Stroh dreschen, Nichtiges ausbreiten? Und
dann verplapperten sie sich so, dass sie es büßen mussten, diese Nar-
ren! Schaut dagegen die Heutigen an, zwar noch kaum trocken hinter den
Ohren, aber streng wissenschaftlich ausgerichtet; ja, die stellen al-
les auf den Prüfstand. Kümmern wir uns doch nicht um die Form, sondern
schauen wir auf die Inhalte! Die sind das Um und Auf. Achtet nicht
darauf, WIE sie es sagen, sondern WAS sie sagen ...'"
   "Und was war dann?"
   "Ich hatte ihm das Maul gestopft, wie Ihr Euch denken könnt. Brasi-
lien, um zum Thema zurückzukommen, röchelt unter jenem Rhetorik-Geist.
Wie verhext. Bis zu einem bestimmten Grad stimme ich Dr. Maciel zu,
dass wir dem Stärkeren das Feld überlassen müssen. Dem Glücklicheren
weiche ich, wie der Dichter sagt."
   Gesagt, bereut. Wenn Blicke töten könnten, hätten es Pantojas bei
ihm vollbracht. Von kaltem Schauer überströmt, versuchte er noch stot-
ternd, seine Stellungnahme zurechtzubiegen, aber der Schreiber verbau-
te ihm jegliches Hintertürchen und hielt ihm empört vor:
   "Es befremdet mich, aus dem Munde zweier Staatsdiener dergleichen
zu hören. Es gibt keine Vaterlandsliebe mehr, null, aus. Mögen die
gnädigen Herren immerhin ihre Heimat dem Fremden in den Rachen schmei-
ßen, aber solange es auch nur EINEN Mulatten gibt, der dieses Brasi-
lien, sein Ein und Alles, liebt, solange habt ihr euch geschnitten,
ihr Herren Doktoren."
   Und der braune Mann ballte die Fäuste, knirschte mit den Zähnen
und ließ ein düsteres Lächeln über sein Gesicht huschen.
   "Aber, Capitão, hört doch", floss der Amtsrichter honigsüß vor lau-
ter Feigheit über; "Ihr werdet doch nicht an meinem Patriotismus zwei-
feln? Wer hätte denn mehr Beifall geklatscht, als vor neun Jahren die
Briten landen wollten, um ihre Landsleute herauszuhauen, und unser
Präsident ihnen knallhart antwortete: 'Eine Kugel könnt ihr haben!'?"
   "Das kann schneller kommen, als man glaubt", war der Staatsanwalt
überzeugt. "Bald werden wir zeigen können, was uns das Vaterland wert
ist."
   "Ja, und dann kommt's auf, auf wessen Seite jene Opportunisten ste-
hen", deutete Pantoja finster an.
   "Und wann wäre dann dieser große Augenblick?", beutelte sich Maciel
ab.
   "Wenn der deutsche Kaiser kommt, den Ihr ja scheint's so verehrt",
sagte Brederodes voraus, "und mit seiner Flotte unsere Häfen blo-
ckiert."
   "Und was gedenken die Herren dagegen zu tun? Meint Ihr, Brederodes,
dass wir mit unserem Landsknechthaufen und unserer besseren Hafenpoli-
zei EINEN Hund hinter dem Ofen hervorlocken?"
   Brederodes lachte schallend auf und hatte noch ein Ass im Ärmel:
   "Und die Vereinigten Staaten, mein Lieber?"
   "Stimmt!", lachte jetzt auch Itapecuru. "Das große Amerika würde ja
wohl kaum tatenlos zuschauen."
   "Ich habe keine Ahnung, wie weit sich hier die Vereinigten Staaten
einmischen würden. Aber was hätten wir auch schon davon? Dann hätten
wir halt DIE als Herren, nichts weiter."
   "Und die Monroe-Doktrin? Amerika den Amerikanern ..."
   "Den NORDamerikanern. 'Wer Amerikaner ist, bestimmen wir', das sa-
gen die doch selbst", witzelte Maciel.
   "Nein, nein, Nord wie Süd. Unser Kampf gilt den Europäern. Niemand
kann ein Land gegen dessen Willen niederhalten ...", mischte sich der
Schreiber dazwischen. "Maciel, mit einer Schachtel Zündhölzer macht
man eine Armee nieder; und Schluss ist mit diesem europäischen Gesin-
del."
   "Wie das jetzt, Capitão?", fragte der Amtsrichter, wie um sich lieb
Kind zu machen, und wartete andächtig auf die Antwort.
   "Wie?", fragte der Schreiber, jetzt voll in Fahrt, zurück. "Da wird
einfach angezündet, die Häuser, der Wald, die Städte. Wir stiften ei-
nen Brand, vor dem die Welt den Atem anhält!"
   "Ach ja", winkte der Gemeinderichter ironisch ab. "Polen und Trans-
vaal haben es uns ja trefflich vorgeführt ..."
   "Die Polen trugen den Kopf zu hoch; die zählen nicht. Die Buren wa-
ren zwar übel dran, hatten aber etwas einzubüßen", schrie Brederodes
außer sich hinaus. "Dort hatte man es mehr mit dem Zaster, den Berg-
werken, als der Ehre. Aber wie schaut's bei uns aus? Wir haben nichts
zu verlieren, und das zum Glück, und das hilft dem Volk auf die Sprün-
ge."
   "Gut gesagt, Doktor. Ihr seid einer von uns", lobte der Schreiber.
   "Capitão, stellt nicht meine ehrlichen Gefühle in Frage", flehte
der Amtsrichter fast.
   Der Landschreiber zuckte verächtlich mit den Schultern.
   "Die Herren reden groß von Unabhängigkeit", bemerkte der Ortsrich-
ter sarkastisch, "aber wo wäre die denn? Brasilien ist eine Kolonie,
wie gehabt. Die Regierung hat doch nichts wirklich zu melden; wir wer-
den doch nur gegängelt."
   "Von wem?", unterbrach Brederodes und fuchtelte mit dem Augenglas
herum.
   "Jetzt mal ganz langsam. Sagt mir: Wo wären wir finanziell unabhän-
gig? Welche Währung gibt den Ton bei uns an? Wo liegt unser Gold? Wo-
für dienen unsere läppischen Lappen, außer sie in englische Pfund ein-
zutauschen? Wo ist unser Staatsvermögen? Das Wenige, was wir haben,
ist verpfändet. Die Zolleinnahmen schieben die Engländer ein. Dampfer
haben wir nicht, keine Eisenbahnen, das heißt, auch da haben die Aus-
länder die Hand drauf. Ist das jetzt die Beschreibung für 'Kolonie',
ja oder nein, auch wenn wir uns eine freie Nation nennen dürfen? ...
Hört: Ihr glaubt mir nicht, aber ich würde liebend gern das schützen,
was unsere Heimat ausmacht, unsere Sprache zumal, aber bevor wir uns
so elend dahinschleppen wie jetzt, ist ein Ende mit Schrecken besser,
ein Rothschild-Mann, der unsere Finanzen schmeißt, und ein deutscher
Oberst, der für Ordnung im Revier sorgt."
   "Ein Zyniker, wie er im Buche steht!", fiel Brederodes bleich, mit
zitternden Lippen, über ihn her.
   Einen Augenblick herrschte Stille. Der Schreiber genoss den Streit,
Itapecuru hielt sich lieber heraus, aber Paulo Maciel zeigte das Lä-
cheln des Überlegenen:
   "Kanzelt mich nur ab; aber was wahr ist, bleibt es auch. Eine Kolo-
nie sind wir und bleiben wir ...", bestand er eisern auf seinem Stand-
punkt.
   Brederodes lief puterrot an und brüllte wutentbrannt hinaus:
   "Ja, solange es solche Schleimer wie Euch gibt!"
   "Na, na, wer wird denn gleich ausfällig werden", mahnte Maciel ru-
hig und nahm den Faden wieder auf:
   "Wenn wir noch nicht zum Hintersassen einer Großmacht geworden
sind, dann nur deswegen, weil wir sie gegeneinander ausspielen. Ver-
einsamerika, das wissen wir, überschattet den ganzen Kontinent. Eines
schönen Tages wird es sich nicht mehr damit begnügen, andere von uns
abzuhalten, nein, da langt es selbst hin, wie bei Kuba."
   "Es heißt ja, Deutschland habe etwas vor. Heißt es ... Aber Ihr,
werter Herr Kollege, wisst, dass Aussagen solcher Tragweite Hand und
Fuß haben müssen", stellte Dr. Itapecuru letztinstanzlich fest. Sicht-
lich bemüht, sich nicht zu sehr festzulegen, schaffte er es, hiermit
einen beschwichtigenden Ton in den Streit zu bringen.
   "Mir wird wohl kaum jemand widersprechen", meinte der Schreiber,
wenn ich sage, dass wir im Fadenkreuz der deutschen Gier stehen. Der
Kaiser bezahlt aus seiner Privatschatulle deutsche Geistliche und Leh-
rer in Rio Grande do Sul und Santa Catarina."
   "Und was tut der Staat dagegen?", fragte Brederodes rhetorisch und
fuhr fort: "Zieht den Schwanz ein, weil's ja immer nur um das kleinli-
che Parteiengeplänkel geht. Capitão, was wir brauchen, ist jemand, der
in Rio mit eisernem Besen auskehrt und das Gezücht beseitigt, das sich
nur bereichert und sich um das darbende Volk einen Teufel schert, da-
für aber dem Ausländer hinten hineinkriecht und ihn leben lässt wie
Gott in Frankreich."
   "Nun, jetzt haben wir ja bald Wahlen ... Da könnten die Herren ja
ihre Meinung deutlich kundtun", regte der Gemeinderichter an.
   "Es geht doch nicht um diesen Parteienhickhack angesichts der Wah-
len, wo auch wieder nur eine Hand die andere wäscht", entgegnete der
Schreiber, der Maciels Worte etwas zu ernst genommen hatte.
   "Gerade da liegt ja der Hase im Pfeffer", meldete sich Brederodes,
"dass wir uns von den Wahlen Wunder erwarten und die Parteien das Land
dabei munter an die Wand fahren."
   "Den Parteien kommen aber die Stimmen der Fremden sehr gelegen",
legte Paulo Maciel den Finger in die Wunde. "Diese Deutschen werden
nie richtige Brasilianer, aber als Stimmvieh für unseren Capitão Pan-
toja sind sie hochwillkommen."
   Der Schreiber fühlte sich in seiner zwiespältigen Rolle als Orts-
vorsitzender seiner Partei einerseits und als glühender Patriot ande-
rerseits ertappt und versuchte sich herauszuwinden:
   "Aber diese Deutschen tun doch niemandem etwas. Das sind ehrbare,
biedere Leute, wahre Lämmer ... Für die leg ich die Hand ins Feuer."
   Brederodes lachte höhnisch auf:
   "Das ist der wunde Punkt. Die Deutschen sind durchtrieben. Sie wis-
sen sich demütig einzuschleichen, wir profitieren von ihrer Leistung,
ihrem Geld, doch klammheimlich kommen sie empor, bis sie sich über uns
hermachen und das Land unterjochen. Capitão: Ende der Diskussion; den
Fremden unser Zündholz; Brasilien, nur du auf ewig! FEUER!"
   Eine solche Diskussion war nicht nach Paulo Maciels Geschmack, und
so wandte er sich innerlich aufgewühlt ab und dem Hause zu, wobei er 
Orangenblätter abzupfte und an ihnen herumschnüffelte. Die Gefährten
folgten ihm und wollten ihr Thema nicht einfach fallen lassen. Maciel
dachte im Stillen: "Genau das treibt uns doch tagtäglich um ... Sind
wir nun eine Nation oder nicht? ... Schrecklich, wie man jetzt mit dem
Schicksal eines Volkes spielt ... Wehe den Schwachen! ... Was richten
wir gegen die Wölfe aus, wo wir doch von Natur aus so gutmütig sind,
so gleichgültig und sorglos? Wenn sie nun wirklich anrücken? ... Dann
bleibt kein Stein auf dem anderen. Armes Brasilien! ... Etwa war das
mit der Unabhängigkeit doch nicht so schlau. Naja, Geduld ... Und was
brächten uns die Vereinigten Staaten schon Gutes? Sie sind immer auf
Herrschaft aus. Der ganze Erdteil liegt den Bestien zum Fraße bereit.
'Südamerika'? ... Da lach ich doch! ... Aber gibt's denn gar keinen
Ausweg, 'keinen Gott, König oder Helden', der uns im Fall des Falles
heraushauen könnte? ... Naja, im Grunde haben wir uns das alles selber
eingebrockt ... Etwa hat's ja auch sein Gutes: Mit dem Land geht's
aufwärts, die Verwaltung läuft, die Polizei sorgt für Ordnung ... 
war's das? Soll's das gewesen sein, sich in Ruhe und Ordnung zu son-
nen? Und unsere Sprache, unser Brasilianertum, erniedrigt, verfallen,
an den Rand gedrängt ... aber liebenswert, für uns das Höchste, weil
es unser ist, oh, das UNSERSTE ...!"
   So schlenderten sie zum Haus zurück, wo schon das Abendessen auf
sie wartete. Sie setzten sich zu Tische, und der Büttel, der seine
Vorladungen bereits ausgetragen hatte, wartete ihnen auf. Jetzt traute
sich auch Maria wieder heraus, musste sich aber allerlei Anzüglichkei-
ten gefallen lassen, doch schienen alle zwei- und eindeutigen Bemer-
kungen seitens der Justizszene von der Armen abzuperlen. Selbige setz-
ten sich nach dem Abendessen draußen vor dem Haus wieder zusammen und
diskutierten unter dem Dache unzähliger Sterne bis spät in die Nacht
weiter.
   Dem Amtsrichter machte immer noch der Eindruck mangelnden Patrio-
tismus zu schaffen, den er durch seine Bemerkungen bei Pantoja hinter-
lassen hatte, fürchtete er doch dessen politischen Einfluss, und so
griff er das Thema wieder auf.
   "Mein Nationalismus, Capitão, ist nicht neu. Seit dem Studium bin
ich von ihm erfüllt, ohne Unterlass."
   "Aber das waren noch andere Zeiten; aber heute ...", stichelte Ma-
ciel nicht ganz ernst gemeint.
   "Heute, mit den Jahren", widersprach Itapecuru und setzte sein Glas
auf, "bin ich nativistischer denn je. Keine Macht dem Fremden! Unter
uns, ich sehe mich sogar als Jakobiner."
   "Aber Ihr ließt es Euch in Europa gutgehen, und wenn Ihr könntet,
wärt Ihr auch gleich wieder dort", warf Maciel ein.
   "Mein Vaterland lasse ich nicht her. Ich leugne ja gar nicht, dass
Europa auch etwas für sich hat. Aber wer, wie Ihr, meint, er müsste
sich schämen, Brasilianer zu sein, dem empfehle ich nur einmal einen
genaueren Blick auf die Alte Welt. Das hilft. Es stimmt, dass ich ein-
mal ein Tief in meiner Vaterlandsliebe erlebte, aber als ich dann sah,
wie innerlich heruntergekommen Europa war, war mein Stolz auf dieses
Brasilien gleich wieder entflammt. Ich heiße auch nicht zufällig Ita-
pecuru. Das kommt daher, dass wir damals beim Studium regelrecht von
einer patriotischen Woge erfasst waren ..."
   "Wie meint Ihr das?", interessierte sich Brederodes.
   "Als Gonçalves Dias und Alencar Brasilien, den Kabokler, wachrüt-
telten, da antworteten wir Studenten auf unsere Weise ... Ich hieß ja
Manoel Antônio de Sousa; nichts weiter. Sousa klingt irgendwie nach
Galizien. Dann fügte ich eben Itapecuru dazu: Manoel Antônio de Sousa
Itapecuru ... Dergleichen machten alle. Jeder suchte sich einen einge-
boren klingenden Namen dazu, und von da kommen die Tupinambás, Itabai-
anas oder Gurupis."
   Als später das Gespräch erlahmte, forderte der Amtsrichter die Ge-
fährten auf:
   "Meine Herren, wie könnten wir noch die Zeit totschlagen? Wie wär's
mit einem Kartenspiel?"
   Paulo Maciel hatte für seine Zeit durchaus Verwendung und winkte
ab, zumal es ihm lieber war, wenn ihn seine Kollegen mit seinen Gedan-
kel allein ließen.
   "Bitte ohne mich, Doktor. Ich bin müde und will mich hinlegen. Gute
Nacht; also bis später im Zimmer."
   Die Anderen verrissen Maciel, kaum dass er weg war.
   "Schlimm", meinte Itapecuru, "der ist für nichts zu gebrauchen."
   "Kein großer Verlust", fügte Brederodes hinzu. "Einbilden tut er
sich mordsmäßig was, aber was zerreißt er denn?"
   "Lasst ihn doch reden; dann kommen wir schon drauf, was er im
Schilde führt", höhnte der Schreiber grimmig. "Auf eins könnt Ihr Gift
nehmen: Von seiner Arbeit hat er keine Ahnung; da könnte ich Sachen
erzählen ... Eines Tages lassen wir ihn hochgehen. Ein Presseartikel
in der Hauptstadt Vitória, und er ist erledigt. Da haben wir was zu
lachen!"
   "Brasilien herunterwirtschaften, das kann er, und alles schlecht-
machen, was uns heilig ist", sprach Itapecuru besonders betont mit
Blick auf den Schreiber Pantoja, der seinerseits noch ein Schäufelchen
drauflegte:
   "Aber das Geld am Monatsende schiebt er schon ein; das stinkt dann
komischerweise nicht, auch wenn es brasilianischen ist."
   "Wenn das alles hier erst einmal deutsch ist, schiebt er wohl das
Doppelte von seinen Herren ein", ergänzte der Staatsanwalt.
   "Man sagt ja", deutete Itapecuru an, "er schlafe mit einem Deutsch-
Lehrbuch unter dem Kopfkissen?"
   "Logisch, der will uns ja einmal regieren", entgegnete Brederodes.
   Sie lachten und erhoben sich zum Spiel. Der Amtsrichter hatte vor-
sorglich immer ein Kartenspiel für jene Ortstermine dabei, die ihn ei-
gentlich nicht betrafen und an denen er nur zum Zeitvertreib teilnahm.
   Die drei spielten eine Zeitlang, bis sich der Strafverfolger müde
gab und sich zurückzog.
   "Na gut, Capitão, dann machen wir halt mit einem Zweier weiter",
drängte der Amtsrichter, dem vor etwa aufkommender Langeweile himmel-
angst war.
   "Klar, Doktor, macht Euch auf etwas gefasst!", stimmte Pantoja aus
seiner Zigarrenrauchwolke heraus zu.
   Brederodes zog sich auf dem Hof leise den Büttel heran:
   "Pscht - Neves!"
   "Zu Befehl, Doktor?"
   Der Gerichtsdiener schlummerte auf dem Rasen und erhob sich, noch
etwas benommen. Der Staatsanwalt gab ihm einen Auftrag, woraufhin er
sofort aufbrach. Brederodes blieb allein zurück, aufgewühlt von wol-
lüstigen Begierden. Der Büttel war gleich wieder zurück.
   "Nun?", begehrte der Staatsanwalt zu wissen, als er ihn erblickte.
   "Keine Chance, Doktor. Nichts zu holen."
   "Was - wie?"
   "Die Metze ist zugeknöpft wie eine Stiftsdame. Hätten Euer Gnaden
nur ihren vernichtenden Blick gesehen ... Sie würdigte mich nicht
einmal einer Antwort - als ob sie noch etwas zu verlieren hätte! Ihr
habt ja schon bemerkt, wie es um sie bereits steht?"
   Brederodes war außer sich. Blut schoss ihm in den Kopf, er knirsch-
te mit den Zähnen, und zwei böse Raubkatzenaugen durchleuchteten die
dunkle Nacht.
   "Das wird sie mir büßen! Glaubt mir, die soll mich kennenlernen!
Verdammtes deutsches Pack!"
   "Euer Gnaden mögen sich beruhigen ... Ich probier's nochmal." Und
er verzog sich eilends Richtung Haus, um dem Zorn des Strafverfolgers
zu entgehen.
   Letzterer war mit sich allein, halb weggetreten, und sann auf Ra-
che. Im Hause war bereits alles ruhig. Den zwei Zockern war das Spiel
vor Müdigkeit auch zu dumm geworden, und sie hatten sich niedergelegt;
von den Hausbewohnern hörte man ohnehin nichts, und der Büttel ließ
sich nicht mehr blicken. Sein Gift hatte sich etwas gelegt; und bevor
er ewig auf ihn wartete, würde er, Brederodes, sich doch lieber ins
Zimmer verziehen. Dort schnarchte sein Mitbewohner, der Schreiber, vor
sich hin. So legte er sich sachte zu Bett, und er würde bis später in
die Nacht warten. Sein Blut wallte vor Begehren auf, und in seinem
wirren Geiste spielte sich ein Feuerwerk sinnlicher Gelüste ab. Ver-
stohlen erhob er sich und arbeitete sich, nur vom Scheine einer Ölfun-
zel in der Stube geleitet, dorthin, wo er die Schlafkammern der Haus-
bewohner vermutete. Als nun auf dem Gang das Licht nicht mehr aus-
reichte, tastete er sich im Dunklen an den Wänden entlang. Schließlich
kam er an eine Tür, lauschte und versuchte zu ergründen, ob es Marias
Kammer wäre. Ja, das musste sie sein! ... Er versuchte die Tür zu öff-
nen, doch sie war verriegelt. "Mistvieh!", schoss es ihm zornig durch
den Kopf. Am liebsten hätte er die Tür eingetreten, aber ein Funken
Vernunft übermannte ihn und ließ ihn dann doch von derlei Abstand neh-
men.
   "Vielleicht ist es ja auch die falsche ... Da sind wohl die Alten
drin."
   Und so suchte er aufs Geratewohl weiter. Wieder eine Tür. Er horch-
te - nichts! Er drückte die Klinke, und die Tür öffnete sich mit einem
leisen Knarren. Brederodes' Herz klopfte vor Vorfreude. Drinnen hörte
man etwas, wie wenn jemand aufwachte, und es ertönte die aufgeschreck-
te Stimme einer alten Frau:
   "Wer ist da? Du, Maria?"
   Brederodes schlich Hals über Kopf davon, ohne die Tür zu schließen,
und erahnte mehr, als er ihn erkannte, den rettenden Weg zu seinem
Zimmer zurück.
   Am folgenden Tag um neun Uhr morgens kündigte der Büttel mit der
Glocke die Anhörung betreffs des Nachlasses von Krausens Nachbarn an.
   In der Stube waren der Ortsrichter und der Schreiber bereits auf
ihrem Posten am Tisch; und der Staatsanwalt und der Amtsrichter stan-
den am Fenster und guckten zu, wobei sie sich unterhielten. An der
Wand standen weiters ein Mann und zwei Frauen mit einer Reihe Kinder,
harrten ängstlich der Dinge, die da kommen sollten, und warteten, bis
sie aufgerufen würden.
   "Dr. Brederodes, Euer Ehren haben bei diesen drei Nachlassfällen
als Waisenwart Ihre Aufgabe zu erfüllen. Hier sind einige Schutzbe-
dürftige, die Eures rechtlichen Beistands bedürfen", spöttelte der
Landschreiber.
   Der Staatsanwalt lächelte wissend und setzte sich zu Tische.
   "Fällt bei dieser Fete für mich gar nichts ab?", fragte Dr. Itape-
curu mit seinem üblichen geistlosen Grinsen.
   "Euer Ehren, Ihr wisst, dass wir Euren Segen einzig und allein dann
brauchen, wenn alles über die Bühne ist. Jeder bekommt sein Stück vom
Kuchen ..."
   "Gut, wenn ich schon nichts zu tun habe, dann drehe ich draußen ei-
ne Runde, während ihr am Backen seid."
   Er nahm den Hut, richtete das Glas noch einmal auf die Vorgeladenen
und stolzierte hinaus, gefolgt von einem neckischen Lächeln derer, die
die Stellung hielten.
   "Witwe Schultz!", rief Pantoja auf.
   Zögerlich getraute sich eine hochgewachsene, noch junge, Bäuerin
heran.
   "Wie lange ist Euer Gatte selig jetzt schon tot?", stellte der
Landschreiber die einleitende Frage, die eigentlich dem völlig teil-
nahmslosen Ortsrichter zugekommen wäre.
   "Zwei Jahre."
   "Immer das Gleiche ... Niemand schert sich etwas ums Gesetz; hier
wird einfach munter drauflosgeerbt. Damit ist Schluss; das schwör ich
Euch."
   Dann nahm er die Angaben der eingeschüchterten Witwe auf, die ange-
sichts jenes Großaufgebots alles untertänig beantwortete. Der Gemein-
derichter und der Staatsanwalt, die ja kein Interesse am Prozedere
hatten, erhoben sich und stellten sich entspannt ans Fenster. Die Frau
wurde von Pantoja regelrecht auseinandergenommen und hätte sich am
liebsten in ein Mausloch verkrochen.
   "Wieviele Kaffeepflanzen habt Ihr auf dem Hof?"
   "Fünfhundert ..."
   "Was, nur? Wehe, Ihr lügt; dann werden wir uns an anderer Stelle
weiterunterhalten!"
   "Aber, Herr, so Pi mal Daumen halt; einzeln gezählt habe ich sie
nicht. Mein Mann selig ging immer von rund vierhundert aus ... und ich
habe in den zwei Jahren etwa hundert dazugesetzt."
   "Ist ja gut, das kriegen wir schon hin."
   Und ohne weitere Erklärungen schrieb er in das Formular für die
Bäuerin, die Portugiesisch ja nicht lesen konnte, hinein: "FünfZEHN-
hundert Kaffeepflanzen".
   Und so fuhr Pantoja in seiner gewohnten Manier mit der Erstellung
des Nachlassverzeichnisses fort, das heißt er machte alles allein und
rundete bei den entsprechenden Posten kräftig auf und erhöhte damit
auch seinen "Gewinnanteil". Nach einiger Zeit teilte er ihr mit:
   "Ihr könnt gehen. In zwei Wochen kommt Ihr in Port in die Amtsstube
und bekommt alles schriftlich."
   Der Frau fiel ein Stein vom Herzen, und sie war im Begriff zu ge-
hen.
   "Augenblick noch! Wie konnte ich das nur vergessen? Das Wichtigste
fehlt noch", kam die Waldkatze mit einem hämischen Tonfall daher.
   Er kritzelte allerlei Zahlen auf einen Zettel, rechnete herum und
brummte zuletzt sich selbst zu: "Hundertachtzig Milreis."
   Und zur Frau sagte er: "So, ich hab's. Ihr bringt also das Geld für
die Gebühren mit: dreihundert Milreis. Verstanden?"
   "Dreihundert Milreis! ... Dreihundert! ... Oh, mein Gott!"
   "Gott hin oder her, wir sind hier nicht die Heilsarmee ... Und
überhaupt könnt Ihr froh sein, dass Ihr so ungeschoren davonkommt.
Wenn Ihr Euch erst einen Anwalt nehmen müsstet, säßt Ihr schön in der
Tinte ... Dreihundert, Punkt, aus, amen. Und wenn Ihr etwa was groß
herumtratscht, dann wachsen wir zusammen, klar?"
   Die Kolonistin blickte hilfeheischend auf die beiden anderen Beam-
ten, die immer noch gleichgültig in ihr Gespräch vertieft waren. So
ganz ohne Beistand, blieb ihr nichts übrig, als hängenden Hauptes die
Stube zu verlassen. Pantoja rief den nächsten Kolonisten auf, zog sein
übliches Programm durch und kam zur letzten Vorgeladenen.
   Die kleine, junge Frau, die noch in Trauer ging und etwas Abge-
stumpftes, Elendes ausstrahlte, kam herbei. Ein Töchterlein mit fünf
Jahren hing an ihrem Rockzipfel und ein weiteres, kleines trug sie auf
dem Arm, und sein Goldköpfchen hob sich auffällig vom Schwarz der Mut-
ter ab.
   Paulo Maciel war des Herumstehens überdrüssig und setzte sich auf
seinen Platz zurück. Auf einmal interessierte er sich für diese Leute.
   "Seit wann seid Ihr denn Witwe?", fragte er sie.
   "Zwei Monate ...", antwortete die junge Frau.
   "Und wie lange seid Ihr schon in Brasilien?"
   "Erst ein Jahr ... Mein Mann hatte es schon länger mit der Brust -
ja, und dann dauerte es auch nicht mehr lange ..."
   "Ihr standet am Anfang Eures Lebens, könnte man sagen?"
   "Wir konnten gerade noch das Haus hinstellen, roden und pflanzen.
Am Anfang war da gar nichts."
   "Traurig, traurig! Und wie schafft Ihr das jetzt so?", fragte er
voller Mitgefühl.
   Ganz mit sich beschäftigt, fand die Witwe zu keiner Antwort.
   "Es wird ja wohl einen Bekannten geben, der für den Gatten selig
einspringt", versuchte Pantoja, der gewohnt war, immer alles alleine
zu deichseln und dies auch künftig so zu handhaben gedachte, dem Orts-
richter den Wind aus den Segeln zu nehmen.
   Paulo Maciel, der sich nicht in ein Wortgefecht mit dem von allen
gefürchteten Untergebenen verstricken wollte, schaltete auf Durchzug.
   Schließlich fand die Bäuerin zu folgenden Worten:
   "Ich bin dabei, den Hof zu verkaufen, und würde mich dann irgendwo
als Magd verdingen."
   "Ja, wenn das so ist, Pantoja", atmete Maciel auf, "könnten wir uns
die Nachlasssache eigentlich schenken. Lassen wir sie doch einfach
laufen!"
   "Das wär ja noch schöner!", fuhr der Schreiber auf. "Euer Gnaden
haben das Recht zur Begnadigung? Geht's noch? ... Was sagt IHR, Dr.
Brederodes; hier geht es ja auch um eine Waisenangelegenheit."
   "Die Bestandsaufnahme ziehen wir durch", war dem Staatsanwalt völ-
lig klar. "Und wenn Ihr als Ortsrichter das nicht hinbringt, muss ICH
darauf bestehen."
   Paulo Maciel fühlte sich von den beiden in die Enge getrieben. Am
liebsten hätte er diesen unbotmäßigen Schreiber, seinen Untergebenen,
in die Schranken verwiesen oder sonst wohin verfrachtet, auf die Nach-
lasserfassung verzichtet und der armen Frau sogar noch etwas aus der
eigenen Tasche zugesteckt und ihr für ihren weiteren Weg alles Gute
gewünscht. Dazu hätte er sich aber erst einmal aufraffen und seine an-
geborene Trägheit überwinden müssen. War's das wert? Sein Rückgrat gab
das nun einmal nicht her, und in seinen fein gesponnenen Gehirnwindun-
gen baute sich das Bild eines Gefechtes mit seinen Amtsbrüdern auf,
nicht zuletzt jenem Landschreiber, aber auch örtlichem Parteichef,
kurz, dem, der im Sattel saß, eines ruhmlosen Kampfes, an dessen Ende
er nur als Verlierer dastehen konnte ... Richter gehen, Schreiber
bleiben.
   "Gut, ein Vorschlag zur Güte: Überschlagen wir alles, aber ohne
diesen Formalkram", getraute er sich zaghaft heraus. Damit war er
Pantoja ins offene Messer gelaufen.
   "Wieder mal was Neues, um das Gesetz zu unterlaufen ... Hier ist
das amtliche Formblatt, und Euer Gnaden mögen mir nicht mit irgend-
welchen Schmierzetteln kommen. Gesetz ist Gesetz!", sprang der Schrei-
ber sogleich in die Bresche, die ihm der Vorgesetzte geschlagen hatte.
   "Mann, stellt Euch doch nicht so an", tupfte ihn der Strafverfol-
ger an. "Was ist denn an der gängigen Praxis so schlimm?"
   "Schlimm? Na, dass diese arme Frau mehr zu berappen hat. Ist das
nichts?"
   "Aber davon lebt nun einmal der Apparat ...", warf Pantoja lebhaft
ein.
   Und so wurde die Erfassung in aller Härte und mit allen Drohungen
und Kniffen durchgezogen. Als ihr am Ende der Landschreiber zweihun-
dert Milreis abverlangte, brach sie in Tränen aus.
   "Keine Mitleidsmasche! Umsonst ist der Tod, nicht der Staat! ...
Wär ja noch schöner."
   "Aber soviel Geld kratze ich unmöglich zusammen."
   "Verkauft halt Euer Haus!"
   "Aber ja, mein Herr, das will ich ja, alles, was ich habe, verkau-
fen, damit ich die Schulden von den Arztkosten meines Mannes her be-
zahlen kann; und dann muss ich halt dafür arbeiten, was für die neuen
draufgeht."
   "Erst die Justiz ... Wenn Ihr nicht bezahlt, geht auch mit dem Ver-
kauf des Hofes nichts. Ich rücke die Unterlagen nicht heraus, und dann
geht gar nichts."
   "Capitão Pantoja ...", begann der Gemeinderichter zögerlich.
   "Finger weg; das ist meine Sache!", bekam der Schreiber einen sei-
ner Wutanfälle. "Euer Ehren sind ein Grünschnabel, ein ahnungsloser!
Mich wickelt sie nicht ein, mich nicht! ... Alle kommen mit dieser
Heulmasche ..."
   Er wandte sich wieder an die Kolonistin und lachte dreckig:
   "So ein Hase kommt doch immer auf Geld ..."
   Einer Schlafwandlerin gleich, nahm sie die Kinder und schaute, dass
sie fortkam.
   Nach dem Mittagessen sattelte man die Tiere zur Abreise. Der Tag
war so drückend heiß, dass niemandem sonderlich nach Reden zumute war.
Begleitet vom Büttel und dem Hausherrn gingen die Richter zu ihren
Pferden. Pantoja stieß zu ihnen, deutete auf Kraus und munkelte dem
Staatsanwalt zu:
   "Ich hätte da noch etwas mit unserem Freund zu besprechen."
   Er klopfte dem sichtlich peinlich berührten Franz Kraus auf die
Schulter und fügte süßelnd hinzu:
   "Dank für Speis und Trank, Spezi, aber da wär noch etwas ..."
   "Was denn?", zeigte sich der Kolonist beunruhigt.
   "Die Gebühr, mein Freund. Ihr habt es ja, und darum gebt Ihr es
uns am besten gleich. Ich hab's nicht so mit Warten ... also, das
wären vierhundert Milreis."
   Der Mann wirkte, als fiele er jeden Moment hin. Schwindel ergriff
ihn, und es verkrampfte ihm die Kehle. Der Schreiber puffte ihn an
und meinte neckisch:
   "Halb so schlimm; kein Grund zum Erschrecken. Es hätte auch anders
kommen können, mit dem ganzen Gerichtskram und so ..."
   Auf diese Weise freundlich ermuntert, suchte der Bauer wie ein
Traumtänzer das Haus auf.
   "Hut ab, Capitão, wie Ihr Euch durchsetzt", schmeichelte ihm der
Amtsrichter.
   "Das war ja noch gar nichts", wiegelte der Schreiber ab.
   Nach einer Weile, die den Beamten eine Ewigkeit schien, kam dann
der alte Kraus mit geröteten Augen und aufgedunsenen Wangen daher. Er
hatte geweint.
   Pantoja zählte das Geld und schob es ein, unter dem stummen, mit
der Welt fertigen Blick des Kolonisten.
   "Gut, alles klar! Auf gute Freundschaft! Am Monatsende könnt Ihr
die Unterlagen in der Amtsstube abholen."
   Sprach's, und der Trupp war weg.
   "Glückwunsch", meinte Itapecuru, an Paulo Maciel gerichtet. "Da
habt Ihr ganz schön was eingefahren."
   Der Ortsrichter blickte ihn eisig an und würdigte ihn keiner Ant-
wort.
   Und vor dem Bauernhaus stand barhäuptig, den Hut in der Hand, der
Siedler und schaute mit wirren Augen der Justiz nach, wie sie auf der
Straße entschwand ... Und als sie schon lange fort und wieder allge-
meine Ruhe eingekehrt war, war sein Blick noch immer starr in jene
Ferne gerichtet ... Nicht ohne vorher feige um sich zu äugen, brach
in unterdrückter Wut ein Murmeln aus ihm heraus:
   "Saubande!"


                                -VII-

   Maria litt indessen weiter auf dem Kraus-Hof still vor sich hin.
Ihren Moritz hatte sie abgeschrieben; und unter den habgierigen Argus-
augen der Alten fühlte sie sich wie weggetreten, schlurfte durch das
Haus und erledigte gerade noch ihre Haushaltspflichten. Nächtelang
brachte sie kein Auge zu und sinnierte nur daran hin, wie sie der un-
weigerlich auf sie zukommenden Schande entgehen könnte. Zeitweise
träumte sie von Flucht, einfach irgendwohin; sie, die dort Unbekannte,
wäre Anderer Vorurteile entzogen, selbstbewusst; ja, sie trug sich so-
gar mit der Hoffnung, mit der Zeit würde sie ihr eigenes Schicksal
meistern ... Dann wieder kümmerte sie so vor sich hin, von Scheu wie
Scham eingenommen, und sah nur noch den Tod für sich. Jedoch konnte
sie, die Zerbrechliche, sich nicht zu einem Entschlusse durchringen,
und somit blieb sie auf dem Hofe und am Leben, weiterhin in Verzweif-
lung und tiefe Ängste verstrickt ...
   Den Alten war es inzwischen endgültig klar, wie es um das Mädchen
stand; und wenn sie sie so unbeholfen durch das Haus wandeln sahen,
mit ihrem auf die künftige, bittere Mutterschaft deutenden Anblicke,
waren sie von blindem Hasse auf sie erfüllt, sie, die ihnen einen di-
cken Strich durch alle ihre Pläne gemacht habe. Die Ehe ihres Sohnes
mit der Schenker-Erbin konnten sie wohl vergessen; der Zug war abge-
fahren. Und jetzt wisperten sie den ganzen Tag lang an Rachepläne hin,
oder wie sie sich Marias entledigen könnten. Doch so sehr sie sich das
Gehirn zermarterten, kamen sie auf keinen grünen Zweig, nicht einmal
hier, in der Bosheit, vereint. Darüber hinaus hatten sie mittlerweile
eine Heidenangst vor allem, was mit Justiz zusammenhing, zumal durch
ihre kürzliche Heimsuchung. Das Leben auf dem Hofe wurde zu einer ein-
zigen Pein. Man sprach und vertrieb sich die Zeit nicht mehr miteinan-
der, kurz, man vegetierte mehr vor sich hin, als dass man lebte. An
Schimpf und Schelte fehlte es freilich nicht; und im kranken Wahne,
sie endlich loszuwerden, wurde der elenden Magd immer noch mehr aufge-
bürdet. Doch so sehr sie ihre Anforderungen emporschraubten und sie
darüber hinaus auch noch beim Essen darben ließen, konnten sie sie
nicht davon abbringen, brav, mitunter wie schlafwandelnd, ihre Pflicht
zu erfüllen, und sie schon gar nicht zu einem lauten Aufbegehren rei-
zen, was die Alten erst recht zur Weißglut brachte.
   So frettete man sich eine Zeitlang dahin. Als aber eines Morgens
Maria, von der Arbeit müde, in Schweiß und Schüttelfrost gebadet, ei-
nen Teller fallen ließ und zerbrach, brach es aus der alten Emma wie
aus einer Furie heraus. Da stieß Franz hinzu, gleichfalls hasserfüllt,
und ging auf Maria los, die völlig verdattert und verstört das Heil in
der Flucht suchte. Emma schrie ihr noch nach:
   "Schlampe ... Zieh Leine! ... Hau ab!"
   Der Gatte stand ihr in nichts nach, griff sich eine Axt und schwang
sie drohend:
   "Hinaus jetzt, Miststück ... Verzieh dich, Nutte!"
   Maria suchte Schutz in ihrer Kammer; der Alte rannte ihr nach und
konnte sie mit Hängen und Würgen daran hindern, die Tür zu schließen.
Das leichenblasse Mädchen drückte sich keuchend an die Wand und ver-
suchte, ihren Bauch mit den Händen zu schützen. Franz baute sich vor
ihr auf und knirschte mit den Zähnen, wobei ihm der Geifer aus dem
verzerrten Maul rann. Emma packte die Magd schmerzhaft am Arm und
brüllte sie an:
   "Ab jetzt! Da, such deine Fetzen zusammen, Schnalle, und verdufte!"
   Die junge Frau gehorchte wie in Trance. Der Zornesschwall, wiewohl
wie aus heiterem Himmel, flaute dieses Mal nicht ab, im Gegenteil, und
so musste sie unter einem Hagel von wüsten Beschimpfungen ihre Habse-
ligkeiten zusammensuchen.
   "RAUS!", plärrte Emma wie besessen.
   Immer noch von Geschrei verfolgt, trat Maria auf den Hof hinaus und
schritt wacker, ohne Zögern, aus ins Unbekannte. Ihr offenes Haar wi-
derspiegelte inmitten des grünen Laubwerkes das Licht der Sonne ...
Kein Widerwort, keine Klage kam ihr über die Lippen.
   Wie eine Statue wandelte sie dahin, und ihre großen, reinen Augen
wiesen den Kristallglanz eines ausdruckslosen Spiegels auf ...
   Und immer noch verfolgte sie die kötergleich bellende Stimme Emmas:
   "Verschwinde, Mistvieh; nichts als Unglück hast du uns gebracht!
Verflucht seist du!"
   Maria marschierte fürs Erste ziellos fürbass. Unbewusst stellte sie
ihr eigentliches, großes Problem zunächst hintan und widmete sich da-
für den kleinen Dingen. Ein geknickter Baum, ein grüner Kaffeehain,
da ein Bächlein, dort ein Sonnenstrahl, hier ein Tier, das durch die
Tiefen des Waldes huschte, all dies bot sich auf einmal einladend ih-
ren begierigen Pupillen dar. Noch immer achtete sie nicht auf Weg und
Ziel, bis ihre ausgezehrten Nerven nicht mehr mitmachten und sie in
tiefste Niedergeschlagenheit verfiel, die ihr wiederum ihr Schicksal
schärfstens vor Augen führte ... Sie war aus der Heimat verbannt, ih-
rem Ein und Alles! ... Eine Rückblende von ihrer Kindheit an spulte
sich vor ihr ab ... Kaputt! ... Weg, alles verloren durch einen Wut-
ausbruch, dessen Grund ihr nicht in den Sinn wollte ... Und jetzt ein-
fach umkehren, daheim freundlich anklopfen, unter einem Lächeln den
ganzen Albtraum abstreifen? Heim, heim! ... Aber nein doch, so sehr
sich ihr der Gedanke aufdrängte, wurde ihr der Irrsinn ihrer verzwei-
felten Anmutung bewusst, sich wiederzuholen, was erloschen war, tot.
Als sie so dastand und mit geneigtem Haupte an ihrem Leib hinunter-
blickte, brach sie in Tränen aus.
   So begann sie allmählich die Sorge zu quälen, dass sie hier, in
dieser gottverlassenen Gegend, ohne Zuflucht, ohne Obdach auskommen
müsse, was sie antrieb, still ihren Weg weiterzuwandern. Sie wandte
sich den abgelegensten Gehöften zu, da sie ihre Scham die bekannten
Orte umgehen hieß.
   In ihrer Aussichtslosigkeit dachte sie als letzte Rettung an den
Pastor von Jequitibá. Seit jenem Morgengottesdienst hatte sie ihn
nicht mehr gesehen, doch hatte sie jenes zage Bäuerlein in Talar in
angenehmer Erinnerung. Die schlichte, bäurische Seele Marias schöpfte
neue Hoffnung, an die sie sich vertrauensvoll klammerte.
   Als sie nach zwei Stunden Fußmarsch die Kirche und den Pfarrhof er-
blickte, war sie zunächst zutiefst verunsichert. Doch es half nichts;
was hätte sie denn in dieser Welt für einen Ausweg, und so erkühnte
sie sich, wie sie es selbst nicht von sich kannte.
   Sie machte sich an den Aufstieg. Die Trutzburgen gleichenden Bau-
werke verliehen der ausgeräumten Landschaft erst recht einen tristen
Eindruck. Als Menschenwerk in der Öde strahlten sie ihr Weltabge-
wandtheit, Aufopferung und Hingabe entgegen ... Jeder Schritt, jede
Stufe des Aufstiegs rief ihr jenes große Fest in Erinnerung; sie ver-
drängte die Leere der Berge und der stillen Täler ringsum und wähnte
sich von einer Traube von Menschen umgeben, wie sie sich unterhielten
und guten Mutes waren, so als wäre es gestern gewesen. Die wenigen
Augenblicke mit Milkau kamen ihr in den Sinn, und weiter wanderten
ihre Gedanken zur Musik des Harmoniums, die den geweihten Bezirk er-
füllte, während er schlummerte ...
   Oben angekommen, sah sie den wieder in Schuss gebrachten Garten,
der nur noch der Bepflanzung harrte, ein besonderes Herzensanliegen
des neuen Pastors. Aus einer offenen Tür hörte sie Kinder im Takt,
fast melodisch, buchstabieren. Es war die Schule, die des Priesters
Schwester unter sich hatte. Maria trat zagend näher, und die hellen,
grellen Kinderstimmen ließen sie erschaudern. Verstohlen spähte sie
hinein und sah einen dunklen Saal, hinten eine Frau in Schwarz, an
der Wand ein schwarzes Kreuz mit Schweißtuch und blonde Kinderköpfe,
die sich ihr neugierig zuwandten. Sie ging weiter und wusste sich vor
der geschlossenen Haustür schier nicht mehr zu helfen. Von drinnen
hörte man nach wie vor nichts als das eintönige Dahinbuchstabieren
der Kinderschar ... Maria war drauf und dran, aufzugeben, aber die
Angst vor der Einsamkeit in der Öde der Berge und ihr Zwiespalt ange-
sichts dieses ebenso düsteren wie Ehrfurcht einflößenden Hauses ent-
zog ihr alle Kraft ... Schweißüberströmt gaben ihr die Knie nach, und
sie legte ihr Kleiderbündel nieder und lehnte sich an die Wand. Als-
bald aber schöpfte sie neuen Mut und zog die Glocke, die hammergleich
die wohlgeformte Stille zertrümmerte.
   Vom Lärm aufgestört, erschien an der Tür die Pfarrersfrau, deren
verschreckter Blick Maria in alle Glieder fuhr. Frau Pastor wurde aus
Marias wirren Worten nicht schlau und rief ihren Gatten, der sich so-
gleich in der Stube mit Maria traf.
   Maria konnte es nicht fassen. Der stramme Grenadier in Gärtners-
kluft begrüßte sie so sanft und einfühlsam, wie sie es von seinem der-
ben Äußeren her nicht erwartet hätte.
   "Na, was ist denn los, meine Tochter?"
   Maria antwortete nicht und starrte nur verlegen zu Boden, und zu-
letzt kamen ihr die Tränen.
   "Raus damit, was hast du denn?", half die Frau des Pastors mitfüh-
lend nach.
   "Also ... ich weiß nicht wohin ...", schluchzte die Arme.
   Der Pastor schaltete nicht gleich und konnte die Worte nicht ein-
ordnen.
   "Aber du hast doch ein Daheim, oder nicht? ... Dienstboten brauchen
wir eigentlich nicht ...", strömte es immer noch so milde aus seinem
bulligen Brustkorb wie das Säuseln eines Lammes.
   Maria wusste nichts zu sagen. Da versuchte es die Pfarrersfrau mit
einem freundlichen Schulterklopfen:
   "Du hast also deine Stellung verloren, oder?"
   Angesichts dieser aufrichtigen Mitleidsbezeugung konnte sich Maria
nicht mehr zrückhalten und heulte drauflos. Die Hausleute versuchten
das Eis zu brechen und ihr noch mehr zu entlocken. Schließlich beru-
higte sie sich etwas und ging, immer noch unter Tränen, etwas mehr aus
sich heraus und antwortete brav und folgsam. Draußen feierten die Kin-
der unter lautem Geplärre den Schulschluss und rannten außer Rand und
Band den Hügel hinunter. Es war der frohe Ruf der Freiheit ...
   Jetzt kam auch des Pastors Schwester hinzu, eine stämmige, markige
Gestalt wie er. Der Bruder erklärte ihr kurz die Sachlage, und sie,
gewohnt, nichts zu hinterfragen, harrte mit strengem Blick der Dinge,
die da kommen sollten. Der Pastor hatte einen Heidenrespekt vor ihr,
die alles im Griff hatte und ihn mit ihrer Überfrömmigkeit drangsa-
lierte. Dagegen war Frau Pastor die graue Maus im Haus und hatte ge-
genüber der Schwägerin nichts zu melden.
   "Heraus jetzt mit der Wahrheit", forderte sie der Priester mit wis-
sendem, bauernschlauem Blicke auf und schielte auf die Schwester; "du
hast mir immer noch nicht gesagt, warum du vom Kraus-Hof fort bist.
Wenn wir dich nehmen sollen, müssen wir schon alles wissen."
   "Sie wollten mich nicht mehr ... Sie haben mich hinausgeschmissen."
   "O weh, o weh. Dann muss es etwas Ernstes sein. Was hast du denn
angestellt, Tochter, dass sie so mit dir umgegangen sind?"
   Die Lehrerin, die mittlerweile das Mädchen gründlichst gemustert
hatte, brach in einen Lachkrampf aus. Frau Pastor, die ahnte, was kom-
men würde, hätte sich am liebsten aus der Stube geschlichen. Dann aber
siegte doch die Neugier ihrer einfältigen Seele.
   "Schluss jetzt mit der Komödie!", rief die Lehrerin höhnisch aus.
"Man muss doch nur zwei und zwei zusammenrechnen. Warum haben sie, of-
fenkundig ehrbare Leute, dich auf die Straße gesetzt? Hast dich amü-
siert, was? Was gibt's da zu flennen? Sind WIR schuld an deinem Lot-
terleben? Wer SO gestrickt ist, ist hier an der falschen Adresse. Dies
ist ein ehrenwertes Haus, ein Haus Gottes. Verzieh dich! Raus! ..."
   Es war die schlimmste Quelle des Hasses, sexuelle Frustration, die
die Pfarrersschwester so auf die Palme brachte. War nicht sie die al-
te, die unnahbare Jungfer, der zedernverrammte Turm, wogegen die Ande-
re, die elendige Maria, als die Liebende, Trost spendende ihre Kreise
störte?
   "Aber, gute Frau, was habe ich Ihnen denn getan?"
   Da erhob sich der Pastor vom Stuhle und predigte mit seinem verteu-
felt süßlichen Tonfall:
   "Wir sind hier kein Haus der Vergnügungen; hier wandelt man auf den
Spuren Gottes. Geh und geh in dich! Sünde ohne Buße gibt es nicht. Die
deinige ist schon heftig; du hast den Zorn des Herrn auf dich herabbe-
schworen ..."
   Vor Entsetzen blieben Maria sogar die Tränen weg, und sie dachte
nur noch, ob jetzt denn alle verrückt geworden seien. Wohl war aus dem
Blick der Pfarrersfrau etwas wie Mitleid herauszulesen, aber ein in-
halts- und folgenloses. Maria erwiderte ihren Blick und fühlte ihrer-
seits im tiefsten Innern herzlichstes Mitgefühl für diesen Schatten
von weiblichem Wesen. Der Pastor schob sie sanft Richtung Tür und
klopfte ihr noch väterlich auf den Rücken.
   Als das Mädchen fast draußen war, nahm des Priesters Stimme auf
einmal einen immer sachteren, sanftmütigeren Klang an:
   "Geh, meine Tochter ... meine Arme! Was für ein Jammer! Mir tut's
ja so weh, dass ich dich nicht hierbehalten kann ... Ja, wenn dies
kein geweihter Bezirk, nicht die Stätte Gottes wäre ... Geh mit Gott,
aber geh!"
   Und als Maria nun benommen und von der Sonne überrumpelt auf der
Bergeshöhe stand, sang ihr des Pastors Stimme immer noch nach:
   "Gib Obacht beim Hinuntergehen; pass auf den Weg auf! Hier ist es
ja so einsam ..."
   Die Tur fiel ins Schloss, und alles Menschliche ging in einer uner-
messlichen Stille auf. Auf sich allein gestellt und hin und hergeris-
sen zwischen Angst und Scham, rannte sie geradezu den Berg hinunter
und fühlte sich, erhitzt wie sie war, wie wenn die Hügel über ihr zu-
sammenschwappten und sie begrüben. Unten an der Kreuzung entschied sie
sich Richtung Santa Teresa. In ihrem unbedarften Herzen und ihrem wir-
ren Gemüte verquirlten sich alle Schrecklichkeiten des Tages zu einem
einzigen Albtraum: Geballtes Leiden stößt auf kümmerliche Seele. Was
sie vorwärtstrieb, war Angst vor der Nacht, zumal in diesem gottver-
lassenen Dschungel. Die Sonne zog sich allmählich hinter die Berge zu-
rück, und die vom Brande des Tages erlösten Berghänge ließen sich von
der angenehmen Abendsonne verwöhnen. Des Lebens Ausdruck bildete sich
um, die Schatten streckten und reckten sich schläfrig über den grünen
Samt des Grases, eine linde Brise kühlte die fiebrige Erde, und Vögel
hatten sich zu großen Schwärmen in den kristallinen Höhen der Lüfte
zusammengetan ...
   Ganz hinten im Tal stieß Maria auf einen im üppigen Grün eingewach-
senen Weiler. Rauch stieg aus den Schornsteinen; zu dieser Zeit pfleg-
ten sich ja überall hier im Urwald die Auswandererfamilien fröhlich um
den Tisch zu scharen, um des Abendessens zu harren ... Die Arme saß 
auftriebslos am Kamme des Hügels und konnte sich an den Häusern gar
nicht sattsehen. Menschenstimmen stiegen zu ihr herauf, aber ihr er-
schienen sie wie Engelsgesang ... Jetzt kam noch etwas hinzu: Nicht
nur war sie vom Laufen entkräftet und in ihrem Zustande ohnehin ange-
schlagen, nein, jetzt meldete sich auch noch der Hunger, hier, in dem
Land, wo Milch und Honig fließen ... Sie wäre am liebsten einfach auf
die Häuser unter ihr hinuntergesprungen, so sehr fühlte sie sich von
der menschlichen Wärme dort angezogen. Gebieterisch angetrieben vom 
Drange, auch an jener menschlichen Gemeinschaft mit trautem Heim und
innigem Umgang teilzuhaben, stellte Maria ihr Elend erst einmal hint-
an und schritt, vom Hunger getrieben, entschlossen auf jenen Weiler
hinunter.
   Als sie ankam, war niemand zu sehen. Nur die Hunde empfingen sie
mit ohrenbetäubenden Gekläffe; sie aber schritt mit der Ruhe einer
Verrückten einfach durch sie hindurch, was auch die Tiere besänftigte.
Jemand kam aus dem ersten Haus, um nach dem Grund des Kraches zu se-
hen. Männer wie Frauen, immer noch den Mund voll Essen, traten in die
Tür und wollten den Störenfried ausmachen. Angesichts all jener Leute
schoss der Unsteten die Bange ein, und sie wusste nichts Rechtes mehr
zu sagen, als sie sie mit Fragen überschütteten. Nachdem sie nur unge-
reimtes Zeug zur Antwort bekamen, war sich einer sicher:
   "Die tickt doch nicht richtig!"
   Da entstand ein Getümmel, wie wenn sich unter sie eine höchst ge-
fährliche, verrückte Landstreicherin eingeschlichen hätte. Die Frauen
flüchteten sich in die Häuser, und die Männer griffen sich Stöcke und
Knüppel und rückten gegen sie vor.
   "Zisch ab, du Irre!"
   Maria wich der Gewalt, ohne überhaupt zu verstehen, was los war.
Die Hunde bellten wieder wie wild, und jetzt strömten Leute auch aus
den anderen Häusern und stimmten in den großen Chor ein:
   "Irre raus! Irre raus!"
   Das Mädchen konnte nichts als hastig Fersengeld geben. Die Männer 
mit den Hunden blieben noch kurz an ihr dran und gifteten ihr nach:
   "Irre! Irre! ..."
   Maria war bereits an der Straße, rannte aber immer noch wie wahn-
sinnig, um nur ja dieses Nest hinter sich zu lassen. Schließlich er-
reichte sie einen Schachen, durch den ihr Weg führte. Darin war die
Abendhelligkeit erst recht schon am Ersterben. Maria stand unschlüssig
und erschaudernd an jenem Schlunde und blickte hinein, um etwa das
Licht am anderen Ende des Tunnels zu eräugen. Über dem Waldpfade
herrschte ein einziges Hin und Her riesiger blauer und brauner Schmet-
terlinge, die sich bald ruckartig, bald schläfrig dahinwiegten ... Ma-
ria blieb wie angewurzelt am Waldeseingange stehen und konnte sich we-
der zum Weitergehen noch zum Davonlaufen entschließen. Sie konnte sich
selbst nicht erklären, was sie an dieser dunklen, düsteren Welt so ma-
gisch anzog ... Ihren zitternden, gefühllosen Händen entglitt ihr
Kleiderpack. Ausgelaugt und vor allem von der Angst überwältigt, nun
hier, in dieser Öde, schutz- und obdachlos die Nacht verbringen zu
müssen, ließ sie sich am Fuße eines Königs von Baum nieder, und nahm
mit geschärftem Gesicht und Gehör alles in sich auf, was um sie herum
vorging ... Ja, sie schien sogar immer klarer zu sehen, je mehr sich
die Finsternis durch die Waldestiefen schlängelte wie der dunstende,
nicht fassbare Atem von Mutter Erde ... Ihre gestörte Wahrnehmung gau-
kelte ihr vor, die ganze Natur hätte sich verschworen, sie zu ersti-
cken. Schatten, immer mehr Schatten. Gewaltige schwarze Wolken rollten
dem Abgrund des Horizontes zu ... Auf dem offenen Felde nahm im schwa-
chen Zwielicht alles etwas Gespenstisches an ... Die Berge bauten sich
bedrohlich und furchterregend vor ihr auf ... Die Feldwege schienen
zum Leben zu erwachen wie eine Brut Schlangen ... Die versprengten
Bäume weinten im Winde wie Klageweiber aus einer anderen Welt, die die
erstorbene Natur bejammern ... Die Vögel der Nacht krächzten ihr Trau-
ergeschrei hinaus, als wollten sie vor Furchtbarem warnen. Maria woll-
te nichts wie weg, aber die müden Glieder gehorchten den Einflüsterun-
gen der Angst nicht mehr und geboten ihr, sich niederzulegen.
   Die ersten Glühwürmchen begannen in der Tiefe des Waldes ihren
himmlischen Lichtertanz ... An der Himmelskuppel schaltete sich all-
mählich die Sternenwelt an ... Die leuchtenden Tierchen erfüllten zu-
nehmend den ganzen Wald; unmerklich entschlüpften sie den Baumstämmen,
als wären diese für die üppige Beleuchtung der Szene zuständig ... Die
todmüde Gramgebeugte wurde jetzt doch allmählich vom Schlafe überwäl-
tigt, dem sie sich denn auch auf ihrem Kräuterbette hingab ... Die Na-
tur hatte die anfängliche Scheu, sich der Nacht in die Arme zu werfen,
überwunden. Vorher Verschwommenes erschien nunmehr in lebhafter Klar-
heit. Die Berge hatten ihre gewohnte Unbeweglichkeit wiedererlangt,
die vereinzelten Bäume in den Fluren ihren Anschein wirrer Trugbilder
abgelegt ... Auch in der glänzenden Luft fand alles zu seiner gleich-
mütigen Erscheinung zurück. Die Glühwürmchen flogen nicht mehr, son-
dern waren zu Tausenden und Abertausenden auf die Stämme niedergegan-
gen, die einem Schaufenster voller Diamanten und Topasen glichen. Ei-
ne Lichterschau sondersgleichen hatte den Tropenwald erfasst, und die
Leuchtfeuer der Insektenwelt tauchten die Welt in einen grünen Schim-
mer, der von gelben, orangen und lindblauen Blitzen überzuckt wurde.
Die Gestalten der Bäume schienen in alle Farben des Regenbogens ver-
packt zu sein. Die flitternden Käferlein übersäten das Laub und sorg-
ten, mitunter von dunklen Stellen unterbrochen, für ein Funkeln wie
von Smaragden, Saphiren, Rubinen, Amethysten und vielen anderen edlen
Steinen, denen es anvertraut ist, von der himmlischen, ewigen Farben-
welt zu künden. Unter der Macht dieses Lichtes herrschte eine gleich-
sam religiöse Stille über die Welt. Die Schicksalsvögel kündeten nicht
länger vom Tode; und der Wind, der ewige Wiegler, gab Ruhe ... Übrig
blieb das sanfte Licht, das wohlmeinende ... Maria war von den Glüh-
würmchen, die den Baum, an dem sie eingeschlafen war, in Beschlag ge-
nommen hatten, regelrecht umzingelt. Reglos lag sie da, von einem Di-
adem aus funkelndem Gefleuche gekrönet. Ihre blasse, ermattete Ge-
stalt stand in heftigem Kontrast zur Farbenpracht des Urwalds, ein
Opal, der sich vollendet in einen Smaragd, den Busen der Natur rings-
um, einschmiegte. Schließlich bedeckte der glitzernde Schwarm auch
sie; ihre Lumpen verschwanden unter einer Decke von Juwelen, und, dem
Sterntalermädchen gleich, schlief die vom Schicksal dermaßen Geschla-
gene so unerschütterlich dahin, wie wenn sie der Herrgott zu seinem
himmlischen Brautmahle entrückt hätte ... Und immer mehr der fliegen-
den Juwelen kamen über sie, wie Zähren der Sterne. Ihr güldenes Haupt
erglänzte blau, veilchengleich, und alsbald waren Arme, Hände, Hals
und Haar von einem Meere linden Feuers überwogt. Doch sie hielten
nicht inne, als ließe der ganze Urwald sich gehen, im Lichte zergehen,
bis er erreicht hatte, was er wollte, nämlich Maria in ein geheimnis-
volles Grab zu versenken. Wohl wand sich das Mädchen noch einmal er-
schrocken auf, hob den Kopf und öffnete die Augen, in die gleißendes
Licht fiel. Aufgescheuchte Glühwürmchen schleuderten bunte Blitze ab
... Maria schien es, als wäre sie an den goldenen Abgrund eines Ge-
stirnes entführt worden, und fiel doch nur wieder in den Schlaf zu-
rück, hier auf Mutter Erde mit ihrem im Lichte gebadeten Antlitz ...
   Die Nachtruhe wurde durch die ersten Brisen, Boten der Morgendämme-
rung, aufgestört. Die Sterne räumten den Himmel, die Glühwürmlein er-
loschen verzagt und verzogen sich in die geheime Welt des Urwaldes,
nicht ohne noch ihre letzten Strahlen in den anbrechenden Tag hinein-
zufunken und zur Trübe der Dämmerung beizusteuern. Die Vögel ließen
ihr Lied auf dem Baume ertönen, der Marias Obdach bildete, und so-
gleich stimmte der Wald, das heißt die gefiederten Bewohner desselben,
ein zu einem gewaltigen Konzerte, das die Ohren der Maid mit einem Ge-
fühle unauslöschlichen Glückes erfüllte. Die Vögel hoben ab, es wan-
delte sich das Licht, Gesurre hob an, und in der Nacht angestauter
Duft entlud sich nunmehr in die erwachende Welt. Von den Leuchtkäfer-
lein verlassen, ihrer geheimnisvollen Juwelen entkleidet, entwand sich
Maria der Traumwelt, und über ihren Stand der Unschuld wie vor dem
Sündenfall brach jäh die harte Wirklichkeit des Gut und Böse herein.
Unerbittlich wurde sie in ihre wahre Welt zurückgehämmert. Ja, so
stand es um sie. Sich der Gefahren dieser Öde wohl bewusst, denen sie
entgangen sein mochte, sprang sie auf und lief durch den Wald ... und
lief; und trotz allen Ängsten hielt sich in ihr hartnäckig ein Licht-
blick, der jener wundersamen Traumnacht entsprungen war. Als sie aber
die offene Straße erreichte, löschten die mächtigen Sonnenstrahlen die
letzten Nachläufer ihres Traumerlebnisses aus.
   Die Beklagenswerte marschierte volle zwei Stunden dahin, sei es
durch öde Gegenden, die sie noch weiter niederdrückten, sei es durch
Siedlungsland, das ihr wiederum ihr früheres Leben schmerzlich in Er-
innerung brachte. Mit dem Morgen begann überall die Hausarbeit, Frauen
waren in den dunstigen Kuhpferchen auszumachen, Männer hackten Holz,
Kinder tollten um die Häuser; und aus allen Kaminen kündete der mor-
gendliche Rauch, wie man es sich gutgehen ließ, mochten auch andere
von Hunger geplagt sein. Maria stapfte unerschütterlich den Teresenser
Buckel hinan. Oben auf dem Kamm kam es ihr wieder, ob es für sie, die
Vagabundin, schon angebracht sei, diese gutbürgerlichen, hart arbei-
tenden Leute drauszubringen. Sie schämte sich so, rang sich dann aber
doch durch, es beim Wirt zu versuchen.
   In der Kneipe, die auch die einzige Herberge hier heroben war, sa-
ßen bereits einige Durchreisende beim Frühstück. Maria blieb mit bet-
telndem Blicke an der Tür stehen. Die Wirtin war voll beschäftigt und
beachtete sie gar nicht, aber die Tochter, die nicht so eingespannt
war, kam auf sie zu und fragte, was sie denn wolle. "Hunger habe ich",
antwortete sie kaum hörbar. Die Junge bat sie herein, aber dann schoss
es ihr ein, es wäre besser, zunächst ihre Mutter zu fragen. Die Wirtin
besah sich den Fall, und als die Angekommene um Obdach und eine Stelle
ersuchte, fragte die Alte:
   "Hast du überhaupt Geld?"
   Maria, die darauf nicht vorbereitet war, fand keine Antwort. Die
Andere ließ nicht locker. Schließlich gab das Mädchen zu, dass sie
keines habe.
   "Was, und da soll ich dir etwas zum Essen geben?"
   Maria blickte nur erschreckt und starr zurück. Die Wirtin bohrte
weiter:
   "Was hast du denn da dabei?"
   Die Bettlerin öffnete ihr den Packen mit Kleidern, als drinnen die
Gäste unsanft nach der Wirtin schrien. Die Alte sagte ihr noch, ehe
sie hineineilte:
   "Gut, geh in die Küche und wart auf mich. Bin gleich so weit."
   Das Mädchen ging den Gang entlang, ohne einen Blick in die Gaststu-
be zu werfen. In der Küche stieß sie auf eine schlurfende Person, ge-
gen die sie sofort Widerwillen empfand. Sie betreute eine primitive
Herdstelle und war das Mädchen für alles. Übelkeit kam in Maria auf.
Sie wagte nicht sich niederzusetzen und wartete mit knurrendem Magen
darauf, dass sie etwas zu essen bekäme. Als die Laufkundschaft wieder
fort war, kam die Wirtin in die Küche. Nachdem sie die Kleider im Bün-
del beschaut hatte, bot sie an:
   "Dafür bekommst du von mir Kost und Unterkunft für zwei Tage."
   Und sogleich nahm sie die Gewänder an sich, während das Mädchen
teilnahmslos zusah und dann eine Schnitte Brot und eine Tasse Kaffee
bekam. Die arme Hungrige stürzte sich mit einem Wolfshunger darauf.
   Maria verbrachte den ganzen Tag damit, im Orte umherzustreifen; und
allerorten weckte sie Neugier und strahlte einen Gram aus, der die un-
bekümmerten Einwohner geradezu aufstörte. Niemand sprach sie an; und
sie schlich gedankenverloren herum, schleppte sich mehr wie ein waid-
wundes Tier.
   So von Not und Elend umfangen, stumpfte Maria immer mehr ab und
verlor allmählich ihre ursprüngliche Feinfühligkeit und Empfindsam-
keit. Um Mittag herum zog sie, gar nicht mehr schüchtern, von Haus zu
Haus und fragte um Arbeit. Niemand aber nahm sie; alle jagten sie aus
einer Art Abwehrinstinkt weiter. War es nicht so, dass mit ihr das Ge-
spenst von Not und Elend in dieses gemütliche, heitere und ruhige Ört-
chen einbrach?
   Gegen Sonnenuntergang, nach dem Essen, saßen die Leute aufgeräumt
und mit sich im Reinen vor den Häusern. In dieser bürgerlichen Idylle
fühlte sich Maria erst recht fehl am Platze. Sie durchschritt noch
einmal Santa Teresa bis zum Ortsende, fasste aber nicht den Mut, wei-
ter in den Wald einzudringen und sich von jener dumpfen Stimmung, wie
auch jenem Reste menschlicher Wärme, zu verabschieden. Also ging's zu-
rück.
   In der ersten Nacht zur Bettzeit wies die Herbergsmutter auf eine
Matratze auf dem Boden in einem verkommenen Verschlag.
   "Da - dein Bett!"
   Von einer Funzel von Kerze kläglich beleuchtet, stand die Unglück-
liche fürs Erste allein da. Der Gestank des Raumes warf sie fast um,
und in der Tat fiel sie, von Schwindel gepackt, auf das verrottete
Stroh nieder. Bald aber stieß ein weiteres menschliches Gesicht hinzu
und ließ sich auf einem anderen Strohlager nieder, direkt gegenüber
Maria. Es war die alte Magd. Sie zog ihr Gewand aus und stand im Hemd
da, dürr wie eine Hexe. Die zerrauften Haare fielen ihr wirr über die
Schultern, und im trüben Lichte glänzten ihre Augen wie die einer Ver-
rückten. Völlig verstört angesichts dieser Vogelscheuche wagte sich
Maria kaum zu rühren und musste angewidert zuschauen, wie im schummri-
gen Lichte die Mitbewohnerin mit ihrer Knochenhand unter das eklige
Stroh fasste und ein Stück Fleisch hervorzog, das sie genüsslich ver-
zehrte.
   Die beiden Leidensgenossinnen wechselten kein Wort miteinander,
aber die Blicke des Gebeins sagten genug aus über ihren Groll auf den
Eindringling, der es wagte, diesen wenngleich verkommenen Bezirk zu
stürmen, immerhin das Reich ihrer Freiheit und Unabhängigkeit. Völlig
erschöpft gab sich die Alte alsbald dem Schlafe hin. Maria lauschte
dem keuchenden Atem des Knochengestells und sah sogar das Schlagen ih-
rer geweiteten Adern und gestattete sich vor Furcht keinen Schlaf. Al-
les ließ in ihr größte Vorsicht angesagt sein, das grausige Gemach,
der eklige Geruch und die Angst vor der Hexe. Und als sie dann trotz-
dem allmählich wegduselte, sah sie in einem plötzlichen Albtraume die
leichenblasse, teuflische Alte mit ihren Skeletthänden auf sich zu-
kommen, um sie zu erwürgen. Aufgewühlt, eiskalt erwachte sie und dreh-
te sich der Anderen zu; die aber schlief tief und fest.
   Tief in der Nacht, als im Hause völlige Ruhe herrschte, machten
sich im Zimmer Ratten bemerkbar. Quietschend schnüffelten sie herum,
liefen hierher, dorthin, krabbelten auf der Alten wie auf einem Leich-
nam umher und taten sich schließlich an dem Fleische gütlich, das sie
übrig gelassen hatte. Maria fuhr der Schrecken in alle Glieder. Die
Ratten wandten sich von ihrer Speise ab und suchten unermüdlich und
voller Unruhe die ganze Kammer ab. Die Lampe war am Erlöschen und fla-
ckerte bald auf, bald ab, bis sie es schließlich aufgab und alles in
völliges Dunkel sinken ließ ... Maria blieb auf der Hut und verfolgte
den beängstigenden Lärm der Nager, bis zu allem Überflusse auch noch
eine Fledermaus über sie, die Todmüde, hinwegtauchte ...
   In den mit der Wirtin ausgemachten zwei Tagen fand Maria keine An-
stellung, so sehr sie sich auch bemühte und flehte. Im Gegenteil, sie
machte sich damit zum Gespött der wohlbehüteten und wohlversorgten
Bürger in diesem Eck der Welt. Die Herbergsmutter forderte sie auf,
das Haus zu verlassen; und Maria war von höllischer Angst erfüllt an-
gesichts der Vorstellung, jetzt wieder straßauf, straßab wandern zu
müssen, ohne Brot und Obdach. So brach sie in Tränen aus und bekniete
die Wirtin, sie doch wenigstens dort wohnen zu lassen, bis sie eine
Stellung fände. Die Tochter fasste sich schließlich ob so viel Elend
ein Herz und legte für Maria ein gutes Wort ein, sodass diese als Magd
bleiben konnte, wie eben die Alte auch. Und so lebte sie für einige
Tage in der Wirtschaft, zwar niedergeschlagen und geknickt, aber mit
jenem unheimlichen Lebenswillen, wie er Elenden eigen ist.
   Eines Morgens kehrte Milkau, als er nach Port zum Einkaufen unter-
wegs war, beim Teresenser Wirt ein und machte gemütlich Brotzeit, als
er Maria von draußen hereinkommen und den Gang entlanglaufen sah. Ob-
wohl sie so heruntergekommen wirkte, erkannte Milkau in ihr gleich
wieder seine junge Gesprächspartnerin bei Jakob Müllers Ball, die er
ja auch schon in der Kirche in Jequitibá flüchtig wahrgenommen hatte,
nämlich als er tagträumte. Er sann einen Moment hin und her, konnte
aber die neuerliche Begegnung nicht recht einordnen. Schließlich hol-
te er dann doch die Wirtin und fragte sie um die Frau, die er gerade
gesehen hatte.
   "Ach, DIE!", meinte sie. "Da hab ich wohl eine Streunerin aufge-
klaubt. Wo sie her ist, weiß ich nicht. Sie ist ohne einen müden Hel-
ler angekommen und hat so geflennt, dass ich ihr halt Unterschlupf ge-
währt habe ..."
   "Ist sie also als Magd hier?"
   "Pustekuchen! Mit dem Bisschen, was die leistet, ist sie nicht ein-
mal ihren Unterhalt wert. Am besten verduftet sie wieder; hier will
sie niemand. Wäre ja noch schöner! Die ist doch auf der Brennsuppe da-
hergeschwommen, und in ihrem Zustand bringt sie noch das ganze Haus
durcheinander ... Lange hat sie ohnehin nicht mehr, bis es so weit
ist ..."
   Den Ton, in dem sich die Wirtin ausdrückte, konnte Milkau gar nicht
haben. Er verlangte, man möge das Mädchen herbeiholen, und die Wirtin
war auch gleich dazu bereit. Milkau schmeckte das Essen nicht mehr.
Gleich darauf kam die Wirtin zurück und schob Maria vor sich her, die,
zumal sie Milkau ebenfalls wiedererkannt hatte, nur zögerlich, scham-
erfüllt nähertrat. Bei seinem Anblick kamen ihr die Tränen. Milkau er-
hob sich erschüttert und redete ihr gut zu. Der Wirtin fiel dazu
nichts mehr ein, und sie höhnte nur:
   "Ach, sieh an, die Arme ... Da bringt ihr jemand eine Stellung zu,
und sie stellt sich so an! Anscheinend lässt sie sich lieber von mir
durchfüttern! ..."
   Weiter kam sie nicht, weil sie in die Küche gerufen wurde, und so
ließ sie Milkau und Maria allein. Die sanfte Art Milkaus brachte sie
dann doch dazu, ihm ihr Herz auszuschütten. Mitunter verstummte sie
verschämt, und Milkau hakte bei den peinlichsten und quälendsten The-
men auch nicht nach. Maria aber war es geradezu ein Anliegen, vor ihm
auch noch den letzten Winkel ihres verkorksten Lebens auszubreiten.
Und als er so in jener Gaststube die ganze Erzählung vernommen hatte,
begann es in seinem Gemüte zu arbeiten. Es war das erste Mal, dass er
in seinem neuen Leben auf das Kreuz des Lebens stieß ... Wie auf einen
Schlag löschte diese Begegnung alle jene Monate des Glücks seiner Wie-
dergeburt aus. Unerbittlich legte sich wieder Gevatter Schmerz über
ihn; und Milkaus Gedanken zog es in die ferne, von stetig wiederkeh-
renden Leidanfällen geprägte, Vergangenheit zurück, aus der er sich
ein für alle Mal freigestrampelt zu haben glaubte ... Ja, und einfach
wegschauen, vorbeigehen, fremde Not fremde Not sein lassen und sich
weiterhin in seinem Glück suhlen? ... War er nicht genau dem Schlech-
ten im Menschen entflohen, hatte er nicht die alte, hasserfüllte Ge-
sellschaft aufgegeben, um in einer unbefleckten, jungfräulichen Welt
neu anzufangen, in der unverbrüchlicher Friede herrschte? Warum ließ
ihm dann das alte Gespenst des Leidens auch hier noch keine Ruhe?
   Milkau glitt in tiefe Entmutigung ab. Maria blickte ihn hoffnungs-
und erwartungsfroh an. Es folgte eine längere Zeit gedrückter Stille.
   "Also", äußerte sich Milkau schließlich mit strahlendem Gesicht,
"da gäb's einen Hof, auf dem ich dich unterbringen könnte. Diese Be-
kannten von mir am Doce könnten jemanden gebrauchen ... Ich fürchte
allerdings, dass du den Weg nicht durchstehst. Es ist schon weit, und
du wirkst ziemlich fertig ..."
   Das war die Rettung! Maria konnte wieder richtig lächeln.
   "Ich? Den Weg nicht gehen können? ... Oh, doch, kein Problem! Das
schaffe ich locker."
   Dann fiel ihr noch ein:
   "Aber Sie wollten doch nach Port? Und jetzt kehren Sie so mir
nichts dir nichts an den Doce zurück; doch nicht wegen mir?"
   "Da ist doch nichts dabei", antwortete Milkau leichthin. "Wenn ich
dich untergebracht habe, gehe ich nach Port. Morgen schon."
   "Aber ..."
   "Auf geht's!" forderte er sie sanft, aber entschlossen auf.
   Sie riefen die Wirtin, und Milkau teilte ihr mit, dass das Mädchen
mitkomme. Die Frau setzte eine höhnische Miene auf:
   "Also, mein Herr, sie ist schließlich nicht meine Tochter. Machen
Sie doch mit ihr, was Sie wollen. Was kümmert mich diese Vagabundin?"
   "Eins noch: Was hatte die Arme hier eigentlich zu bezahlen?", bohr-
te Milkau nach, ohne sich groß etwas um das Geschwätz der Wirtin zu
scheren.
   Diese tat, als rechnete sie mit den Fingern, und nannte eine Fanta-
siesumme. Milkau gab ihr wortlos das Geld:
   "Gut, hier ist der Betrag."
   Die Frau wirkte überrascht und schob eiligst das Geld ein.
   "Dafür aber", fügte Milkau an, "geben Sie die Kleidung zurück, die
Sie als Pfand genommen haben."
   Die Herbergsmutter wurde fuchsteufelswild, als hätte man sie ausge-
raubt:
   "Wär ja noch schöner! Das hat damit gar nichts zu tun."
   Milkau legte ihr schonend klar, dass sie schon zwischen den Klei-
dern und dem Geld wählen müsse. So in die Enge getrieben, blieb sie
doch lieber beim Baren und verzichtete auf die Gewänder, mit denen sie
ohnehin nichts anfangen konnte und die sie wüst schimpfend holen ging.
Maria folgte ihr, und als sie zurückkam, lächelte sie fesch angezogen
und mit einem blauen Haarband geschmückt. Milkau lächelte seinerseits,
aus Freude an ihrer wiedererwachten Weiblichkeit.
   Als sie jetzt durch die Dorfstraße loszogen, zischte die Wirtin an
der Tür den Nachbarn zu:
   "Schaut nur! Hat es dieses Miststück doch noch geschafft! ... Und
er wird sich wohl bald einen Heiligenschein schnitzen lassen. Nicht zu
fassen! ..."
   Als sie daraufhin den Weg nach Timbuí einschlugen, kam Milkau wie-
der seine Anreise mit Lentz in den Sinn, als sie die Gegend voller
Überschwang genossen, das Land, in dem's nichts Böses gibt ... Heute
aber kämpfte er gegen das Leid, gegen der Menschen Hass untereinander.
   Doch er ließ sich von einem solchen zeitweiligen Rückschlag nicht
unterkriegen und hielt fest dafür, dass dieser schmerzliche Streich
gegen sein behagliches Wohlleben eine Ausnahme bleiben würde und sich
alles wieder von selbst einrenkte. Morgen wäre Maria wieder glücklich,
ihr Liebhaber kehrte reumütig zu ihr zurück, und alle Wunden und Seh-
rungen wären wie weggeblasen ... Daraus schöpfte er neue Kraft, ver-
drängte den Gram und das Elend der Gefährtin und fand zu einer aufge-
lockerten Unterhaltung mit ihr.
   Unter sengender Sonne ging es bergauf und bergab, und die ersten
Stunden stapfte Maria trotz allem wacker voran. Später aber schwanden
ihr die Kräfte, sodass sie kaum mehr mithalten konnte. So setzten sie
sich unter einem Baum an der Straße nieder. Vom fruchtbaren Hochland
herunter kamen schwer beladene Eselkarawanen auf ihrem Weg nach Port,
Reiter, Fußgänger, einzeln oder in Gruppen, aber niemand nahm sich,
wie sie, die Muße für eine Rast. Als sich der Tag bedenklich neigte,
dämmerte es Milkau, dass sie den Doce am selben Tage wohl nicht mehr
erreichen würden. Er munterte Maria auf, noch durchzuhalten, bis sie
einen Hof zum Übernachten gefunden hätten. Schließlich erblickten sie
einen auf einer Hügelkuppe, und Milkau schlug vor, es dort zu versu-
chen. Maria nahm ihre letzten Kräfte zusammen und schlurfte tapfer mit
hinauf.
   Jener Bauernhof war ein wahres Stück europäische Bilderbuchland-
schaft und stach gewaltig aus dem Einerlei der sonstigen Siedlergehöf-
te heraus. Überwältigt traten sie näher. Rundum bot sich ein herrli-
cher Ausblick, eine wahre Augenweide, Täler verschiedenster Gestalt,
Hügel, Berge, wahre Gebirge, bald kahl und ausgedörrt, bald mit üppi-
gem Walde überzogen, scharfe Leiten, dann wieder Ebenen mit Flüsschen
und eingestreuten Pflanzungen und ihren Hofstätten; kurzum, hier zeig-
te sich die Schöpfung von ihrer schönsten Seite. Die Ankömmlinge zogen
sich das Gesamtkunstwerk geradezu hinein, betört von den Düften des
Gartens, und erreichten das Gatter, an dem Milkau laut klatschte. Hun-
de führten ein Bellkonzert auf; und sogleich kam ein älterer Mann und
pfiff sie zurück:
   "Ab ins Körbchen! Geht man so mit Gästen um?"
   Die Hunde zogen knurrend ab, und der Alte wandte sich den Fremden
zu, wobei er seinen schneeweißen Bart kraulte und seine lückenlosen
Zähne lächeln ließ. Milkau trug ihm sein Anliegen vor. Der Alte ließ
sie bereitwillig ein und bedeutete ihnen, sich wie zu Hause zu füh-
len. Als sie den Garten betraten, überschüttete sie die volle Pracht
der Blüten. Einzelheiten nahmen sie gar nicht wahr; das Meer der Far-
ben zog sich fort bis in tiefste Fernen. So weit das Auge reichte,
konnte es sich wie auf einer magischen Leinwand an dieser himmlischen,
überirdischen Farbenpracht ergötzen.
   Der alte Mann führte sie ins Haus, trug ihnen etwas zu essen auf
und war ihnen auch sonst eifrig zu Diensten. Er erzählte ihnen, er sei
Witwer und wohne seit vielen Jahren allein, die Töchter seien verhei-
ratet und die Söhne lebten irgendwo in der Nähe. Sein großes Stecken-
pferd seien seine Blumen, und auch sein Kaffeehain bereite ihm viel
Freude. Dabei zeigte er vom Fenster aus auf einen nahen Hügel, der ge-
pflegt und gehätschelt war wie ein Garten. Nach dem Abendessen gingen
die drei in den Hausgarten hinaus. Der Hausherr ließ die Gäste allein,
um die Pflanzen zu gießen. Milkau bewunderte die Gewandtheit des rüs-
tigen Betagten und ging dann mit Maria im Garten etwas spazieren. Sie
wirkte, als hätte sie nie Trübsal verspürt; wie ein Nomade sang- und
klanglos seine Zelte abbricht, hatte sie mit ihrer Leidensgeschichte
gebrochen. Ihr Elend war wie weggeblasen. Sie war wie hin und weg von
Milkau und konnte sich an ihm gar nicht sattsehen. Milkau seinerseits
fühlte sich weit fort von der Tropenwelt mit ihrem ewigen Grün; der
lähmenden Schwermut der brasilianischen Natur bot hier eine fröhliche
Zuzüglerin Paroli, in Gestalt dieser europäischen Blumenpracht. Ja,
der Garten erinnerte Milkau an das Land, das er aufgegeben hatte, und
in einem Anfluge von Wehmut fühlte er sich in sein Deutschland zurück-
versetzt. Dort war jetzt Frühling; alles erstand neu aus dem eisigen
Tode. Vor ihm rollten die Wälder ab, die Gärten, die Häuser, ja, und
die Menschen, wie sie die erste Lenzeswärme begierig in sich aufnah-
men. Und fast wäre er jetzt, hier in dieser Abenddämmerung, angesichts
seines kurzen Zwischenspiels mit dem hereinschwallenden Leid, geneigt
gewesen, einen Anflug von Heimweh zu empfinden ... Maria war ermüdet
und legte ganz unbewusst ihre Hand auf Milkaus Schulter. Ihn überlief
es ganz heiß; die Schwüle aus den Tiefen ihrer Weiblichkeit bemächtig-
te sich seiner und lähmte ihn bis ins Mark. So schlichen sie gespens-
tergleich, wortlos, verträumt dahin, und ihre Augen verloren sich im
Ungewissen. Jetzt, zum Tagesausklang, dufteten die Gewächse erst
recht. Als sie so versunken dahinschritten, stiegen Schmetterlinge von
den Blüten auf, als wären sie geflügelte Blumen ... Nun erreichten sie
eine Stelle, an der der Garten in eine kahle Stelle überging, die ei-
ner Palme geschuldet war, die einer schönen, aber anspruchsvollen Frau
glich und ebenso ihr Umfeld ausmergelte ... Sie setzten sich auf einen
Stein. Ihre Augen waren zunächst von dem Sumpfe unter ihnen gefangen,
und dann richteten sie sie gen Himmel, um die letzten Strahlen der
Sonne zu erhaschen. Ein überwältigendes Schauspiel! Ohne noch tatsäch-
lich zu strahlen, stellte der Riesenball seine Farbenpalette zur
Schau, als führte in seinem Inneren ein Zauberer seine Beleuchtungs-
künste auf. Die ganze Welt stand "Habt acht" und guckte zu ... Die Di-
va sank durch den wolkenlosen Himmel, in ständigem Wechsel ihres Far-
benkostüms, bis sie schließlich in den Horizont eintauchte und die Er-
de in Blut badete und sie noch einmal kräftig aufmischte ... Die Nacht
war da ... Der Bauer war mit seiner Arbeit fertig und schlug den Gäs-
ten vor, doch mit ins Haus zu gehen. Dort, am Tische, redete man noch
manches Belanglose, bis der mittlerweise todmüde Hausherr zur Bettruhe
anregte. Er zeigte Milkau zwei nebeneinanderliegende Zimmer, in denen
er die Betten schon bereitet hatte.
   Das Haus lag in tiefster Ruhe, und Milkau, der partout nicht in
Morpheus' Arme finden wollte, lauschte dem leise dahinsäuselnden
Schlafe Marias wie einer fremdartigen Musik, die ihn beschwingte und
erregte ...
   Und wie er sich so allmählich in den sanften Takt der Atmung Marias
hineinwiegte, begann das Blut in ihm aufzuwallen. "WEIB!" ... war sein
Gedanke. Und dieses Schlüsselwort legte in ihm seine längst vergessen
geglaubte, verschüttete Sinnlichkeit bloß. WEIB! Aus der Rumpelkammer
seines Gemütes entstiegen sie, schlüpfrige, begehrliche Gedanken ...
WEIB! Schwindel überkam ihn, brachte ihn aus dem Gleichgewicht und
warf ihn in einen Strudel der Wollust ... Zitternd, herzklopfend erhob
er sich, mit Würgegefühlen in der Kehle und ausgetrocknetem Munde.
Schließlich schlich er sich an die halb offene Tür zu Marias Kammer.
Immer heftiger zitterte er; zugleich überfiel ihn ein unbändiger Ge-
wissenswurm, und tiefe Scham überkam ihn ... Er, der doch so Starke,
musste sich angesichts seines verqueren Einfalls in Schimpf und Schan-
de versetzt fühlen. So öffnete er das Fenster und lenkte sich mit 
Nachsinnen über die Nacht als solche ab ... Nein, wie konnte er nur
... ER ein Spielball seiner Triebe - unfassbar!
   Maria schlief unterdessen friedlich weiter, und ihr gleichmäßiger
Atem drang immer noch in Milkaus Gehör und erquickte ihn ... Für ihn
war es nicht das Geräusch einer Schlafenden, sondern das Schmachten
einer Liebenden, betörender Gesang für jenen, dem das Ohr dafür gege-
ben ist ... Der Duft des Gartens erschuf eine andere Welt ... Milkau
schüttelte es wieder her - wieder diese Begierde ... Nacht war's, da
alle sich liebten ... Ja, zu jener Stunde schickte das All selbst die
Liebe schlechthin ... Nur er war ausgeschlossen ... Sein Blick suchte
die Schatten des Großen Ganzen zu durchdringen ... Die Wucht seiner
wirrköpfigen Vorstellung tauchte alles in grelles Licht. Allenthalben
ging es um Minne: Fieberhaft küssten sich Münder, öffneten sich Arme,
um einander zu umfangen, stöhnten eng umschlungene Leiber lustvoll
auf, wie in Tollheit ... Und er, der Einsame, sollte nicht ...? Alles
in ihm, sein nur einstweilig von seiner Traumwelt eingeschläfertes
junges Blut, das sich jetzt Bahn brach, forderte gebieterisch: "Ich
will ein Weib!" ... Milkau kehrte der verlockenden Nacht den Rücken
und schlich sich in Marias Kammer. Ihre Haare hingen ihr offen über
den entblößten Nacken ... Milkau nahm die Wärme des weiblichen Körpers
auf, die ihm sogar das Zimmer anzuwärmen schien, und tauchte sachte
mit seiner Hand in Marias blonde, linde Lockenpracht ... Zitternd
stand er da, nicht mehr Herr seiner selbst. In seinem Taumel nahm er
ihr Haar als einen einzigen güldenen Strom wahr, der sich ihren Leib
hinunter ergoss ... Eine gefühlte Ewigkeit starrte er so gebannt auf
diesen Körper und atmete so heftig, dass Maria erwachte. Die Augen
halb geöffnet, fragte sie:
   "Was - geht's schon los?"
   Die arglose Stimme traf Milkau wie eine eiskalte Dusche. Eiligst
zog er seine Hand zurück und murmelte, jetzt wieder bei klarem Be-
wusstsein:
   "Nein, nein ... schlaf nur ... passt schon ... alles klar ..."
   Er wandte sich wieder dem Fenster zu. ER war nicht mehr derselbe,
und die Nacht auch nicht. Sie stellte nicht länger ein Bild der Wol-
lust dar, stand nicht mehr für einen Ausbruch von Gelüsten. Heiter,
wohltuend war sie, die Nacht, wie einer Schwester Anblick. Lange ver-
weilte er so, in Demut, verwirrt, von Reue erfasst, und der Tau der
wehenden Morgendämmerung benetzte sein Haupt, entzog ihm die Reste
seiner sexuellen Anwandlungen und verinnigte sich mit seinen Tränen,
den Zähren eines Einsamen.
   Am Morgen, als sie aufbrachen, brachte sie der alte Mann noch bis
ans Tor seines Lustgartens und lächelte ihnen mit wissendem, zärtli-
chem Blicke nach, als wären sie ein Brautpaar. Maria lächelte zurück,
ohne den Hintersinn wahrzunehmen. Milkau dagegen war von des Bauern
Miene peinlich berührt, aber sogleich fing er sich und zog des Weges,
er, der Bezwinger seiner selbst.


                                -VIII-

   Der Einbruch der dunklen Seite des Lebens hinterließ in Milkaus Ge-
müt deutliche Spuren. Tiefste Niedergeschlagenheit übermannte ihn und
nahm ebenso verschwommen wie hartnäckig von ihm Besitz ... Marias Dor-
nenpfad ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Es gibt kein Ungemach, sann
er nach, das nicht nach dem Mitgefühle des Nächsten schreie; im Gegen-
teil, ihn erreichte der Ruf nach Mitleid und Beistand wie aus tausend
Kehlen. Unbill kennt kein "-chen" und "-lein". Leid ist Leid.
   Um sich aus Schwester Trübsals vereinnahmender Umarmung zu lösen,
sah Milkau nur einen Ausweg: Rackern, Müh' und Plage. Der Hof war ja
bereits bestens bestellt, bis ins letzte Eck; und die Kaffeesetzlinge
füllten die einst klaffende Wunde in der Natur wie eine römische Le-
gion. Verschwunden waren die alten Brandstumpen, das Grundstück
schmiegte sich, einem Parke gleich, in die strammstehenden Reihen der
Urwaldriesen, und der beiden Einwanderer bescheidenes Häuslein hatten
sich blühende Ranken als Heimstätte erkoren, die dieser Oase in der
Tropenwelt eine ganz besondere Note verliehen.
   Milkau war der geborene Landwirt, der intuitiv alle seine Fähigkei-
ten ausschöpfte, um sich mit seiner Hände Arbeit etwas zu schaffen und
sich damit in seiner Würde als Mensch bestärkt fühlte. Lentz dagegen
hatte es mehr mit der Jagd. Angesichts seiner eher überschaubaren und
holzschnittartigen Interessen entsprach es ihm mehr, dieser Urform der
Zivilisation zu frönen. Er jagte also, focht mit dem Wildgetier und
durchstreifte den Dschungel, auch gemeinsam mit Gleichgesinnten aus
der Siedlerschaft, sodass er schon nach wenigen Monaten den brasilia-
nischen Wald ringsum kannte wie seine Westentasche. Die zwei Männer
lebten zwar unter einem Dache, aber in verschiedenen Welten. Der eine
brachte der Welt Heldenstücke, Schlacht- und Blutopfer dar, der ande-
re, der Bauer, trug Früchte der Erde und Blumen seines Gartens zum Al-
tare ... Es wäre aber nie zu Hass, gar zum brudermörderischen Streite
zwischen diesen Vertretern zweier Entwicklungsstufen gekommen; viel-
mehr war ein Band, ein unverbrüchlicher Bund zwischen ihnen gewachsen,
wie er dereinst die ganze Menschheit durchwachsen und in eine immer-
währende Geschwisterschaft hinübergleiten lassen würde.
   Milkau war ganz Arbeit. Und dennoch, wenn er so schweißgebadet und
erschöpft über seine Hacke gebeugt war und sich - wie man gemeint hät-
te, auch von seinem Gegrübel - eine Atempause gönnte, holte ihn so-
gleich wieder der mahnende Zeigefinger ein, auf das Mitempfinden und
Mitleiden im Angesichte des Unsterns Anderer nicht zu vergessen.
   "Nicht in der Arbeit liegt der Schlüssel gegen die Not oder unsere
Seelennöte. Was hetzen wir uns ab, tränken die Erde mit unserem
Schweiß, ja sogar, was bringt es, wenn wir mit eifriger Hand die Erde
mit einem Blütenteppiche übersäen, dabei aber Seit' an Seit' mit uns
Pein und Marter obenauf sind - wenn, kurz gesagt, diese aus Blut,
Schweiß und Tränen geborenen Blumen nicht als Balsam der verwundeten
Welt dienen? ... Was, wenn all jene Farben, Düfte, Gerüche unserer Ma-
ria nichts nütze sind? Wo ist der Ausweg aus ihrem Jammertale? Hat sie
etwa nicht auch Tag und Nacht wie eine Leibeigene gebuckelt? Und was
hat sie davon? Nein, Besseres braucht die Welt. Mit Donnerhall muss
es über sie hereinbrechen, aber lind und sanft, ein heiliges Geheim-
nis ... die LIEBE! ..." So arbeitete es in Milkaus Seele, während die
Hacke unverdrossen weiter in die Scholle drang.
   Wiederholt besuchte er Maria an ihrem neuen Dienstplatz, um sie et-
was aufzurichten. Sie igelte sich aber immer weiter ein und wollte
selbst Milkau nicht an ihrem Leidensweg teilhaben lassen. Milkau sah
dies als Verschämtheit und drang nicht weiter in sie, bat dafür aber
die Hausleute, die Arme gut zu behandeln und zu behüten, auf dass sie,
wenn es denn dann so weit sei, sich bei ihnen bestens aufgehoben füh-
len könne. Die Bauernleute versprachen ihm das Blaue vom Himmel herun-
ter - die Wirklichkeit war eine andere: Sie gingen verächtlich, ja
schändlich mit ihr um, als wäre sie ein Eindringling in ihrer heilen
Welt, der gefälligst seinen Lebensunterhalt abzuarbeiten habe. Maria
tat ihren Mund nicht auf. Zu ihrer Drangsal kamen jetzt also auch noch
Hass und Abscheu der neuen Herrschaften. Dennoch sah sie diese als den
einzigen Strohhalm, an den sie sich trotz allem klammern konnte, wenn
eben, und das bald, jener schmerzensvolle Moment eintreten würde.
   Milkaus Leben war unterdessen weiterhin von tiefer Kümmernis über-
schattet. Lentz wiederum konnte dem Landleben, mit Ausnahme der Jagd,
ohnehin nichts abgewinnen. Die Tage waren der Arbeit gewidmet, wobei
jeder seinen eigenen Gedanken nachhing, und abends pflegten sie, aber
ebenfalls ohne den rechten Auftrieb, die verschiedenen Nachbarhäuser
aufzusuchen. Einmal gerieten sie dabei auch an einen Hof, den sie bis
dahin übersehen hatten. An der Tür stand ein Greis, der sie zu einem
Plausch einlud; und während die Familie mit der Hausarbeit und im
Stall zu tun hatte, unterhielten sich die beiden Freunde mit dem Al-
ten. Die Rede kam schnell auf Deutschland, und der Mann erzählte ihnen
sogleich so manches aus seinem Leben. Er war ein preußischer Veteran,
der ganz von seinen Erinnerungen an den Siebzigerkrieg geprägt war.
Als Lentz dies vernahm, war er ganz Ohr, und der Alte berichtete an-
gesichts des Interesses dieser Jungspunde voller Stolz und Begeiste-
rung aus jener Zeit. In seiner anschaulichen Schilderung rollten Städ-
te an einem vorbei, marschierten Heere auf, erhallte der Lärm der
Schlachten, rauschte die Kavallerie heran und zermatschte das Gewitter
der Maschinengewehre den armseligen Staub von Menschlein in einem hel-
denhaften Sturme der Eroberung in blutdurchtränkten Schlamm. Zum Ende
tat der alte Krieger dar, wie er anlässlich einer Erkundung vom Pferd
stürzte und ein Kamerad über seine Brust hinweggaloppierte, woraufhin
er Blut spie, liegen blieb und erst später, mehr durch Zufall, gefun-
den und gerettet wurde. So wurde er ausgemustert und kam nach Brasi-
lien, wo ihm das milde Klima das Leben erhielt ... Weiters würzte er
seinen Rückblick mit allerlei Begebenheiten beim Vormarsch, mit Ein-
drücken von einer ihm fremden Kultur, die er mehr im Vorbeigehen wahr-
genommen hatte und deren Reiz ihm vorgekommen sein mochten wie einem
Barbaren, der sich unversehens in eine Zivilisation hineinversetzt
sieht ... Die strenge Disziplin damals saß ihm noch immer im Nacken.
Beinahe wäre er füsiliert worden, weil er in einer Dezembernacht in
Frankreich in dem Haus, in dem er einquartiert war, eigenmächtig eini-
ge Decken requiriert hatte. Das war Nötigung, es ging über das im
Kriege Erlaubte hinaus, und dafür pflegte man mit dem Leben zu bezah-
len. Lentz dagegen sah in ihm das Urbild des Kriegers, der befiehlt,
nimmt und gefürchtet ist ... und er lächelte, wie wenn er schon lange
keinen Grund mehr dazu gehabt hätte. In Hochstimmung erhob sich der
Veteran, humpelte mit seinen Nachbarn ins Haus und zeigte ihnen aller-
lei alte Bilder von Königen, Ansichten von Preußen und Stiche mit
Kriegsdarstellungen. Alles war alt, die Möbel, die Bilder, die Erinne-
rungsstücke. Alles war der Vergangenheit zugewandt.
   Auf dem Heimweg sann Lentz nach:
   "Der Besuch bei diesem Alten hat mich wieder richtig aufgebaut! Man
fühlte sich regelrecht in das gute, alte Preußen versetzt."
   "Man sollte aber nicht zu viel Herzblut in diese Vergangenheit hin-
einlegen", wandte Milkau ein.
   "Wieso sollte ich mir nicht meinen völkischen Urgrund zum Vorbild
nehmen?", fragte Lentz deutlich von oben herab.
   "Warum? Weil", entgegnete Milkau, "du an dieser Geschichte ebendas
schätzt, was kein Ruhmesblatt, ja schändlich ist. Du liebst doch das
Zerstörerische, den Ungeist hinter allem, die Junkermentalität, die
Leibeigenschaft, den Krieg, das Blutvergießen, alles, was ausgrenzt
und vernichtet ... Nach und nach wird die Verehrung für jene Altertü-
mer vom Winde verweht. Halten wir uns doch lieber an die Opfer aus
Menschenliebe, die Wissenschaft, die Kunst ... Aber jener pauschale
Fimmel für etwas, nur weil es alt ist, ist der Grund, warum heute al-
les so durcheinandergeht. Und ich halte dafür, dass der Geschichtsun-
terricht, wie er ist, und die formale Bildung, die vielmehr Bildung
von Dünkeln bewirkt, genau das Gift sind, das den heutigen Menschen
verunsichert und zu willigen Werkzeugen der Obrigkeit macht ... Wer
sich künstlich in die 'gute alte Zeit' zurücksiedelt, genau der ist
doch der eigentliche Widersacher der Menschheit, denn er stachelt
Wirrnis an und steht für Ewiggestriges und letztlich den Tod."
   "Du weißt aber schon", unterbrach Lentz, "dass ich die Vergangen-
heit nicht in Bausch und Bogen verehre, sondern dass ich mich daran
ergötze, wenn unser Vaterland mit wahrer menschlicher Leistung auf-
zeigt."
   "Und wofür sollte diese Kraft und Größe des Vaterlandes gut sein?"
   "Naja, ich verehre am ihm das Reichische, das Kriegerische, den
Drang zur Weltgeltung, sein Durchhaltevermögen, sein strammes Militär,
die Disziplin ..."
   "Aber was IST das eigentlich - Vaterland?"
   "Also, Milkau, wenn du DAS nicht weißt ... die Rasse, eine Zivili-
sation für sich, die uns durch das Blut anspricht, wir, einfach wir,
unser Standbein in der Welt, wir als Ausgangspunkt in das Immerwähren-
de, etwas, dem sich niemand entziehen kann, kurzum: das UNSTERBLICHE!"
   "Nein, mein lieber Lentz, das Vaterland ist ein Gedankengebäude für
den Übergang, das dem Tode geweiht ist ... Nichts gründete sich jemals
darauf, weder Kunst, Religion noch Wissenschaft. Nichts erreicht Höhe-
res, solange es vaterländisch ist. Des Menschen Schöpfergeist ist
übergreifend ... Das Vaterland ist etwas Zweitrangiges; es steht für
Politik, dann für Wirrnis und letztlich Krieg. Das Vaterland ist
kleingeistig, eine Schranke für der Menschen Liebe zueinander, eine
Hürde, die wir überwinden müssen."
   Sie kamen heim und setzten sich während der Nacht noch lang und
breit mit dem Thema auseinander. Am Tag darauf, als Milkau alleine vor
sich hinarbeitete, spulte sich vor ihm noch einmal die vergangene Dis-
kussion ab, und er konnte sich nicht damit zurechtfinden, dass er und
sein Freund in so grundverschiedenen Lagern daheim waren.
   "Man kommt nicht drum herum", sah er ein, "dass es nun einmal so
ist: Wenn zwei Menschen so hautnah beieinanderleben, entstehen Rei-
bungsflächen, die der Sympathie in die Quere kommen. Es ist der natür-
liche Drang zu herrschen, wenn nicht ausdrücklich, dann doch, indem
man seine eigene Intelligenz ausspielt oder seine eigene, angenommene,
Vollkommenheit dem Anderen überstülpen will. Ich bin um keinen Deut
besser. Ich versuche, Lentz auf meine Kragenweite zurechtzuschneidern
und ihn nach meinem Bild und Gleichnis neu zu erschaffen. Vermögen wir
kümmerliche Würmer es denn gar nicht, uns von unserem verdammten Stol-
ze, dem Überlegenheitsdünkel und dem Machtgeiste tief in unserem Inne-
ren zu befreien, von allem, was letztlich doch nur Windhauch ist?"
   Milkau erkannte, dass er seinem eigenen Ideal bei Weitem nicht ge-
recht wurde. So kam er wieder auf Lentz zurück und öffnete sich der
Einsicht, dass dessen Vaterlandsmarotte etwa auch etwas mit einer un-
ausgegorenen Nostalgie, einem verschütteten Heimweh, zu tun habe. Aber
war nicht gerade dies der Holzweg, auf den einen die Erziehung zum Va-
terländischen hinführte? Angesichts solcher banger Gedanken nahm er
wiederum sich selbst unter die Lupe ... So richtete er den Blick gen
Himmel, den unendlichen, heiteren, kristallklaren, und fand sich darin
nicht wieder. Er bestaunte den gezackten Gebirgshintergrund, die Düs-
ternis des Waldes, das Laubwerk der Bäume. Mit seinen Füßen stand er
auf roter, wie blutgetränkter, Erde, und sog den betörenden Duft
lichtscheuer Gewächse ein ... Das All kam nicht in Fahrt ... Nein, das
war nicht er. Hier er, dort die Welt mit allem Drum und Dran, zwei
Welten, unvereinbar. "Ich bin nicht in dir, und du nicht in mir. Wohl
liebe ich dich, aber dennoch bist du nicht ich."
   Von tiefem Ach und Weh überwältigt, fühlte sich jetzt auch Milkau
wie verbannt ... Es vermochte sich zwischen ihm und der Welt, in der
er lebte, nicht jenes traute Band einzustellen, das uns unmerklich und
geheimnisumwittert mit dem großen Ganzen verflicht und uns zu EINEM
Wesen verschweißt ... Es verstörte ihn zutiefst, dass ihn die Tropen-
welt, das Land der Sonne, zwar in die höchsten Gefilde der Stimmung
versetzte, dennoch aber seiner Seele nicht gestattete, sich mit eben-
derselben des Landes zu verinnigen, sondern ihn in der Rolle des un-
steten Wanderers beließ ...
   "Was bin ich denn gar? Ein Staubkorn, ein Nichts, das sich nicht im
Griff hat, das das nicht zu lieben vermag, was es eigentlich lieben
möchte, und das es nicht schafft, sich in all die anderen Staubkörner
der Welt einzureihen? Wo sehe ich mich denn, wenn ich meine Ideale dem
Diktat dessen unterwerfe, was 'die Leute' sagen?"
   Einige Zeit darauf ließen sich abermals neue Nachbarn am Rio Doce
nieder, und zwar an dem Uferstreifen zwischen Urwald und Fluss. Es
handelte sich um eine kleine ungarische Familie, den verwitweten Va-
ter, zwei Töchter und einen Sohn, einen weiteren ungarischen Burschen,
der mit einem der Mädchen verlobt war, und einen Zigeuner. Sie wohn-
ten mehr schlecht als recht dicht beisammen in einer roh gezimmerten
Hütte mit Holzschindeln, auf die gnadenlos die Sonne herniederbrannte
und die dann wieder von Wind und Sturm umtost wurde und dem Regen be-
reitwillig Einlass gewährte. So in ihrer Abgeschiedenheit zusammenge-
schweißt, frönten sie eisern ihren Sitten und Gebräuchen, wie sie ih-
nen von Geschlechte zu Geschlecht überliefert waren und von denen sie
schon aus Scheu vor den Ahnen niemals gelassen hätten. Der Zigeuner
hatte sich ihnen aus seiner angeborenen Wanderlust heraus angeschlos-
sen. Auf der langen Überfahrt empfand sich der Durchstreifer der Step-
pe als Gefangener des Dampfers, der ihm als teuflisch schwankender Kä-
fig erscheinen mochte. Vom Ufer aus machte das Meer auf ihn immerhin
noch tiefen Eindruck ob dessen Entgrenzheit. Erst einmal auf See,
fühlte er sich vollkommen eingeschnürt. Das Unendliche ist ein quälen-
des Trugbild, in dem der Mensch ausgespielt hat ... In den unendlichen
Wassern, von Fährnissen belagert, vom Schrecken befallen, kommt dem
Verstande sein naturgegebener Kompass abhanden; und das menschliche
Gemüt tauscht seine anfängliche blinde Begeisterung für die schäumen-
den Wogen gegen eine schiere Abwehrhaltung ein und weist dem schon
weit entschwundenen Gestade die Rolle eines Fluchtpunktes aller Sehn-
süchte zu. Der Mensch ist nur Herr seiner selbst, so weit er seinen
Bereich überschauen kann ...
   Die erste Zeit lebten die Ungarn voller Scheu vor ihrer unbekannten
neuen Welt müßig und unschlüssig vor sich hin. Die Männer erkundeten
die Umgebung, streiften umher, gingen auf die Jagd und ließen sich in
den Dörfern sehen; die Frauen blieben zuhause. Wurden die Schatten
länger, legte sich der Zigeuner ins Ufergras und ließ lässig den Son-
nenuntergang vor sich ablaufen. Sonntags kam die Familie auf der Ve-
randa zusammen. In der Ecke saß der Alte mit tief ins Gesicht gezoge-
ner Schirmmütze und Pfeife im Mund und kraulte gemütlich seinen lan-
gen blonden Bart und die Runzeln rundum; und die Mädchen und die bei-
den Burschen hatten sich, wie es sich für echte Ungarn gehört, in ih-
re feschen Trachten geworfen und frönten der großen Leidenschaft ihres
Volkes, dem Tanz.
   Gelegentlich kamen auch Milkau und Lentz bei ihren Spaziergängen am
Flusse entlang dort vorbei, setzten sich unter einen Baum und schauten
bei jenen Festen, so abseits jedes Trubels, zu. Der mit seiner Geige
verheiratete Zigeuner saß als der Musikant neben dem Alten. Auf ein
Zeichen hin stellten sich die Paare auf und legten eine Polka hin, als
die Musik drauflosspielte.
   Der Takt war zunächst gemessen, nahm dann aber immer mehr Fahrt auf
und riss die Tänzer mit. Mit schwungvollen Drehungen, anmutigen Wen-
dungen und kunstvollen Verschränkungen ihrer Arme miteinander schweb-
ten sie geradezu über ihre Weisen hinweg und fanden als Gruppe zu ei-
ner Darbietung, als entstammten sie der klassischen Bildhauerkunst. Am
Ende eines Kontretanzes schnauften sie zufrieden auf, und der Stolz
auf ihre Kunstfertigkeit war ihnen bestens anzumerken. Der Zigeuner
aber gönnte ihnen keine Mußeminute, riss die Geige heran, und sogleich
erlebten sie ein Neuerwachen der Leidenschaft.
   Mit der von vibrierender Hand gehaltenen Fiedel unter dem Kinn und
mit der anderen Hand am Bogen, entlockte der Musikant dem Instrumente
gedehnte, in die Länge gesungene Schmachtrufe. Die flaumfederbehuteten
Männer in Überzieher und Samthose und mit rotem seidenen Hüftbunde er-
griffen die Mädchen, deren Ausschnitt tiefe Einblicke erlaubte und de-
ren mit Samt und Seide verbrämten Röcke aufs Angenehmste ihre Rundun-
gen betonten. Auf dem beengten Raume, der Veranda, die eher über dem
wilden Strome, dem solche Weisen noch nicht untergekommen sein moch-
ten, HING denn an ihn grenzte, fanden in ihrem Kunstsinne die beiden
Rassen zur schicksalshaften Bruderschaft zusammen, die eine mit der 
angeborenen Liebe zur Musik, die andere mit ihrer Leidenschaft für den
Tanz. Jetzt wurde gewalzert. Die Tanzkünstler ließen sich von der Gei-
ge Verrücktheit gleichsam in die Luft reißen, weiter, höher, wobei ih-
nen unwillkürlich immer neue Figuren entströmten. Auf dem Gipfel der
Lust äugte die Jüngere, die mit ihrem Bruder tanzte, voller Glück, mit
entflammtem Antlitze, wonnetrunken, mit ihren vielsagenden Rehaugen zu
ihrem geliebten Musikanten hinüber ... Und als die Musik erstarb, er-
losch bei der Anderen noch längst nicht ihre Glut, sondern angelehnt
an ihren Liebsten keuchte, fast lechzte, sie mit halboffenem, blutro-
tem Munde noch immer dahin, mit Lippen so feucht wie der Tau.
   Felicíssimos Truppe war auch wieder zu neuen Marchfestlegungen im
Lande. Der Vermesser kam jeden Tag zu Feierabend auf Milkaus Hof zu
einem Schwatz; und in seiner bekannten lockeren Weise unterhielt er
die beiden mit Stücklein aus seinem bewegten Leben, etwas aus dem
Nordosten, jenem kargen, herben Ceará, dessen unerbittliche Halbwüste
sich tief in die Seele der Menschen, mit ihrer Ergebung, ihrem Leid,
aber auch Tatkraft und Hoffnung, eingebrannt hat ... Lag gerade keine
unaufschiebbare Arbeit an, tat sich Joca mit Lentz zusammen, und die
beiden machten sich in den Wald zum Jagen auf. Für Milkau war die Be-
kanntschaft mit jenen "Hintersavannlern" Balsam auf seine Seele. Ihre
unbekümmerte Art, ihr Mumm wie auch ihre Freundlichkeit brachten ihn
seinem Ideal schon wieder etwas näher ...
   Und so lief das Leben der Einwanderer wie des Vermessungstrupps ge-
mächlich dahin, bis eines Morgens der Chef mit seinen Gehilfen, als
sie vor ihrer Baracke saßen, am glasklaren Himmel ein schwarzes Etwas
majestätisch dahinschweben sahen.
   "Ein Urubu, ein Aasgeier! ...", wusste Felicíssimo sofort.
   "Das heißt, er muss Beute ausgemacht haben", war sich Joca sicher,
wobei er den Flug des Vogels genau beobachtete.
   Der große einsame Flieger zog bedächtig seine Bahnen und gemahnte
dabei an eine Kogge mit schwarzen Segeln ... Gleich darauf tauchte ein
weiterer am Horizont auf, und es ging nicht lange her, da wimmelte es
nur so von ihnen am Himmel. Immer engere Kreise ziehend, näherten sie
sich von oben dem angepeilten Punkt im Urwald, um sich schließlich
entschlossen darauf zu stürzen. Neugierig wie Kinder wunderten sich
die Arbeiter, was jene Stinker dort wohl zu finden hofften.
   "Aber ... da drüben haust doch der alte 'Hexerich'", fiel plötzlich
einem ein, wobei er sich auf jenen ungenießbaren, jagenden Sonderling
bezog.
   "Da ist wohl einer seiner Köter draufgegangen ... Hol sie doch alle
der Teufel ...", schalt der Mulatte.
   "Die Pest über die Bande! ...", schloss sich ein Anderer an.
   "Und das Herrchen gleich mit ..."
   "Wenn ihr mich fragt, war das gar kein Hund. Der hätte ihn doch be-
stattet wie ein eigenes Kind", nahm Felicíssimo an.
   "Klar - dann gäb's ja kein Aas."
   "Etwa war es ja doch der Alte selber?", vermutete einer.
   "Mann, logisch!", stimmte ihm ein anderer bei. "Ich habe ihn schon
tagelang nicht mehr gesehen."
   "Ich auch nicht ...", waren sich gleich mehrere einig.
   "Schaun wir doch nach, Chef!", drängte Joca den Landvermesser.
   Und sie brachen alle dorthin auf, wo der Jäger hauste. Als sie nä-
herkamen, hörten sie bereits das Gebell und Geheule der Meute. In
Sichtweite des Hauses erblickten sie die Tölen, wie sie wie wild her-
umrannten und mit ihrem Gekläffe die Aasgeier am Landen zu hindern
suchten. Die schwarzen Federviecher blieben knapp über dem Boden; und
als sich die Hunde auf sie zu stürzen drohten, nahmen sie Reißaus und
hielten sich in sicherer Entfernung.
   "Hab ich's nicht gesagt? Es IST schon der Alte!", brach einer der
Männer in Gelächter aus.
   "Pfui Teufel, stinkt's hier! Der muss ja schon tagelang hin sein",
brüllte ein anderer.
   Plötzlich hielten alle inne, wie um zu überlegen.
   "Also, Chef, wo geht's lang?", fragte Joca den Vermesser.
   "Keine Frage; der wird beerdigt! Gott sei seiner armen Seele gnä-
dig. Um den Leib kümmern WIR uns", sprach der Cearenser das letzte
Wort.
   Beflügelt von Felicíssimos Pietät, waren die Männer denn auch
gleich dabei und drangen durch die Umzäunung. Daraufhin ließ die Meute
von den Aasgeiern ab und stürzte sich wie ein Mann grimmig und mit oh-
renbetäubendem Gejaule auf die Truppe. Den Leichenschwelgen kam dies
gerade recht, um unter höllischem Gelächter und ständigem, beutegeilem
Wiegen ihrer Glatzköpfe wieder Boden zu gewinnen.
   Nun mussten sich aber die Männer zurücknehmen, da die Belferer zäh-
nefletschend und mit blutrünstigen Mäulern deutlich genug ihren Posten
als Verteidiger der Festung unterstrichen.
   "Wie kommen wir nur gegen die an?", fragte einer, als sie in siche-
rem Abstand waren.
   "Joca, geh du mit noch einigen um Werkzeug; dann werden wir's dem
Gezücht schon zeigen", befahl Felicíssimo in Vorfreude auf einen Ra-
chefeldzug.
   "Ihr habt's gehört", sagte Joca und zog mit zwei Weiteren los.
   Die Anderen behalfen sich derweil mit Steinwürfen auf die Hunde,
die grimmig entschlossen schienen, das Gatter als letzte Bastion zu
halten. Die Urubus, die Geier, die sich weitere Verstärkung besorgt
hatten, setzten ihren Vormarsch ins Haus fort. Schon von Weitem haute
der Gestank die Männer fast um und hätte sie beinahe zum Kotzen ge-
bracht.
   "Wo bleiben die denn?", knurrte Felicíssimo ungeduldig ob Jocas und
der Anderen, und kommandierte:
   "Mehr Steine, Jungs! Gut gezielt ist halb gewonnen."
   Die Hunde heulten wieder auf und bleckten ihre messerscharfen Zäh-
ne ... Die Geier stießen wie gehabt vom Himmel herunter ... Schließ-
lich kamen doch noch Joca und die zwei Anderen an, bewaffnet mit Ha-
cken, Hippen und Prügeln. Jeder schnappte sich etwas, und Felicíssimo
hieß sie voller Inbrunst:
   "An den Feind!"
   Die Männer warfen sich mit voller Gewalt an das Gatter, das unter
ihrem Ansturm nachgab und in Trümmer ging; die Meute aber wich nicht
zurück, im Gegenteil, und biss wie toll auf sie ein. Schmerzgepeinigt
brüllten die Angreifer auf:
   "Macht sie nieder!"
   Holz und Hippe sausten auf die Bestien herab, und wieder bissen sie
auf die Männer ein, denen schon das Blut aus den Wunden troff. Win-
selnd gab auch schon mal ein Hund auf, wenn ihm ein grimmiger, wohlge-
zielter Hieb das Bein zerschmettert hatte. Als die Männer erkannten,
dass jedem von ihnen als Einzelkämpfer nur noch die Flucht bliebe,
rückten sie zusammen und bildeten, schwer bewaffnet, eine Trutzburg.
   "Nicht nachlassen!", rief Felicíssimo.
   "Vorwärts! Vorwärts!"
   "Hinein! ... Hinein! ..."
   Vor diesem Ungestüm gaben die Viecher klein bei und verzogen sich
wie weggezaubert. Die Männer rückten nach und drangen waffenschwingend
in das Haus ein ... Dort bot sich ihnen ein schreckliches Bild, das
ihnen, zusammen mit dem fürchterlichen Gestank, den Atem raubte. Drin-
nen nämlich hatten sich die Geier über einen menschlichen Leib am Bo-
den hergemacht, die Leiche des leutescheuen Einsiedlers. Die Augen
hatten sie bereits herausgepickt und im Kopf zwei grässliche, blutig-
rote Höhlen hinterlassen. In ihrer höllischen Schlinglust nahmen die
Räuber die Menschenwelt gar nicht mehr wahr und verbissen sich in ihre
Pick- und Schmausorgie. Die Hunde, die sich von ihnen abgewandt hat-
ten, widmeten sich wieder den menschlichen Angreifern.
   "Verzieh dich; weg!", donnerte Joca wutentbrannt.
   Der Maranhenser wusste, was sich gehört, und versuchte die Leiche
den Aasvögeln zu entwinden. Die Hunde zerrten an seinen Beinen und der
Kleidung, um ihn aufzuhalten ... Die Kameraden sprangen ihm bei. Die
außer Rand und Band geratene Bande hielt es für geraten, von der Beute
abzulassen, und blies zum Rückzug, allerdings nicht weit, sondern nur
bis ins Gebälk des Gebäudes, wobei sie mit ihren Schwingen erst recht
den unbeschreiblichen Gestank aufwirbelten. Sie konnten sich nicht
aufraffen, den Ort der für sie lieblichen Düfte ganz aufzugeben und
postierten sich dort oben als eine makabre Trauergemeinde, als Zeugen
des Straußes zwischen Mensch und Hund ... Als Joca die Leiche erreich-
te, stieg das Wüten der Untiere auf seinen Höhepunkt. Sie scheuten
nicht mehr Sense noch Sensenmann und sahen nur noch den Feind, der
sich an ihrem Herrchen vergreifen wollte ... Es war der Wahnsinn:
Mensch gegen Tier, EIN Verwunden, EIN Zerfleischen, als wären alle
durchgedreht ... Die Männer wurden hart bedrängt; heißes Blut strömte
über so manchen Arbeiters nacktes, helles Bein ... Heulend, wie beses-
sen, warfen sich die Hunde über den Leichnam ihres Herren und hauchten
ihr Leben aus. Nach getanem Kampfe schafften es einige aus der Truppe,
den Leichnam zu sichern und hinauszuzerren, während die Gefährten ih-
nen tapfer den Rücken freihielten. Immer noch leisteten einige Köter
Widerstand, wurden aber schnell erledigt ... Einige waren noch übrig
und gingen erneut, wie neu beseelt, zum Angriff über. Einer verbiss
sich dermaßen in eines Mannes Oberschenkel, dass ihn dieser selbst mit
seinem schweren Werkzeug nicht mehr abschütteln konnte. Das Raubtier
drang nur immer weiter ein, immer weiter ... Ein Anderer kam ihm end-
lich zu Hilfe und hieb dem Viech mit der Hippe entschlossen den Kopf
ab, wobei dieser im Schenkel des Opfers stecken blieb und das Blut in
Strömen an jenen Schädel vorbei herausschoss ...
   Die Meute war vertilgt. Der Hof war übersät mit verstümmelten Kada-
vern; verstreut lagen die fehlenden Teile herum. Die schwer mitgenom-
menen und todmüden Männer bahrten den Alten auf den Boden. Und schon
wären auch die Aasgeier gleich wieder zur Stelle gewesen und hätten
sich frech am Leichnam bedient, den ihnen die Männer um ein Haar aus
schierer Erschöpfung überlassen hätten.
   "Nichts da!", griff Felicíssimo empört ein. "Der arme Kerl wird be-
stattet ... Wäre ja noch schöner, ihr Jammerlappen! ... Na, wird's
bald?!"
   Und der Cearenser griff sich selbst eine Hacke und grub mit. Die
einen folgten, wenn auch murrend. Dafür wehrten die anderen die Aas-
geier ab.
   "Tiefer!", ordnete der Vermesser an. "Sonst scharren ihn die Geier
wieder heraus ... Es kann doch nicht sein, dass hier ein so armseli-
ges, verlassenes Geschöpf Gottes einfach von diesen Drecksviechern
gefressen wird ..."
   Alsbald lag das Grab bereit, und der eingewanderte Waidmann wurde
zur Ruhe gebettet. Felicíssimo ging auf die Knie und betete: "Vater
unser, der du bist im Himmel ..." Von Mitgefühl und Ehrfurcht ergrif-
fen, in Trauer und von der plötzlichen Begegnung mit dem Tode überwäl-
tigt, knieten sich auch jene Raubeine nieder, nahmen den Hut ab und
fingen zu beten an. Dann verschlossen sie das Grab. Dabei verzogen
sich die Geier nach und nach in ihr Reich in den Lüften.
   In jener Nacht, als Felicíssimos Leute vor der Baracke beieinan-
dersaßen, erlauschten sie furchteinflößende Rufe, eine Art Grunzen,
das die Stille des Waldes erschütterte. Die Quelle entpuppte sich als
ein Rudel Wildschweine. Aber Joca wusste es besser:
   "Das sind die Seelen der Köter; sie haben sich bloß in Caititus
verwandelt, um den alten Teufel auszugraben und auferstehen zu lassen
..."
Und so kam es zu einer typischen Doce-Sage. Und noch heute, wenn näch-
tens der Sturm pfeift und die Schweine den Wald durchgrunzen, gehen
die Leute in sich und gedenken der verzauberten Hunde ...
   Ein nebliger Tag brach an, in dem die klaren Züge der Landschaft
verschwammen, die Berge ihr Haupt in den Wolken begruben, das Wipfel-
meer dampfte und der unendliche Fluss sich wie eine graue Teigmasse
aufs Trauteste mit dem tiefhängenden Himmel vermählte. Verschwommen
war alles, verschleiert, und Farben wie Schatten mussten sich von ih-
ren Spendern mit einigem Nachdruck absondern, und der eine oder ande-
re Klecks versuchte sich besonders hervorzutun. Im grünlich-dämpfigen
Gefilde bewegte, wölbte, duckte, hob sich ein solcher und begann zu
verschwimmen. Die Sonne ließ nicht auf sich warten, die Natur beutelte
sich ab, der Nebel verflog, und der Himmel erstrahlte neu in ungetrüb-
ter Reinheit. Der Wischer stellte sich schließlich als eine elendige
Mähre heraus, die mit Trauermiene auf den Grasteppich hinunterstarrte.
Im Vorbeigehen zupfte sie mit den schwarzen, gedunsenen Lefzen am Gra-
se und biss lustlos darauf herum, während ihre Aufmerksamkeit als er-
fahrener Gaul ganz auf die Tür der Hütte gerichtet war, von wo aus sie
ihre Halter, die neuen ungarischen Siedler, genauestens im Auge hat-
ten. Ein hurtiger Nebelhauch riss sie aus ihrer gleichmütigen Neugier
und koste ihr abräudiges Haarkleid mit einem frischen Schauer. Das
Ross erschauderte wohlig, streckte das Maul, schürzte die Lippen und
küsste dankbar, sinnenfroh die Luft. Der Nebel zog sich schließlich,
von der Brise getrieben, in die Berge zurück, als wäre er der zarte
Schleier einer unsteten, etwas verspäteten Göttin. Da schien ein Son-
nenstrahl auf und ließ dem Klepper die Augäpfel aufleuchten - die
kleinen Freuden der Natur eben.
   Einer der ungarischen Burschen ging mit einem Strick auf das Pferd
zu. Das Tier hielt ihm bereitwillig, mindestens gleichgültig, den
Kopf hin. Der Junge halfterte es und führte es zu einem Pfosten vor
dem Hause, wo er es anband. Die Siedler hatten feierlich beschlossen,
heute mit der Bepflanzung zu beginnen, und der Alte gab das Zeichen,
zur Rodungsstelle zu marschieren. Die Söhne nahmen einige Werkzeuge
mit, und der Zigeuner, nur mit einer Peitsche versehen, raffte sich
gerade noch auf, mit den Anderen mitzuziehen, die das Pferd losbanden
und Richtung Rodung stapften. Die Mädchen, die wohl schon Schlimmes
ahnen mochten, blieben zuhause und sahen die Gruppe fortzockeln.
   Sie kamen an der Marchschneise an, die sich wie eine klaffende Wun-
de, eine Furche mit einigen Metern Breite, um die ganze Brandstelle
zog. Der Urbewuchs war abgebrannt; nur einige schwarze Baumstumpen
waren übriggeblieben ... Milkau und Lentz kamen gerade des Weges und
trafen bei jener Rodung auf ihre Nachbarn.
   "Na endlich;" meinte Milkau, "legen sie jetzt doch einmal los. Es
war ja nicht mehr zum Ansehen, wie sie so auf der Bärenhaut lagen."
   "Aber was um alles in der Welt haben sie nur mit dem Gaul vor?",
fragte sich Lentz.
   Die beiden blieben etwas im Hintergrund und erkundeten das Treiben
der Leute.
   Der Alte der Neueinwanderer packte das Tier am Halfter und führte
es auf die March. Die Söhne stellten sich andächtig seitlich auf, als
ginge es um einen religiösen Ritus. Der Vater trieb das Tier vorwärts.
Der Zigeuner folgte mit der Peitsche in der Hand nach und ließ einen
ersten Hieb, der die Luft durchzischte, mit aller Gewalt auf das Tier
niederschnalzen. Dieses zuckte unwillkürlich zusammen und sprang vol-
ler Schreck auf. Und weitere Schläge folgten, gewaltig, gnadenlos. Das
Tier wusste nicht mehr ein noch aus und wand sich bald hierhin, bald
dorthin, um sich der Geißelung zu entziehen. Alle seine Glieder ver-
krampften sich ob der Höllenqual. Doch mitleidlos ließen sie die Peit-
sche weiter ihr Marterwerk vollführen. Die Folterknechte zelebrierten
damit ein Opferritual, eine heilige Mission: Dem Neuland wurden die
Sitten und Gebräuche der alten Heimat aufs Auge gedrückt. Als ihre ta-
tarischen Vorfahren der asiatischen Hochebene entstiegen und auf euro-
päischer Scholle ihr Nomadenleben ablegten und sich sesshaftem Acker-
baue zuwandten, opferten sie den Göttern ihren alten Gefährten aus der
Zeit der Steppenwanderung. Und so blieb das Rossopfer ein zutiefst in
der Seele der Nachfahren verankertes Pflichtzeremoniell.
   Die Gruppe prozessierte weiter. Der Alte, der Hohepriester, führte
das Opfer, gefolgt vom Zigeuner, in dessen Antlitz sich die ganze höl-
lische Grausamheit und Blutrünstigkeit der Altvordern bündelte. Die
Anderen bildeten nur die Staffage. Die Geißel kannte keinen Unterlass;
schon fraßen sich ihre Eisenhaken in die Lenden des Tieres. Die steife
Brise, die in das lebende, zuckende Fleisch drang, steigerte den
Schmerz ins Unermessliche, während der Anblick und der Geruch des Blu-
tes den Zigeuner immer weiter in Fahrt brachten. Jeglichen Mitleides
entkleidet, führte er wie in Trance sein mörderisches Werk fort.
Schwindlig, wie betäubt, ließ er nichtsdestominder von seiner Peini-
gung keinen Augenblick ab. Tiefer und tiefer taten sich die Wunden
auf, wahre Abgründe, aus denen das Blut in Strömen schoss. Wahnsinnig
vor Schmerz, schleppte sich das Pferd mit letzter Kraft dahin und be-
netzte die Erde. Rote Blutstropfen besprenkelten des alten Ungarn li-
lienweißes, bares Haupt. Wonnig schnupperte er die Szene ein. Tief-
gründiges Ächzen, Stöhnen entdrang der Brust des Tieres, dessen den
Tod ahnender Blick ein letztes verzweifeltes, stummes Flehen um Barm-
herzigkeit ausstrahlte.
   Unter ständigem Ertönen der Hiebe quälte sich der Märtyrer mit ge-
beugtem Nacken und erlahmten Beinen dahin und verströmte seinen Le-
benssaft wie aus offenen Spunden. Der Zigeuner übertraf sich in seiner
Wildheit noch einmal selbst und ließ aus seiner geübten Kehle den
Kriegsgesang der alten Tataren hervorbrechen, wobei ihm sein Teufels-
werkzeug als Schlagzeug und Taktgeber diente. So steckte er letztend-
lich auch die bisher stummen Zeugen des Geschehens an, die von den
Rhythmen, dem Ritus und dem Duft des blutiges Fleisches mitgerissen
wurden und zu einem Chore der höllischen Heerscharen zusammenfanden.
Das Tier konnte nicht mehr und plumpste wie ein Mehlsack nieder. Die
unerbittliche Peitsche trieb es ein letztes Mal auf, und im Staube
zeichnete sich sein blutiges Bild ab, wie auf dem Schweißtuch der Ve-
ronika. Heftig, schauerlich beleidigte das Gejohle die linden Lüfte,
die nicht umhin konnten, den satanischen Todesgesang widerhallen zu
lassen. Das Pferd versuchte noch einige Male, sich aufzurappeln, tau-
melte wie betrunken und streckte sich dann endgültig auf die Erde nie-
der. Keuchend, röchelnd hauchte es allmählich seinen Geist aus. In den
Augen des Leidenswesens spiegelten sich in einem letzten Aufblitzen
die Fratzen der Henkersknechte. Dieses tief in seinen Augen gespei-
cherte Bild, das einer unermesslichen Peinigung, würde es noch im Jen-
seits verfolgen und die Verwesung seines irdischen Leibes, dem eines
Blutzeugen, überschatten.
   Es wurde still. Die Männer stellten sich um den Kadaver herum auf
und - ja, sie beteten! Rote Pfützen und Rinnsale befleckten die March.
Die glatte, klebrige Lehmschicht wirkte wie eine Panzerung, ließ das
Blut nicht im Schoße des Landes versickern und stattdessen gen Himmel
verdunsten und sich in den Lüften zersetzen. Das hieß aber, dass das
Opfer verschmäht war und der grausame Ahnenbrauch ein Schlag ins Was-
ser. Das neue Land hatte deutlich gemacht, was es von den noch so gut
gemeinten Überzeugungen der Neuen hielt ...
   "Und wofür jetzt all das?", fragte sich Milkau unter Tränen. "Wozu
diese Pein, diese Bluttaufe, wenn ihnen das neue Land, lächelnd und
fröhlich wie eine hübsche Maid, doch ohnehin alles gegeben hätte,
schlicht durch die Gewalt der Liebe? ..."


                                 -IX-

   Und das Unausbleibliche trat ein ... Inmitten des Kaffeehains, den
sie jätete, überkam Maria ein jäher Schmerz, wie wenn sich ein Dolch
in sie gebohrt hätte. Schon seit dem Abend hatte sie ihr aufgewühltes
Inneres gefühlt ... Schwer sank sie zu Boden, alles in ihr verkrampfte
sich, und ihr bleiches Antlitz verzog sich zu einer schrecklichen
Fratze. So heftig die Wehe war, so schnell war sie vorüber; und sowie
sich das Mädchen gefangen hatte, wenngleich völlig verängstigt, war
ihr erster Gedanke, sich ins schützende Haus zu begeben und dort des-
sen zu harren, was da kommen sollte. Jedoch fürchtete sie die Miss-
gunst und den Gift der Herrschaft, die nur noch drauf aus war, sie
loszuwerden und sich der Last der Pflege zu entledigen. So raffte sie
sich auf und schuftete weiter an ihrem Kaffee, einsam und verlassen.
Sie richtete kaum etwas aus; die Hacke entfiel ihren schlaffen Händen,
und die angeschwollenen Beine hatten Mühe, sie aufrecht zu halten. Im-
mer wieder meldete sich der Schmerz, als wollte er sie zerreißen. Ma-
ria hielt sich den Bauch, um die Pein etwas zu lindern. Doch immer
wieder rappelte sie sich auf und zwang sich, der eindringenden Wildnis
Paroli zu bieten, aber sogleich musste sie, in kalten Schweiß gebadet,
wieder aufgeben. Mitunter hätte sie am liebsten laut aufgeheult, und
in der Tat entfuhr ihr so mancher unwillkürliche Hilfeschrei. Als sie
sich wieder beruhigt hatte, erschrak sie aber ob des Gedankens, jemand
könnte sie wirklich gehört haben und ihr zu Hilfe eilen. Ihr war gar
wohl bewusst, dass es nicht angebracht wäre, die Herrschaft über Ge-
bühr zu behelligen, weil sie es ihr nur wieder heimzahlte und sie, Ma-
ria, letztlich um ihr Heim fürchten müsste, zwar ein elendes, aber im-
merhin ein Zuhause. Die Wehen klopften immer unerbittlicher an, und
das arme Ding wusste, dass die Stunde gekommen war.
   In tausend Ängsten ließ sie ihre Pflichten sein, entzog sich dem
Blick vom Hofe aus, verließ den Kaffeehain und stahl sich in die Au,
an ein einsames Plätzchen. Hier, in der Öde, waren die einzigen Bäume
vereinzelte Nierennussbäume, Cajueiros, und zwar ziemlich verkrüppel-
te, die auf dem Boden dahinkrochen und damals gerade in Blüte standen.
Maria setzte sich unter einem derselben nieder. Der starke Duft bene-
belte sie dermaßen, dass sie sich hinfallen ließ. Zwischen den Wehen
ließ Maria ihren Blick teilnahmslos umherschweifen und machte ihn dann
am beeindruckenden Gefunkel des Flusses fest ... Nichts regte sich in
jener Einöde außer einer Rotte Schweine, die ein Stück weiter den Bo-
den durchschnüffelten und durchwühlten ... Maria stöhnte laut auf und
krümmte sich vor Schmerz. Schrill, gellend tönte sie ihr Weh hinaus,
doch mitunter versagte ihr die Stimme und ging ihr Schreien in einem
heiseren, erstickten Gurgeln unter. Ihr Schoß war zum Zerreißen ge-
spannt ... Dann ließ die Pein wieder nach, und kalter Schweiß rann ihr
über den Körper, der träge dalag, bis ihn die nächste Wehe befiel. Die
Schweine rückten allmählich näher, und die Beklagenswerte, die nichts
mehr mitbekam, verfolgte ihren Trott mit den Augen ...
   Und immer wieder diese Wehen, jetzt aber häufiger, stechender, ge-
folgt von einem Aufschluchzen, das mit heftigen Zuckungen ausklang.
Der Schmerz war unbeschreiblich, der ganze Leib schlotterte, die Zähne
klapperten, und ihre rosigen Hände pressten sich zusammen wie ein
Schraubstock. Sie war in voller Auflösung begriffen, bildlich wie tat-
sächlich; ihr Haar fiel ihr lose und wirr übers Gesicht, die aufgedun-
senen Backen barsten schier vor Blut, die zerrissene Kleidung gab den
Blick frei auf die bloße, keuchende Brust. Schlagartig fühlte sie ihr
Bewusstsein schwinden und glaubte sich in eine schlabberige, eklige
Flüssigkeit aufzulösen ...
   Der Tod! Nein, schlimmer als der Tod ... Wiederum schüttelten sie
heftige, dumpfe Wehen, die sie, wie auch immer, durch Gegendruck zu
lindern hoffte. Maria presste sich verzweifelt an den liegenden Nuss-
baumstamm. Alles verschwamm vor ihren Augen. In ihre Ohren drang das
raue Grunzen des Schweinerudels, das von ihrer Ausdünstung angelockt
wurde und sie bedrängte ... Immer enger klammerte sie sich mit ihren
schneeweißen Armen an den Stamm und verbiss sich in ihn ... Rundherum
schnaubten die Schweine, durchwühlten das dürre Nussbaumlaub, und ei-
nige besonders dreiste, gierige, beleckten bereits erwartungsvoll den
Boden ... Von Grauen erfüllt, suchte Maria sie zu verscheuchen, doch
vergebens; eine neue Welle von Wehen erlaubte ihr nicht einmal mehr
einen scharfen Schrei, und so entrang sich ihr nur noch ein zuckendes
Greinen, das sie bei aller Pein in ein Reich des Wohlgefühls und der
Wonne entrückte ... Die Schweine schlossen den Belagerungsring enger
... Plötzlich ließ sie los und fiel zu Boden ... Doch - was war das?
Inmitten des Gegrunzes - das Wimmern eines Kindes! ... Die Frau griff
aus, ihren Buben in den Arm zu nehmen, doch sie vermochte es nicht;
der Arm erstarb ihr, kaum dass sie es versuchte. Schwindel ergriff
sie, trübte ihre Sinne und enthob sie in eine andere Welt, des Leidens
entledigt, voll Fried und Freud, und nur von ferne nahm sie das be-
friedigte Schnaufen der Schweine wahr, als sängen ihr entlegene Wogen
ein Wiegenlied ... Durstendes, quiekendes Schweinevolk stürzte sich
gierig, einander wegdrängend, auf das strömende Blut. Ein Schrei ent-
rang sich Marias Brust und brachte ihr ihre Sinne zurück. Die Schweine
stutzten, ließen von ihr - ihnen - ab, und Maria fing sich und blick-
te, noch fassungslos, auf das Kindlein nieder, wie es sich mühsam ins
Leben strampelte. Sie fühlte die Leere in ihrem Schoße und das Ver-
klingen des Schmerzes und verfiel in tiefe Ohnmacht. Schon nutzten die
Schweine die Gelegenheit und machten sich über alles Blutige am Boden
her. Vor nichts machten sie Halt, die Bestien; erst ging es nur ans
Blut, dann aber fielen sie schonungslos über das Kindlein her, das bei
den ersten Bissen einen fürchterlichen Schrei tat, der die Mutter zur
Besinnung brachte ... Als sie klarsah, sprang sie jäh auf, doch es war
zu spät: Leichenblass, in Schockstarre, musste sie mit ansehen, wie
die Schweine ihren Kleinen geraubt, zerfetzt und zerrissen und längst
das Weite gesucht hatten ...
   Das Mädchen vom Hof, das auf der Suche nach Maria war, kam ebenda
an, sah das Schreckensbild, fragte nicht nach dem Wie und Warum, eilte
vom Grauen gepackt ins Haus und posaunte hinaus, die Magd habe ihr
Kind umgebracht ...
   Zwei Tage darauf befand sich Maria im Porter Gefängnis.
   Die deutsche Bevölkerung war zutiefst erschüttert, als sie von dem
Verbrechen hörte; und was Rang und Namen hatte bei den Deutschen, die
reichen Handelsherren, die Geistlichen, die Besitzenden, waren sich
eins: Hier muss ein Exempel statuiert werden. Eines Morgens, noch ehe
das Gericht tagte, erledigte Dr. Itapecuru mit dem Schreiber einige
Akten, und Dr. Brederodes ging die politischen Zeitungen aus der
Hauptstadt durch; da trat in schönstem Sonntagsstaate und in aller
Feierlichkeit Robert Schultz ein.
   "Seid willkommen in diesem Hause!", begrüßte ihn schmeichlerisch
der Amtsrichter.
   Der Deutsche grüßte ausgesucht höflich zurück und hatte für jeden
einige Artigkeiten bereit. Zunächst ging es um dies und das, wobei der
Schwatz auch schon einmal ins Stocken kam. Itapecuru schwante es, dass
Schultz etwas auf dem Herzen hatte, was er gerne mit ihm vertraulich
besprochen hätte. Aber was? Irgendeine Gefälligkeit, wie üblich? Oder
gar seine Schulden? Itapecuru überlegte fieberhaft und lächelte den
Anderen nichtssagend zu. Er wagte nicht, den Deutschen zur Seite zu
nehmen und blinzelte vielmehr dem Schreiber zu, zu bleiben, der schon
aus Neugierde ohnehin nicht gewichen wäre. "Nein, um Aktenkram geht's
wohl nicht"; dachte der Richter, "dafür schaut er mir zu grimmig und
zu abgehoben ... Er ist wohl doch wegen der Schulden da; verflucht,
was mache ich nur?"
   "Also, Herr Doktor", äußerte sich Schultz endlich, des Gequassels
müde, "was mich hierhertreibt, ist ..."
   Itapecuru fiel ein Stein vom Herzen. "Also geht's ihm doch nicht
ums Geld. Wär auch noch schöner, so vor allen Leuten ..."
   "Aber, mein Freund! Euer Wunsch ist uns Befehl. Wir stehen zu Eurer
Verfügung. Oder etwa nicht, Dr. Brederodes?"
   Der Staatsantwalt murmelte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart
und zuckte die Schultern:
   "Kommt drauf an. Wenn es sachlich begründet ist ..."
   "Aber, Herr Doktor, Ihr werdet doch nicht annehmen, dass ich die
Justiz mit irgendeinem Pipifax behelligte?", lächelte der Deutsche den
Staatsanwalt an und klopfte ihm auf die Schulter, dem diese plumpe
Vertraulichkeit sichtlich peinlich war.
   "Schon klar", rettete Pantoja die Situation. "Wir kennen uns ja
schon so lange, und nie wäre Robert wegen etwas Unangebrachtem gekom-
men."
   "Genau, Capitão", stimmte Itapecuru ein und blies seine Backen zu
etwas wie einem Lächeln auf, woraufhin ihm wieder einmal sein Augen-
glas herunterfiel.
   "Also, WAS nun?", preschte die "Waldkatze" vor.
   "Meine Herren, ich stehe hier vor Euch im Namen der deutschen Ge-
meinschaft, um die Bestrafung dieses Luders von Kindsmörderin zu for-
dern. Schon um der Würde der Deutschen willen verlangt ein solch un-
fassbares Verbrechen nach einer exemplarischen Ahndung ..."
   "Die deutsche Gemeinde weiß", sprach Itapecuru salbungsvoll, "dass
die Gerechtigkeit hier in guten Händen ist. Es wird sorgfältigst er-
mittelt, wie es in der Natur unserer Obliegenheiten liegt."
   "Manche befürchten halt, der eine oder andere der Herren könnte so
etwas wie Mitleid für die 'Mutmaßliche' entwickeln ..."
   "Ausgeschlossen. Justitia ist blind", setzte der Amtsrichter einen
Punkt mit einem Seitenblick auf den Schreiber: "Wie weit sind wir denn
überhaupt schon?"
   "Dr. Brederodes hat gestern die Anklageschrift aufgesetzt ... Ich
habe alles Nötige veranlasst, damit der Prozess anlaufen kann."
   "Also, werter Herr Kollege, dann ist also die Schuld der Angeklag-
ten zweifelsfrei erwiesen?", fragte Itapecuru den Staatsanwalt ...
"Was gibt denn die Sachlage her?, sagt doch!"
   Brederodes gab keine Antwort und blätterte geflissentlich in ir-
gendwelchen Zeitungen herum.
   "Die Schuldfrage ist doch wohl klar", ereiferte sich Schultz. "Es
gibt Augenzeugen, und laut denen hat sie das Kind den Schweinen zum
Fraße vorgeworfen ... Und dann - das ganze Vorleben ..."
   "So?"
   "Aber klar doch; eine Schnalle halt ... Was hätte die mit einem
Kind anfangen sollen? Ihr versteht schon? ... Dergleichen kann man
einfach nicht einreißen lassen. Nehmen wir an, Ihr ließet der das
durchgehen, und wir schwiegen dazu, ja, dann würde doch die ganze Mo-
ral in den Kolonistenfamilien zusammenbrechen, oder nicht?"
   "Aber wie, meint Ihr, könnten wir hier vom Gericht den Fall unter
den Teppich kehren?", meinte Brederodes trocken ...
   "Ganz einfach: keine Anklageerhebung, Haftverschonung, Verfahrens-
einstellung, das ganze Programm halt", lehnte sich der Deutsche weit
hinaus.
   "Ja, jetzt schlägt's dreizehn! Dieser Herr Schultz und seinesglei-
chen werden uns doch wohl nicht als ihre Lakaien betrachten, oder,
Capitão?" - und Brederodes knallte die Faust auf den Tisch.
   "Dr. Brederodes ..." - "Doktor ...", versuchten die Anderen, den
Gefühlsausbruch des jungen Staatsanwaltes etwas einzubremsen. Dieser
redete sich aber erst recht in Rage und machte den Handelsherren gna-
denlos nieder, der dem nur ein wohl als entwaffnend gedachtes Lächeln
entgegensetzen konnte.
   "Ist doch so! Jeder Depp, der sich auf unsere Kosten bereichert
hat, spaziert hier ins Gericht herein, spielt sich als der Kazike der
Deutschen auf und möchte uns über unsere Pflichten belehren. Geht's
noch?"
   "Aber wo liegt das Problem, Kollege? Ich glaube, dass das Volk ..."
   "Volk? Pustekuchen! Diebsgesindel, Möchtegernbürgermeister, Daher-
gelaufene ... Volk - dass ich nicht lache!"
   "Naja, sie wollen halt, dass der Fall geklärt wird."
   "Heuchlerbande ... Ertappen sie eine der ihren auf frischer Tat,
und sie wissen sich nicht zu helfen, ist das Geschrei groß, und wir
sollen die Suppe auslöffeln. Sauber, sag ich!"
   "Die guten Sitten ...", hob der Deutsche tollkühn an.
   "Sitte? Quatsch! ... Alles Gleisnerei. Der Ehrenkodex von Wegelage-
rern, die uns ausnehmen und sich unser Land unter den Nagel reißen!"
   "Dann meinen Euer Gnaden also, dass hier kein Verbrechen vor-
liegt?", fragte Pantoja, um dem Gespräch eine andere Richtung zu ge-
ben.
   "Ein Verbrechen? Und ob! Ich kenn sie schon, diese Schlampe", gab
Brederodes höhnisch zurück.
   "Ist es die, die ...?", fragte die "Waldkatze" hinterkünftig.
   "Genau die; erst tat sie mir gegenüber, als könnte sie kein Wässer-
chen trüben, und nun sowas! Aber jetzt ist Zahltag. Den ganzen Prozess
ziehe ich eisern durch und reiße dem Gesocks die Maske vom Gesicht.
Etwa ist das nur die Spitze des Eisbergs. Würde mich nicht wundern,
wenn diese Fräuleins überhaupt ihre Schratzen so entsorgten, wenn ...
Kommt schon auf. Ich bin der Staatsanwalt. Mir etwas abfordern? Nicht
mit mir!"
   Selbst das Geifern erstarb ihm, weil er sich vor Zorn fast ver-
schluckte. Er griff sich den Hut, gab mit Ach und Krach Itapecuru,
der ihn aufgehalten hätte, die Hand und würdigte den am Boden zerstör-
ten Schultz nur noch eines vernichtenden Blickes.
   "Komischer Kauz!", meinte Pantoja, als sie unter sich waren, auch
um die Ausfälle des Staatsanwaltes etwas zu überspielen.
   "Jetzt führt er Selbstgespräche und fuchtelt herum. Wenn der nicht
einen Hau hat ... Naja, ein Grünschnabel halt", merkte der Schreiber
an, während er ihn durchs Fenster auf der Straße beobachtete.
   Der Deutsche war mäuschenstill. Jedes weitere Wort hätte nur Öl ins
Feuer gegossen.
   "Woran es der Jugend von heute am meisten gebricht", urteilte Dr.
Itapecuru, dabei wie üblich mit dem Monokel spielend, "ist Verständnis
für die tragenden Kräfte des Landes. Sie meinen, Revolution an sich
bedeutete schon Fortschritt - Revoluzzer eben. Auch ich bin für Men-
schenrechte und betrachte mich als liberal, aber als Staatsdiener weiß
ich auch, jedem zu geben, was ihm zukommt. »Suum cuique tribuere«."
   "Darum geht's im Recht", brachte es der Schreiber auf den Punkt,
dem schon wieder eine langatmige Ansprache schwante.
   "Gerechtigkeit für alle, Alt und Jung. Was wäre die Gesellschaft
ohne Ordnung? Gar nichts! Und dafür aber brauchen wir eben jene Säu-
len. Und, wer ist das hier im Siedlungsgebiet?"
   Keine Antwort. Itapecuru belächelte etwas sein tumbes Publikum und
fuhr fort:
   "Wer also? Die Handelsherren, die Landbesitzer, Siedler, die sich
etwas geschaffen haben, sprich, die gutbürgerlichen Kreise, eben die,
die etwas zu verlieren haben ... Denen wirft man nicht Knüppel zwi-
schen die Beine, wenn Gesellschaft, Zusammenleben gelingen soll. Den
Herren Jakobinern fehlt der Sinn dafür. Zerstören, umstürzen ist al-
les, was sie können; das nennen sie Politik. Traurig, traurig ..."
   Robert Schultz stand ungeduldig auf. Da machte auch der Amtsrich-
ter einen Punkt.
   "Nun, Euer Ehren; ich kann also meinen Leuten ausrichten, dass die
Täterin so gut wie verurteilt ist?"
   "Die deutsche Gemeinschaft kann sicher sein, dass gemäß meinen The-
orien ...", setzte Itapecuru schon wieder an. Schultz schenkte sich den
Rest, legte ihm eine Verbeugung hin und entschwand. Pantoja folgte ihm
wie auf Katzenpfoten nach.
   "Ach, Schreiber; und was ist mit unseren Unterlagen?", wollte ihn
der Amtsrichter noch aufhalten, eher weil ihm damit der letzte Zuhörer
für seine Ansprache wegbrach.
   "Bin gleich wieder da; eine Minute", wiegelte der Landschreiber ab
und stahl sich mit dem Deutschen davon.
   "Unser Staatsanwältlein!", höhnte draußen Robert Schultz der "Wald-
katze" gegenüber.
   "Der spinnt."
   "Nur spinnen? Bei mir ist der unten durch! Ich schreibe nach Vitó-
ria und mache ihm die Hölle heiß."
   "Na, na", stotterte der Schreiber verlegen. "Blöderweise sitzen
diese Jakobiner überall drin. Die halten zusammen wie Pech und Schwe-
fel; eine richtige Loge ... Und wer weiß, etwa hört ja der Gouverneur
auf sie?"
   "Donnerwetter!", rief der Deutsche in seiner Muttersprache über-
rascht aus und fuhr wieder wie gehabt fort:
   "Das würde denen so passen! Bei den Wahlen sollen wir ihnen Wähler
wie Stimmvieh zutreiben, fünfhundert allein schon in dieser Kolonie;
und dann dürfen wir bitten und betteln, dass eine Verbrecherin, die
eine Schande für uns darstellt, auch wirklich verknackt wird ..."
   "Ihr habt ja recht ... Also, dann schreibe ICH dem Gouverneur, na-
türlich vertraulich, und ersuche wenigstens um Brederodes' Verset-
zung ... Eine Versetzung reicht doch, oder?"
   "Zum Teufel mit ihm!"
   "Also gut, zum Teufel", wiederholte der Schreiber mechanisch.
   "Ihr schreibt also? Kann ich mich drauf verlassen?"
   "Wie immer, mein Herr. Was mache ich nicht alles für die Partei?
Aber das hier bleibt unter uns! Ihr wisst ja - die Jakobiner ..."
   "Und der Prozess?", wechselte Schultz plötzlich das Thema. "Aller
Augen ruhen auf uns. So etwas hat man nicht alle Tage. Da können sich
die Unsrigen nicht einfach wegducken. Dann hieße es, die deutschen
Porterinnen wären lauter Huren und verfütterten die Kinder an die
Schweine ..."
   "Ja, nicht ein Fall wie jeder andere ..."
   "Die Jakobiner, von denen Ihr immer sprecht ..."
   "Politisch Lied, ein garstig Lied!"
   "... werden sich genauso drauf stürzen wie unser Brederodes. Und
bei unseren Landsleuten in den anderen Gemarkungen, wie Itapemirim
oder Benevides, wären wir unten durch. Da hilft alles nichts; nur wenn
wir ein Exempel statuieren, stopfen wir ihnen das Maul."
   "Regt Euch ab; ich sorge schon dafür, dass wir das hinbekommen."
   "Und der Staatsanwalt?"
   "Ihr habt es doch sicher bemerkt: Der sinnt auf Rache an den Sied-
lern, und sei es auch aus persönlichen Gründen, und lässt ihr keine
Chance. Der geht mit dem Kopf durch die Wand. Den Amtsrichter kannst
du vergessen; den haben wir eh in der Hand ..."
   "Habe ICH", brüstete sich der Kaufmann und klopfte vielsagend auf
seine Hosentasche.
   Pantoja lächelte ob der Geste wissend zurück.
   "Nun, dann hätten wir noch den Ortsrichter ...", fuhr der Schreiber
fort.
   "Dem traue ich nicht, dem Dr. Maciel; der hat durchaus was drauf."
   "Halb so schlimm ... Ein Einfaltspinsel. Ruft man 'hü' und 'hott',
dann springt er. Und überhaupt haben wir Itapecuru und die Zeugen ...
Und ich, ich bin zwar der Knecht, ziehe aber die Fäden", schloss der
"Geißbock" prahlend.
   "Dann hätten wir das. Ade; ja, und den Brief nicht vergessen!"
   Die beiden waren gerade im Begriffe, sich zu trennen, da dachte die
"Waldkatze" noch einmal auf: 
   "Fast hätt ich's verschwitzt ..."
   Und, Ohr an Ohr, dämpfte er die Stimme:
   "Ich bräuchte dringend hundert Milreis, heute noch ..."
   "Dann kommt ins Kontor."
   "Danke auch. Ist ja nicht für mich", beeilte er sich zu versichern.
"Es ist für die Parteikasse ..."

   Das Porter Gefängnis bestand schon längst vor der Ankunft der Deut-
schen und war ein Rest des alten Ortskerns, vielleicht das älteste,
gewiss aber heruntergekommenste Gebäude der Stadt überhaupt. Die Mau-
ern waren mit der Zeit immer dunkler geworden, und die rostigen Gitter
drohten aus der Fassung zu fallen. Ein Gang teilte das Haus; links be-
fand sich der eigentliche Kerker und rechts die Unterkunft für die
beiden Wärter. Der Kerkermeister erschien kaum jemals; im Grunde hatte
er, wie des Landes der Brauch, seinen Posten nur als Pfründe für poli-
tische Dienste bekommen, in denen er offenkundig hervorragend war.
Mitunter entspann sich zwischen den Insassen und den dort dienenden
Soldaten ein lockeres, ja kameradschaftliches Verhältnis. Die Ange-
klagten waren dort ohnehin nur für die Zeit des Prozesses unterge-
bracht und wurden im Falle der Verurteilung in die Hauptstadt Vitória
verlegt. Ein Honiglecken war der Aufenthalt trotzdem nicht. Kaum Es-
sen, Holzpritschen, keine richtige Kleidung, Männlein und Weiblein zu-
sammengepfercht, Kälte, Feuchte, Unflat - das war das Kerkerleben.
   Maria hatte ihre Verhaftung noch immer nicht verinnerlicht. Sie war
nach wie vor wie weggetreten, und nur hier und dort schimmerte in ihr
etwas von den Geschehnissen auf. Und dann funkte ihr das Gedächtnis
jene Bilder des Grauens zu, die sie in der schrecklichsten Stunde ih-
res Lebens mit ansehen musste ... Bald begehrte sie stöhnend, betend,
weinend gegen die Vorsehung auf, bis ihr diese gnädigerweise eine Pha-
se der Ohnmacht zubilligte; bald, in ruhigeren Zeiten, litt sie dafür
entsetzlich, wie wenn die ganze Welt auf ihren Schultern ruhte, doch
selbst in ihrer Schwachheit und Hinfälligkeit war ihre größte, quä-
lendste Sorge die um ihr Büblein, das sie so wahr, so schön durch die
Milchglasscheibe ihres Taumels zu erblicken glaubte ...
   Es blieb nicht lange aus, dass auch Milkau von Marias Schicksal
erfuhr. Etwas in seinem Herzen brüllte geradezu auf. Ihm war auf der
Stelle klar - oder sollte man sagen, seiner Grundgütigkeit und seiner
blütenweißen Seele? -, dass sich hinter jener Anklage ein Drama ver-
barg, ein Gespinst aus Hinterlist, Rachsucht und schlichter Dummheit,
wie es Menschen anscheinend eigen ist. 
   Und er schämte sich, Mensch zu sein, und verachtete sich selbst und
alles, was das Leben ausmacht ... Jetzt war er da, der Augenblick, in
dem sein göttlicher Traum in den Sumpf des Übels abstürzte. Hinter al-
lem, was er als freundnachbarlich, unnachtragend, friedfertig kennen-
gelernt hatte, krochen nun wohlvermählt alle Niedertrachten hervor,
derer das Menschengeschlecht fähig ist ...
   Jenen Nachmittag beschied Milkau Lentz:
   "Ich muss für eine Zeitlang nach Port."
   "Was willst du denn dort?", fragte der Freund nach.
   "Mich treibt um, was sie mit dieser Unglücklichen gemacht haben."
   "Und deshalb lässt du mich hier hängen? ... Hier geht's ja schließ-
lich um unseren Broterwerb, unseren Hof."
   "Es ist ein Muss, und es wäre auch deine Pflicht."
   "Ich versteh gar nichts", erwiderte Lentz trocken, wartete aber auf
eine Antwort.
   "Du verstehst nicht?", fragte Milkau ruhig zurück. "Siehst du denn
nicht, dass das arme Ding ein Opfer ist? Daran glaube ich, also helfe
ich ihr."
   "Und wie willst du wissen, was wahr ist?"
   "Selbst wenn sie nicht unschuldig wäre, träfe einen Gutteil der
Schuld jene, die sie verstoßen und erst in diese Lage gebracht haben."
   "Aber das geht doch DICH nichts an - oder?", wurde Lentz spöttisch.
   "Jeden geht es an, wenn noch irgendwo auf der Welt Leid vorkommt."
   Und so ging er allein. Am folgenden Tage hatte das Städtchen Port,
als er dort ankam, lange nicht mehr den Reiz jenes ersten Morgens, an
dem er es begrüßte als "Tochter von Sonne und Wasser". Seine eigene
Schwermut sprang auf die Landschaft über, die ihm statt in der alten
Farbenfreude schwarz-weiß entgegensprang. Die beiden Hügelketten, die
die Ortschaft einrahmten, hatten etwas von einem sich unerbittlich zu-
sammenzwängenden Schraubstock. Die Sonne erinnerte an Höllenglut und
peinigte entsprechend die Häuser, und die an sich beeindruckenden Fel-
sen vermochte man jetzt als ausgeglühte, wüstenhafte Totpunkte zu se-
hen. Der sich an schwarzen Klippen brechende, brausende Fluss war zu
einem eintönig plätschernden Rinnsal herabgesunken. Zwischen den dre-
ckigen, unbefestigten Straßen und dem Fluss erhoben sich hingeschlu-
derte reine Zweckbauten, als wären ihre Bewohner soeben erst ins Land
gekommen. Die das Auge beleidigenden kahlen Stockhäuser mochte man der
Welt der Zwerge, Krüppel und Ungeheuer zurechnen. Und hier, in dieser
Fehlgeburt von Stadt tobte ein grobes, ungeschliffenes Volk seine Nei-
gungen aus, die in einem Worte zusammenzufassen waren: Gier ... Was
Natur hätte sein sollen, quälte, bedrückte; wo man Menschliches erwar-
tet hätte, sprangen einem Kleingeist und Lachhaftigkeit entgegen.
   Aber Milkau wollte ja sofort zu Maria. Er zögerte zunächst noch;
etwa wäre sie ja doch schuldig und würde ihm brühwarm ihr Verbrechen
gestehen. So strebte er denn, von einer inneren Kraft getrieben, aber
zaghaft und beunruhigt, dem Gefängnis zu.
   An der Tür saß ein unbewaffneter, schlampig uniformierter Mulat-
tenbursche Wache. Milkau bat um Erlaubnis, die Insassin zu besuchen.
Der Mann machte sich nicht einmal die Mühe, von seiner Turschwelle
aufzustehen, zeigte lässig auf die Zelle, in der sie sich befand, und
winkte ihn durch. Bange trat Milkau ein.
   Die Gitter dämpften das Tageslicht, und in jenem Halbdunkel machte
er Maria aus, wie sie auf ihrer Pritsche saß. Maria war so überrascht,
dass sie heftig erschrak und erzitterte, und keines der beiden konnte
sich zunächst zu einem Worte durchringen.
   Sie neigte verschämt ihr Haupt, nicht in der Lage, ihn anzusehen;
und dann blickte sie ihn wie flehend an, er möge ihr doch in aller
Barmherzigkeit gegenübertreten, was Milkaus Gemüt erweichte und ihn
dazu brachte, in der Frau das zu sehen, was sie war: eine Leidensge-
stalt. Alles Anmutige, Bezaubernde, zart Weibliche an ihr war erlo-
schen; was von ihr geblieben war, war ein Schatten ihrer selbst, ein
fahles Antlitz mit flackernden, wahnerfüllten Augen.
   "Du armes Ding", versuchte Milkau ein Gespräch anzuleiern und tät-
schelte ihr leicht den Kopf.
   Maria war es ob der Berührung und der Stimme, als hätte sie mit ei-
ner Zärtlichkeit Bekanntschaft gemacht, wie sie ihr nie untergekommen
war. "Oh linde Labsal, mögest du nimmermehr vergehen", ging es ihr
durch den Kopf, zu ihm hinübergebeugt, auf dass ihr auch kein Funken
davon entginge. Und den Lippen der Elenden entspross sogar etwas wie
ein verhaltenes Lächeln.
   Milkau ging nicht davon aus, dass sie von sich aus ihr Herz aus-
schütten würde. Sein tiefes Mitempfinden hieß ihn das Schweigen bre-
chen, wobei er nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen vermochte.
   "Klar leidest du - und wie! ... Aber nicht mehr lange ... Ich sage
dir, du wirst noch viele glückliche Tage erleben ..."
   Er setzte sich auf den einen Stuhl in der Zelle und nahm Maria
sachte am Kopf, die sich regungslos ihre zerrauften, spröden Haare
von Milkau streicheln ließ, dem sie wie ein goldenes Vogelnest dünk-
ten, um dann ihr Gesicht auf seine Knie niedersinken zu lassen. So
konnte er ihr Antlitz nicht betrachten, doch während er weitersprach,
fühlte er, wie ihn ihre Tränen benetzten ...
   "Ich weiß wohl, dass du schwach und krank bist ... Aber Kopf hoch;
du darfst dich nicht aufgeben ... Auch das hier wird ein Ende haben.
Sie werden dir Schonung gewähren und dich laufen lassen. Und ein neu-
es Leben ..."
   Geschickt umging er es, sie zu beschuldigen. Weshalb wieder alles
aufwärmen? Sie fasste zusehends Mut, und liebenswürdig wie er auftrat,
kehrte ihr Bewusstsein, ja, sogar etwas wie Selbstbewusstsein, zurück.
   "Pass auf; ich lasse dich nicht hängen", fuhr Milkau fort. "Ich
bringe denen schon bei, dass es nicht deine Schuld war ... SIE haben
doch Dreck am Stecken. Sie werden dir Gnade zubilligen und ihre Misse-
tat gestehen. Oder? DIE sind doch die Schuldigeren! ...
   Maria zuckte zusammen, und ihre Zähren waren wie auf einen Schlag
weg. Milkau redete weiter, immer in der besten Absicht, sie zu trös-
ten.
   "Du warst weggetreten. Du warst nicht mehr du selbst; eher wie im
Wahn ... So verstoßen und mutterseelenallein, wolltest du in deinem,
eurem Elend deinen Kleinen nicht leiden lassen, als du ..."
   Fassungslos erhob sie ihren Kopf, blickte ihn entsetzt an und
rutschte in das hinterste Eck der Pritsche.
   "Nein ... NEIN!", konnte sie nur noch keuchen.
   "Du tust mir ja so leid ... Aber fürchte dich nicht", sprach Mil-
kau und hätte sie herbeigezogen.
   "Nein ... Geh!... GEH!", versuchte sie ihn mit letzter Kraft weg-
zuscheuchen.
   "Ach, Armes! Wen hättest du denn dann noch, sag?!"
   "Weg! ... Fort! ... Oh mein Gott!" Sie rang, wand und verkrampfte
ihre Hände, um sie sich dann wie wild an ihr Haupt zu pressen.
   "Nein, nein; ich bleibe und rette dich", ließ Milkau sich nicht ab-
schütteln. "Sie werden auf schuldig erkennen. Sie lassen dich für das
mit deinem Sohn büßen."
   "Mein Sohn ... ja freilich ..."
   "Den du getötet hast", versuchte er es jetzt auf die harte Tour.
   "Ich?"
   "Ja."
   Jetzt wollte Milkau alles, wirklich alles wissen, ihr ein Geständ-
nis entlocken, und er verstieg sich immer weiter.
   "Ja, du! ... Mörderin ..."
   "Nein ... Also, mein Kleiner ... Ich weiß auch nicht recht. Sie
zerrten ihn davon und wollten ihn fressen ... Oh mein Gott; es war so
fürchterlich!"
   Ihr Augenpaar bohrte sich scharf, kalt, stechend in Milkaus, der,
völlig aus dem Konzept geworfen, verstummte. Jetzt wollte einmal SIE
zu Worte kommen und lief zu ihrer Vollform auf:
   "WAS? Meinen Sohn ermordet? Hast du sie noch alle? Musst du in mei-
nem Elend auch noch nachtreten? Hau einfach ab! ... einfach ab! ..."
   Angesichts ihrer überbordenden Verzweiflung kriegte sich Milkau
wieder ein und bereute es sogleich, dass er sich so hatte mitreißen
lassen.
   "Maria", nahm er sanft den Faden wieder auf, "bei allem, was dir
heilig ist: Sag mir einfach, dass du nicht zurechnungsfähig warst,
als du es tatest. Sag einfach!"
   "Ach, lass mich doch ...", gurgelte es aus der Armen heraus.
   "Nein, ich bleib bei dir ... Muss ich ja. Zu deinem Besten. Also
jetzt heraus mit allem!"
   So eingeschüchtert von seinem Kommandoton, schwankte Maria noch
zwischen ihrer Abwehrhaltung und der Bereitschaft, sich dareinzufin-
den, und schließlich siegte Letztere.
   "Ich will's wissen ...", bohrte Milkau.
   Das Mädchen brachte keinen Ton heraus.
   "Warum hast du es mir denn nicht gleich gesagt, als es dir dort so
dreckig ging? Warum nur? Hattest zu etwa kein Zutrauen zu mir?"
   "Ich hatte Angst ... Ich schämte mich ...", flüsterte sie kaum hör-
bar.
   "Scham? Wegen so etwas? Und deshalb ..."
   Völlig aus der Bahn geworfen, verstummte er für einen Moment.
   "Verstehe einer den Menschen! ... Scham! ... Und deswegen bringst
du dein Knäblein um, dein eigen Fleisch und Blut? ..."
   "Aber ich HAB doch niemanden umgebracht!", schrie sie jetzt hinaus.
   "Du hast schlechte Karten ... Anklage ist Anklage ..."
   "Die? Das ist doch EINE Bande!"
   "Wer wär's denn dann gewesen? Raus damit!", fragte Milkau, dem him-
melangst geworden war.
   Langsam fing sie sich.
   "Als ... das ... war, war ich weit, weit weg ... wie wenn ich stür-
be ..."
   "Weiter!"
   "Ich hörte sein Stimmchen ... Er greinte ... Oh Gott! Dann war da
jenes Gegrunze um uns herum ... Die Schweine packten ihn ... fraßen
ihn, fraßen ..."
   So wenige Worte, und dennoch legten sie bei Milkau einen Schalter
um. Schlagartig spulte sich die Schreckensszene wie ein Film vor ihm
ab. Immer hatte er an sie geglaubt, und jetzt war vollends Zeit für
aufbauende, liebevolle, zärtliche Worte:
   "Komm; hör zu!"
   Diesem neuen Klang in seiner Stimme konnte sie nicht widerstehen,
und zutraulich näherte sie sich ihm. Wieder fiel sie ihm zu Knien, und
dort, in jenem finsteren Loche, pusselten die beiden Jammergestalten
die Einzelheiten des Schauerstückes zusammen:
   "Du fühltest also die Ohnmacht kommen ..."
   "Und die Schweine ..."
   "... kamen daher. Es strömte Blut ..."
   "Das Kind ... Der Kleine ..."
   "... heulte zu deinen Füßen."
   "Und die Schweine ..."
   "... rissen ihn mit fort."
   "Meinen Buben!"
   "Und dann kamst du zu Bewusstsein und sahst von Weitem, was die
Schweine angerichtet hatten ... das Kind zerstückelt, in den Mäulern
der Rotte ..."
   "Mein Ein und Alles!"
   "Dann kam das Verhör. Sie ließen dich gar nicht zu Wort kommen. Sie
beschuldigten dich einfach und nahmen dich mit ..."
   "Und so bin ich also hier, vorverurteilt. Ich bin verloren. Aus,
vorbei! ..."

   Dies genügte, um Milkaus Leben abermals eine neue Wendung zu geben.
Alles würde er fortan für die Verteidigung und Rettung Marias tun. Die
Ermittlungen dümpelten dahin, der Prozess ließ auf sich warten, und so
lange ließ Milkau die Unglückliche nicht im Stich. Immer wieder be-
suchte er sie; und da sie überhaupt der einzige Insasse war, gewährten
ihm die Wachen Einlass, wann immer er wollte. Trotz ihrem Elend schim-
merte in Maria ein kleines Glück auf. Über Stunden vermochte sie mit-
unter ob der Stimme und Sanftheit des Wohltäters ihr Ungemach ganz zu
verdrängen. Er wiederum ergötzte sich an ihrem schlichten Gemüte, das
bei all ihrer Einfalt von einer beispiellosen Gefühlstiefe gezeichnet
war. In seinen Erzählungen schweifte er weit in seinem Weltenbummler-
leben herum. Sie hing wie gebannt an seinen Lippen, als er von seinen
Taten und Erlebnissen berichtete. Die kleinen Rheinstädtchen kamen
dran und mit ihnen unweigerlich die dazugehörigen Sagen ... Sie er-
klommen die vereisten Alpen und verfolgten mit betörtem Blicke den
Sonnenuntergang ... Dann folgten die lärmerfüllten, gefühllosen Städ-
te voller Hunger und Elend ... Von den Wogen geschaukelt, von Stürmen
getrieben, bewegten sie sich auf dem Ozean dahin ... Schließlich er-
reichten sie das von schütterem Mondenscheine beleuchtete Eismeer mit
seinen im Nordlichte unnatürlich groß erscheinenden weißen Gebilden,
deren Bestimmung es schien, grimmig vorbeizutreiben und einander zu
zerknirschen, um daraufhin in der maß- und ziellosen Finsternis unter-
zugehen ... Sie war sein Schatten, sie folgte ihm; immer war sie hin-
ter ihm ... Dann und wann hatten auch seine Geschichten Pause; er las
ihr Gedichte vor, deren Sinn sie mitunter nicht erfasste, aber deren
Schwung sie mitriss und zum Schluchzen brachte, ohne dass sie begriff,
warum und wieso ...
   In der Stadt war Milkau bald bekannt wie ein bunter Hund. Erst war
es bloße Neugier, dann begleitete man sein seltsames Wesen zunehmend
feindselig. Bald kamen, wie es überall auf der Welt in solchen Fällen
zu sein pflegt, die wildesten Gerüchte auf. Schnell war ER Marias Ge-
spiele, und geballter Hass überzog den Menschen, der, einem Spießge-
sellen gleich, fest zu Maria halte, die doch ihr gemeinsames Kind um-
gebracht habe. Alle schnitten ihn; selbst in Schultzens Laden, seiner
ersten Adresse für seine Einkäufe, wurde er gerade noch eben so be-
dient; und Milkau, der sich über den Dingen stehend wähnte, fand sich
darein, den Buhmann aller zu verkörpern. So ausgegrenzt und ausgesto-
ßen, irrte er, wenn er nicht gerade im Gefängnis war, in der Umgebung
der Stadt umher.
   Einige Tage darauf kam Felicíssimo nach Port und nahm im selben
Gasthof ein Zimmer, in dem auch Milkau herbergte. Der Vermesser mit
seiner arglosen, grundgütigen Art hätte sich nie dem allgemeinen Übel-
wollen angeschlossen und begleitete Milkau allenthalben, wobei er be-
unruhigt Milkaus ständiges Grübeln zur Kenntnis nahm.
   Eines Morgens kam ihnen auf dem Rückweg von einer solchen Wande-
rung auf der Hauptstraße ein ungewöhnliches Getümmel unter. Von den
Ladentüren aus und auf der Straße blieben die Leute - Städter, Maul-
tiertreiber, Siedler - stehen und verfolgten gebannt eine vorbeizie-
hende Schar. Es war Maria inmitten jener beiden Soldaten auf dem Weg
ins Gericht. Sie war nicht mehr dieselbe; erst hier im Tageslicht kam
ihre Leichenblässe auf; ihre zu Boden gerichteten Augen waren tief
eingefallene Veilchen, und der Mund glich einer weißen, glitschigen,
erfrorenen Seerose ...
   Milkau stand wie erschlagen ob jener Prozession der Unschuld in
Person zum Scheiterhaufen ... Schon verlor sie, Maria, sich am Hori-
zont ... Milkau ließ Felicíssimo stehen und eilte ihnen nach, zum Ge-
richt. Der ergriffene Vermesser versuchte gar nicht erst, ihn zurück-
zuhalten.
   Dem ersten Verfahrenstag folgten weitere, und Milkau war immer da-
bei. Die Zeugen sagten wie EIN Mann gegen Maria aus. Alles war bestens
eingefädelt, und die Angeklagte hatte keine Chance. Paulo Maciel als
der vorsitzende Richter unternahm alles, das Verfahren korrekt und un-
voreingenommen ablaufen zu lassen. Da Milkau so gut wie immer anwesend
war, war er bald auch bei Gericht bestens bekannt, und so blieb es
nicht aus, das Maciel Gefallen daran fand, sich nachher mit Milkau
auszutauschen. Dieser fand seinerseits den Gemeinderichter eine inter-
essante Persönlichkeit, die er immer mehr schätzen lernte, und dabei
ging es keineswegs um dessen Rolle als Richter. Wann immer Milkau auf
einen anderen Menschen traf, setzte er alles auf Null, und jegliche
Einstufungen nach Rang, Vermögen, Herkunft und Rasse, alles eben, was
der Gesellschaft wichtig sein mochte, blendete er aus. Er sah den An-
deren auf Augenhöhe und behandelte ihn wenigstens mit Wohlwollen, mit-
unter auch Hochachtung, wenn jemandem kraft seines überragenden Geis-
tes, seines geduldig ertragenes Leidens oder seiner sittlichen Höhe 
eine solche Zuwendung zuzukommen schien.
   So zogen sich jene bedrückenden Tage in Port für Milkau schier end-
los dahin, als er auf dem Wege vom Gefängnis auf einen zutiefst ver-
störten Felicíssimo traf.
   "Grässlich! Füchterlich! Habt Ihr es schon gehört?", überfiel ihn
der Cearenser.
   "Was denn?", fragte Milkau aufgeschreckt zurück.
   "Ein grausiger Unfall ... Den kleinen Fritz, Otto Bauers Sohn, hat
ein Weinfass in ihrem Laden fast zerquetscht ..."
   "Ojemine! Der Arme! Und jetzt?"
   "Schauen wir hinein", deutete Felicíssimo, "dort ins Haus. Ich hab
gerade dem Doktor Bescheid gesagt."
   "Gut, gehen wir."
   Als sie hinkamen, war das ganze Haus in Aufregung. Die Nachricht
hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und schon hatte sich eine
Menschentraube gebildet, die, hoffentlich aus Mitleid, ins Haus dräng-
te, wo der Bub auf einem Tisch im Sterben lag. Die noch junge Mutter
warf sich in dumpfem, stumpfem Schmerze über ihn und bedachte ihn mit
flehenden Blicken. Der Vater wandelte ziellos hin und her, am ganzen
Körper zitternd und wie betäubt. Rundherum war EIN Weinen und Klagen.
Fritzchen vermochte im Todeskampf noch zuweilen die Arme zu bewegen.
Aus dem scharlachroten Munde blubberte das Blut. Die schrecklich ge-
weiteten himmelblauen Augen schienen ihm geradezu aus den Höhlen zu
platzen. Der Kopf war unverletzt; das Fass hatte ihm den Brustkorb
eingedrückt.
   "Welch ein Elend", stöhnte Milkau, der sich keine Hoffnungen mehr
machte. Hinter ihm ertönte eine Stimme:
   "Da muss man doch was tun können!"
   Milkau wandte sich um und sah Joca, eine Jammergestalt wie ein
bresthafter griechischer Waldgeist. Fritz war Jocas Liebling; er gab
sich immer viel mit dem Kind ab, wenn er in der Stadt war. Die Eltern
vertrauten es ihm gerne an; und der "Geißbock" trug es voller Stolz
von Laden zu Laden und brachte ihm mit dem Feingefühl einer Amme die
ersten wackligen Schritte bei. Voller Rührung nahm Milkau das tränen-
getränkte Antlitz jenes halbwilden Naturburschen wahr, und ohne wirk-
lich daran zu glauben, versuchten er und der Messgehilfe noch das Ei-
ne oder Andere. Schließlich erschien auch der Arzt. Er besah sich die
Lage und murmelte kopfschüttelnd:
   "Ihr habt alles versucht ... Da hilft nichts mehr."
   Zu schlechter Letzt verstarb der Kleine unter den Höllenqualen ei-
ner Gehirnhautentzündung. Bei der Totenwache die Nacht über waren al-
le mucksmäuschenstill, gedankenverloren in die Betrachtung des Leich-
nams versenkt. Durch die offenen Fenster drang das Gestöhne des Was-
serfalles herein. Nach und nach tat die Stille ein Übriges, die bis
ins Mark getroffenen Anwesenden in den Schlaf zu wiegen. Im kümmerli-
chen Lichte der Totenkerzen zeichnete sich die Gestalt einer kleinen
alten Frau ab, des Knaben Urgroßmutter. Ihrem Tode ins Auge sehend,
wie der Welt entrückt, von glasklarem Wesen, bündelte sich ihr ganzer
Lebenswille in ihren Äuglein, die einem einen Schauer über den Rücken
jagten ... Auch Fritzens Mutter fielen die Augen zu und sie dem Schla-
fe anheim; ihr Atem beruhigte sich, und das Rot der geschwollenen Wan-
gen wich einer kreideweißen Bleichheit ... Ihr Gesicht nahm einen un-
beschreiblichen Glanz an, als wäre sie ins Reich des Glückes entflo-
hen. Eine schöne Frau mit üppigem schwarzen Haar und feinen, edlen Zü-
gen war sie, die vor Gesundheit strotzte und in deren Leben jetzt das
Leid einbrach wie ein Dieb in der Nacht. Wer sich noch wach hielt und
die ihrem toten Sohne zugewandte und dabei lächelnde hübsche junge
Mutter betrachtete, dem war es, als stieße ihm ein Dolch in die Seele
... Von einer Ecke über der Bahre aus, von einer Lampe beschienen,
wachte ein Bildnis Unserer Lieben Frau über das Geschehen.
   Also eine katholische Familie, erkannte Milkau, und ihm ging ob des
Gnadenbildes so manches durch den Kopf. War es nicht so, dass sich in
diesem Kult überhaupt alles um die Jungfrau Maria dreht? Er dachte an
Dome und Kathedralen zurück, die er besucht hatte, und in denen immer
besonders IHRE Stätten die Menschen anzogen, wohingegen die anderen,
selbst die Christus-Altäre, übergangen wurden. Warum nur? Etwa, weil
sich das Menschengeschlecht von Natur aus zum Weiblichen hingezogen
fühlt? Und ging es nicht ganz allgemein darum, die weiblichen Gotthei-
ten und dann auch Heiligen besonders hervorzuheben, eben zu vergöttli-
chen; und entspross daraus nicht auch der Marienkult, der dazu neigte,
alle anderen in sich zu vereinen? ...
   Milkau blieb die ganze Nacht, um der Familie etwas Trost zu spen-
den. Mitgenommen wie er war, sinnierte er beim Anblick des kindlichen
Leichnams:
   "Was kann es Traurigeres geben als den Tod eines Kindes? Es stand
doch erst am Anfang; so viel hätte es noch vor sich gehabt ... Es wäre
eins von uns geworden ... Und jetzt das ... Wer verscheidet, ohne sein
Leben entfaltet zu haben, einer abgeknickten Knospe gleich, stürzt uns
nicht nur in Mitleid; es lässt uns mit-leiden. Stirbt ein Kind, stirbt
ein Teil von uns, denn mit ihm vergeht auch etwas UNSERER Träume."
   Tags darauf fand die Beerdigung statt. Die ganze Stadt war auf den
Beinen, wie EIN Mann in Trauer und Trübsal vereint, EINE Gemeinde von
Leidtragenden.
   Es war ein heller, klarer, blauer Morgen. Die Musikkapelle, keines-
wegs nach Trauer klingend, vielmehr Engelschören gleich, die ein Eng-
lein zum Grabe geleiten, führte den Zug an, der mit grämlicher, düste-
rer Miene nachfolgte. Die Ortschaft war ob des Einbruches des Argen
wie lahmgelegt: Es herrschte schulfrei, Scharen von Kindern in Weiß
begleiteten den Zug, die Geschäfte hatten geschlossen, und von überall
her, aus allen Häusern und Läden, folgten die Leute dem Zuge, selbst
Fritzens Vaters ärgste Feinde und Konkurrenten, und kamen mit Blumen
herbei und ließen ob der Heimsuchung ihre alten Händel beiseite.
   Auch die brasilianische Obrigkeit trat an, nur Brederodes nicht,
der seinem Hass auf die Deutschen selbst bei einem solchen Schicksals-
schlag keine Auszeit vergönnte. Der Leichenzug wallte die Hauptstraße
entlang, weiter in seiner wunderlichen Vermengung der allgemeinen Bit-
ternis mit zackiger Musik. Einer der Träger war Joca, der sich gar
nicht sattsehen konnte an "seinem" Kleinen in seiner adretten Matro-
senkluft, wie er in seinem rotgüldenen Sarge lag, als hätte er im
Spiele seine Gondel bestiegen, um gen Himmel zu reisen ...
   Am Flusse angelangt, bog der Zug in Richtung Gefängnis ab, das
gleich neben dem Friedhof lag. Die schmissige Musik war das Erste, was
am Kerker ankam; und Maria, die ja nicht wusste, worum es sich handel-
te, fühlte sogleich, wie jene altbekannten Klänge ihre Seele erquick-
ten. Vom Zuge unbeachtet, blickte sie durchs Gitter und spürte den Ak-
korden nach ... Immer noch wurde draußen stramm marschiert ... Maria
spähte durch die Stäbe hinaus, und schließlich blieb ihr Blick wie be-
sessen an dem toten Kindlein haften ... Tod, wo ist dein Stachel? ...
Mitnichten triumphiert ER; der Sieg gehört der Glückseligkeit ... In
die Harmonien von draußen mischten sich jetzt andere Töne, dumpf,
hohl ... Sie mussten von weit her sein, weiß Gott woher, aber derma-
ßen durchdringend, dass sie die Instrumente übertönten ... Maria sah
in ihrem Wahne, fühlte, hörte das Begräbnis ihres eigenen Kleinen,
unter dem zum Tode aufspielenden Grunzkonzert der Schweinerotte ...
Mit verzerrtem Antlitz, zerzausten Haaren und zugepressten Lippen
krampfte sie sich an die Gitterstäbe ... Der Menge war sie keinen
Blick wert, nur Milkau, der vor Mitleid für sie schier zerschmolz.
Verstört oder hasserfüllt, wer weiß, wollten sie mit so einer wie ihr
nichts zu schaffen haben ... Die Gemeinde zog vorbei, vereint in der
Trauer wie der Rachsucht.


                                 -X-

   Mittlerweile pflegte Paulo Maciel nach den Gerichtsterminen Milkau
zu sich nach Hause einzuladen, wo sie einander in langen, tiefschür-
fenden Gesprächen auch menschlich näherkamen. Maciel, der sich ohnehin
im eigenen Land und Umfeld als der einsame Wolf wähnte, waren jene,
ihn den Hauch von Freiheit schnuppernd lassenden, Verschnaufpausen
heilig; und noch nie, seit sich in ihn nun einmal Zweifel eingeschli-
chen hatten, ob bei dem Fall alles mit rechten Dingen zugehe, fühlte
er sich innerlich so bestärkt und aufgebaut.
   "Für den Prozess sehe ich ehrlich gesehen schwarz", gab der Beamte
auf Milkaus Erkundigung hin zu, nachdem sie sich in seinem Arbeitszim-
mer eingeschlossen hatten.
   "Was? Wie? Ihr werden doch wohl nicht an Maria Perutz' Schuld glau-
ben?", hakte Milkau beunruhigt nach.
   "Mein Freund, überzeugt bin ich zunächst einmal von gar nichts ...
Was ich sagen wollte, ist, dass es angesichts der Sachlage, also der
Zeugen und Indizien, auf eine Verurteilung hinausläuft ..."
   "Die Zeugen", wandte Milkau ein, "sind doch alle bestellt und auf
ihre Aussage getrimmt, damit nur ja das 'Richtige' herauskommt."
   "Wem sagt Ihr das? Das ist doch hier immer das Gleiche: Wo hätte
denn hier ein Verfahren Rechtsfindung zum Ziele? Das sage Euch ich als
Richter. Wo entsprächen denn meine Urteile dem wahren Sachverhalt?
Nirgends ... Glaubt nicht, ich hätte nicht beste Absichten. Aber es
hilft nichts; was bei mir auf dem Schreibtisch landet, ist bereits so
frisiert, dass ich gar nicht mehr aus kann. Zum Aus-der-Haut-Fahren,
nicht?"
   "Ich fass es nicht! ..."
   "In einem Land ohne ordnungsgemäße Rechtspflege kann man nicht le-
ben; man kommt sich vor wie unter besseren Wilden ...", stellte Maciel
in seinem Hang zur Vergröberung und Verallgemeinerung fest.
   "In Brasilien gibt es keine Rechtssicherheit", fuhr er fort. "Es
läuft bei jedem Fall darauf hinaus, dass der Beschuldigte in die Ecke
gedrängt wird. Wenn sich hier zum Beispiel einer jemandes Anderen Be-
sitz unter den Nagel reißen will, findet er auch eine Gesetzeslücke,
ein Hintertürchen, das ihm diesen Weg öffnet. Ist es gar einer, der
ohnehin am längeren Hebel sitzt, kann ihn nichts und niemand hindern.
Nicht einmal ich ...", setzte er einen Punkt.
   "Recht haben und Recht bekommen sind doch überall ungleiche Brü-
der", wandte Milkau ein.
   "Aber hier in Brasilien ist es schlimmer, weil es sich nicht nur
um gelegentliche Ausreißer handelt."
   Milkau verkniff sich eine Erwiderung und wartete lieber ab, was der
junge Staatsdiener sich von der Seele reden wollte:
   "Wir sprechen großspurig von 'Nation', aber was ist sie denn? Etwa
hatten wir ja einmal den Hauch von freiem Rechtsstaat, aber heute ist
alles den Bach hinunter. Unser armes Vaterland liegt auf der Bahre,
und die Geier kreisen schon ..."
   "Woher wären die?"
   "Weiß Gott woher, aus Europa, Vereinsamerika ... Wir werden zur
Beute ..."
   "Das wohl doch nicht", hielt Milkau dafür.
   "Die kommen! Wie könnten wir auch einfach nur so weiterwursteln?
Oder was hätten wir denen ideell entgegenzusetzen, wo wir doch bei uns
selbst nichts auf die Reihe bringen? Woran wir eigentlich kranken, ist
unsere völlig kaputte Mentalität. Wo hätten wir denn nationale Werte,
eine Leittugend?"
   "Liegt wohl an den Genen", gab Milkau zu bedenken.
   "Aber klar doch! Unser Menschenschlag zeichnet sich nicht gerade
durch Beharrlichkeit und Beharrsamkeit aus; es fehlt einfach der Blick
fürs große Ganze. Und jetzt mal ganz verwegen: Keine zwei Brasilianer
sind gleich; und so wäre es müßig, aus EINEM von uns auf den National-
charakter zu schließen, im Guten wie im Schlechten. Wo wäre, einmal
anders betrachtet, unsere Grundtugend? Nicht einmal die Tapferkeit,
die doch so grundlegend ist wie nur irgendetwas, üben wir aus, wie es
sich gehörte. Heißt es: 'Der ist aber schneidig!", ist er doch nur ein
Haudrauf. Was ist denn mit unseren Kriegen; feige gegen die Schwäch-
sten - ist das etwa Mut? ... Einstens wurden feierlich unsere Güte und
Nächstenliebe ausgerufen. Dabei sind wir heute der reinste Sauhaufen!
..."
   Wohl ob seiner bangen Gedanken, verstummte er plötzlich. Ganz mit-
genommen von den Seelenqualen jenes Brasilianers, blickte ihm Milkau
tief und verständnisvoll in die Augen.
   "Da heißt es immer Patriotismus", fuhr Maciel schließlich fort.
"Aber hier kennt der Durchschnitt diese Einstellung überhaupt nicht.
Hier herrscht einfach Beliebigkeit; das, was großspurig als Kosmopoli-
tismus verkauft wird, was also eine edle, zutiefst menschliche Ein-
stellung wäre, ist ein einziges Sich-Gehen-Lassen, ein Schlendrian,
der sich trefflich vermählt mit unserer zurückgebliebenen Gesittung.
Was sich hier und heute bei uns Patrioten schimpft, sind doch blut-
rünstige Hassprediger, oder kurz und bündig, Wilde."
   "Zweifelsohne", bedachte Milkau, den die offenherzige Bestandsauf-
nahme Maciels sichtlich beeindruckt hatte, "hakt es aufgrund der doch
recht verschiedenen Bevölkerungsschichten. Den Brasilianer als Rasse
gibt es eben nicht, und daher rührt wohl diese Unwucht, dieses Ächzen
im Gebälk ..."
   Der Richter sann nach, lehnte sich auf den Tisch, Milkau zu, und
fand schließlich zu einer klaren Aussage:
   "Genau. Unsere Gesellschaft zeigt sich als ein unausgegorenes Ge-
menge von Kindergarten und Anstalt. Woran es hapert, ist, dass wir
das Ungestüm der Neuen und die berühmt-berüchtigten 'Barrankenhucker'
nicht unter einen Hut bringen. Es passt einfach nichts mehr. Haltlo-
sigkeit durchwabert unseren Alltag; und es gibt nichts und niemanden,
der ihr Einhalt geböte. Eine solche Nation schießt sich selber reif
für das Ärgste, was es auf der Welt gibt: die Diktatur. Wenn 'Gesell-
schaft' aus Vorbildern erwächst, was wird sich dann wohl der gemeine,
bildungsferne Haufe unter jenem Begriffe zusammenzimmern, wenn ihm die
völlige sittliche Verwahrlosung der herrschenden Klasse vor Augen
schwebt? Man stelle sich die verheerende Wirkung auf einfältige Gemü-
ter vor, wenn sie die Regierenden, jeglichen Strebens nach dem Guten
und Schönen entkleidet, nur als gierige Raffzähne erleben! Aber nicht
nur die ganz oben. Es setzt sich nach unten fort, ins Rechtswesen, das
einem den letzten Heller aus der Tasche zieht, in die Beamtenschaft,
das Militär, die Geistlichkeit; durch die Bank rutschen sie ab auf die
schiefe Bahn ..."
   Aufgewühlt erhob er sich, öffnete das Fenster zum Wasserfall hinaus
und ergab sich seinen Grübeleien. Mildes Abendlicht schwappte in die
Schreibstube. Milkau blieb still sitzen und erging sich in seinen Ge-
danken über die Erlesenheit der Natur.
   Maciel war wieder da:
   "Man kann von Glück reden, wenn man auf dem Land lebt, während es
rundherum knackst. Man hat ja immer noch sein ruhiges Umfeld, seine
Liebsten; aber wie lange noch, weiß niemend ... Es braut sich was zu-
sammen ... Wie ein Krebsgeschwür untergräbt etwas die Nation ... Und
die Familie kommt ob der Lasterhaftigkeit unter die Räder."
   Er hielt inne, um sogleich murmelnd das Innerste seiner Seele nach
außen zu kehren:
   "Am liebsten würde ich einfach von hier abhauen, weg aus diesem
Land, und mir mit den Meinigen irgendwo in Europa ein ruhiges Plätz-
chen suchen ... Ja - Europa! Jedenfalls, bis das hier alles ausgestan-
den ist ..."
   Nachdem dermaßen der Gaul mit ihm durchgegangen war, kriegte sich
Maciel wieder ein, verstummte und blickte den Ausländer mit geröteten,
verweinten Augen an. Milkau wählte seine Worte sorgfältig, und seine
trostreiche Art träufelte Balsam in des Brasilianers versehrte Seele.
   "Es fiele mir nicht im Traume ein", sagte er, "Euch zu widerspre-
chen. Nur ist zu bedenken, dass es eine bruch- und verwerfungslose
Entwicklung nicht gibt. Hat es nicht auch sein Gutes, dass nichts in
Stein gemeißelt ist? Alles fließt, alles reibt sich und knirscht und
strebt danach, sich neu aufzustellen. Andererseits neigen wir dazu,
all jene derzeitigen Missliebigkeiten nur durch unsere Brille zu se-
hen. Von unserer Warte aus ist alles großartig oder lachhaft, furcht-
bar oder toll, und gefühlt hängt es immer auf die schlechtere Seite.
Mit dem Abstand der Zukünftigen werden sie sich dereinst nicht mehr
über die heutigen Zustände wundern, sondern ihnen sogar Anerkennung
zollen, kurz, es wird ihre 'gute alte Zeit' sein. Lasst es mich so
vergleichen: Wir schippern also auf dem Meer, von Wogen geschüttelt,
vom Sturme umtost und vom Schrecken umfangen. Danach aber sitzen wir
am Strand und sehen nur noch Wellengeplätscher und ein lindes, lä-
chelndes Säuseln."
   Da lächelte auch Maciel, dem das Wortspiel durchaus eingegangen
war.
   "Stimmt, ja", erwiderte er schon wesentlich aufgeheiterter, "aber
diesen Orkan hier können wir nicht einfach wegdiskutieren ..."
   "Tun wir auch nicht, aber er, der Orkan, ist unvermeidlich. Wie ich
mir im Laufe der Zeit zusammengereimt habe, hängt alles mit der Ent-
stehungsgeschichte des Landes zusammen. Immer gab es Sieger und Be-
siegte, Herren und Sklaven. Über zwei Jahrhunderte trachteten die 'un-
ten' danach, sich von den 'Oberen' freizustrampeln. Alle Aufstände in
der brasilianischen Geschichte waren Klassenkampf, Untertanen gegen
Obrigkeit. Was man als brasilianisches Volk sieht, war zunächst lange
Zeit nichts als eine Ansammlung fein säuberlich getrennter Rassen und
Kasten. Und das wäre auch ewig so geblieben, hätten nicht die Eroberer
selbst in ihrer, sagen wir, ungestümen Geilheit diese Mauern über den
Haufen geschoben und diese Mischrasse, die wir als Kabokler und Mulat-
ten kennen, aus der Taufe gehoben, die den nationalen Zement bildet,
Tag für Tag an Zahl zunimmt und nach und nach in die heiligen Hallen
der Erobererschicht Einzug gehalten hat ... Und als auch das Heer sei-
nen blütenweißen Anstrich verlor und zunehmend in die Hände der Kabok-
ler geriet, konnten Aufstand und Putsch als Rache der bisherigen Ver-
lierer nicht ausbleiben, und sogleich bauten sie den Staat nach ihrem
Bild und Gleichnis um und schneiderten sich die Institutionen auf ih-
re Kragenweite zurecht ... Ohne diesen Paukenschlag hätte Brasilien
lange auf das warten können, was es jahrhundertelang vergebens sich zu
sein bemühte: eine richtige Nation, ein Volk ..."
   "Bravo!", klatschte Maciel Beifall. "Und genau aus diesen Gründen
ist ja auch unsere 'Waldkatze' obenauf."
   "Er ist das Flaggschiff", bestätigte Milkau nicht ohne Humor.
   "Und sowas von!", bemerkte der Richter. "Aus den im Zwist liegenden
Rassen MUSSTE ja geradezu einmal ein Ausgleichstyp entstehen, der bes-
tens mit unserer Natur und Umwelt zurechtkommt, mit dem Durchschnitt
der Ausgangslinien mitläuft und schließlich selbige bezwingt und aus
dem Feld schlägt. Genau! ... Wir müssen uns auch vor Augen halten,
dass Pantoja kein Einzelfall ist. Wer sich bei uns anschickt, uns zu
regieren, und das gar nicht einmal schlecht, ist eben genau dieser Mu-
lattentyp. Ihnen fällt Brasilien zu ..."
   Paulo Maciel hielt einen Augenblick inne, beäugte seine weißen,
langen Hände und fuhr sich selbst bespöttelnd fort:
   "Zweifelsohne; wenn ich auch nur einen Tropfen afrikanischen Blutes
in mir hätte, würde ich jetzt nicht vor mich hin jammern ... Ich wäre
mit dem Land völlig im Reinen ... Pantoja, Brederodes - stapfen sie
nicht munter fürbass? Sind nicht sie die Herren des Landes? ... Oh,
warum wurde ich nicht als Mulatte geboren? ..."
   Schon in der kleinen Welt des deutschen Siedlungsgebietes, um die
es dem Richter zunächst ging, zeigte sich in Milkaus Augen die Gesamt-
situation im Lande überhaupt. Alle Alteingesessenen, die dort etwas zu
sagen hatten, entstammten jenem Schmelztiegel, wohingegen dieser junge
Mann bei all seiner Geistesschärfe und seinem Feingefühl von den Ande-
ren ausgebootet und untergebuttert wurde. Hatte er etwa recht? Fehlte
ihm wirklich einfach nur jener Tropfen Negerblut, um einen besseren
Stand zu haben?
   "Es hilft nichts, mein Freund", sagte Maciel, jetzt betont sach-
lich, "aber für unseren Fall sehe ich schwarz. Diese Rasse ist einfach
nicht für Höheres geschaffen ..."
   "Oh; dies wollte ich aber gerade nicht ausdrücken. Mit der Gesit-
tung hier hapert es, weil der Entwicklungsstand der einzelnen Schich-
ten so himmelweit auseinanderklafft. Sie müssen sich wohl oder übel
erst einmal aneinander angleichen, was sich ja auch abzeichnet.
Schlechthin entwicklungs- oder nichtentwicklungsfähige Rassen gibt es
nicht. Geschichte lebt von Verschmelzung. Nur beharrsame Gruppen, die
sich also nicht mit anderen zusammentun, ob weiß oder schwarz, verhar-
ren auf der Ebene von Wilden. Wäre es nie zur Vermischung von fortge-
schritteneren Völkern mit urtümlicheren gekommen, sähe es mit der Zi-
vilisation in der Welt kläglich aus. Und ich garantiere Euch, dass in
Brasilien die Kultur gerade in der Kaboklerbevölkerung gut aufgehoben
ist, weil diese besagten Schritt bereits erfolgreich hinter sich hat.
Nichts kann den Schöpfergeist aufhalten, weder die Hautfarbe noch die
Frage, wie kraus das Haar ist. Ja, und in ferner Zukunft wird sich
auch die Epoche der Mulatten dem Ende zuneigen, um einem neuen Zeital-
ter der Weißen aus der jüngsten Welle Platz zu machen, die aber willig
die von den mischrassigen Vorgängern geschaffenen Werte aufgreifen,
denn nichts auf der Welt wird vergebens ins Leben gerufen ..."
   "Das Land ist ohnehin bald weiß", seufzte Maciel, "wenn die Europä-
er einmarschieren."
   Milkau gab dem Brasilianer zu bedenken:
   "Aber dieses Europa, dem man hier träumerisch nachhängt und es als
Hort von Glück, Kultur und Lebenskunst hochjubelt, genau dieses Europa
leidet genauso unter den zersetzenden, seelentötenden Übeln. Lasst
euch doch nicht einlullen von seinem inhaltsleeren Pomp, in Atem hal-
ten von der unnützen Macht seiner Armeen, blenden von seinem messer-
scharfen Geiste. Keine Furcht - keinen Neid! Wie ihr hier auch, sitzt
es ganz schön in der Patsche, vom Hasse verzehrt und durch und durch
zerrissen. Auch dort tobt die alte Fehde zwischen Oben und Unten ...
Das Gewissen hält nicht ein zu pochen, der Genuss des Glückes ist ei-
nem verleidet, wenn neben einem jemand verhungert ... Es ist eine Ge-
sellschaft auf Abruf, nicht die erträumte Welt, die sich jeden Tag neu
erschafft, jung, schön ... Um nun jenes Gerippe aufrechtzuerhalten,
hetzt man Menschen gegeneinander auf und bestärkt sie in ihrem alter-
erbten, wölfischen Appetit, über andere Nationen herzufallen. Was wie
Leben aussieht, hat mit dem Leben an sich nichts mehr zu tun ... Aus
dunklen Quellen entspringen Gesetze, die die Freiheit des Geistes ein-
engen und von den Menschenrechten noch nicht Notiz genommen haben,
Schilde, Rüstungen der Reichen und Mächtigen. Heißt es 'Obrigkeit',
ist unter dem Strich Junkertum, Leibeigenschaft und Zerstörungswut ge-
meint. Mit diesem System steigt ein Volk zwar auf höchste Höhen, um
danach aber desto sicherer zu fallen; alles gerät durcheinander, der
Mensch verliert seine Erdung und taumelt nur noch seinem Ende entge-
gen, ohne an die Nachwelt zu denken. In seiner kribbelnden Flatter-
haftigkeit kommt ihm etwas wie eine rächende jenseitige Macht gar
nicht mehr in den Sinn, wie sie die Vorvorderen so in Schrecken ver-
setzte; und er denkt auch selbst nicht daran, für eine zukünftige ge-
rechtere Gesellschaft zu sorgen, die allen gibt, was aller ist.
   Wir erleben eine unausgegorene Mischung aus Alt und Neu. Die Grund-
lagen sind entzogen, die Folgen wirken nach ... Niemand will einen
Krieg, aber Militärisches steht hoch im Kurs ... Frömmigkeit hat aus-
gedient, aber Kirchenpomp möchte schon sein ... Die Kunst geht an der
Lebenswirklichkeit vorbei; die Poesie dichtet sich in die Vergangen-
heit zurück, und ihre läppische, weichliche, saft- und kraftlose Aus-
drucksweise widerspiegelt in keinster Weise den Geist des heutigen
Menschen. Und diesen Verfallserscheinungen gesellt sich zu allem Über-
fluss noch das heimtückische Gift verworfener Sinnesfreuden hinzu, das
den Mann entkräftet und die Muttermilch vergällt ... Nein, ihr habt
Europa nicht zu fürchten, schon gar nicht, dass es euch versklavt; be-
vor es sich gegen euch aufmacht, stürzt es selber. Nicht mehr lange,
und seine Heere zerreißen keine nasse Zeitung mehr, denn wie jene Mu-
mien, die man jetzt dem Schoße der Erde entgräbt, zerstäubt eine Brise
sie in alle Winde, ein wohltuendes Lüftchen, das dennoch das Zeug dazu
hat, so siegreich stürmisch aufzutreten wie der heilige Hauch der
Gottheiten der Zukunft, will sagen der neuen Erlösergestalten, als da
sind Wissenschaft, Industrie, Kunst, Hochgeist, das Spannungsfeld von
Hass und Liebe und noch viele weitere Mitspieler, die sich uns jetzt
noch gar nicht erschließen ... Ihre Verächter aber stehen schon in den
Startlöchern, um sich ihrer zu bemächtigen."
   "Das ist ja furchtbar", rutschte es Maciel mit kaum hörbarer Stimme
heraus.
   "Aber der erste Schritt hin zu Unvermeidlichem. Sollen doch Heer,
Staatsapparat, Volksvertretung, Diplomatie, Bildungswesen und alle an-
deren Auslaufmodelle jenen zufallen, die sich deren üblen Behufes be-
wusst sind. Dann tut auch die Armee keinen Schritt mehr ..."
   "Das hieße aber, dass das erste Land, in dem dies erfolgte, eines
anderen Beute würde?", wagte sich der junge Brasilianer vor.
   "Das mag sein, aber däs wäre nur vorübergehend, sodass wir uns dar-
über keine Gedanken zu machen brauchen. Der vermeintliche Gewinner
würde einen Pyrrhussieg einfahren, weil in unserem Kulturkreis die
übergreifenden heilenden Kräfte unter der Haube von Mensch zu Mensch
überspringen und letztlich auf der ganzen Welt zur gleichen Grundein-
stellung führen. Und Brasilien ist nach anfänglicher Düsternis längst
so weit, denselben Opfergeist wie wir Europäer aufzubringen, sich wie
wir zu wandeln, ja, sogar die gleichen Träume zu haben ..."

   Als Milkau gegangen war, sann der Richter noch lange an jene wun-
derbare neue Welt hin, jene zauberhafte Vision eines völlig neuen Le-
bensgefühles jenseits aller heutigen Kümmernisse und Ängste ... Je-
doch, es half nichts, im Augenblick brannte ihm ganz anderes auf den
Nägeln.
   "Alles bricht mir unter den Füßen weg. Man findet keine gemeinsame
Sprache mehr hierzulande; und wenn es so weitergeht, bin ich bald ein
Fremder in der eigenen Heimat, ohne jeglichen Draht zu meinen Lands-
leuten ... Wenigstens kann ich mich im Schoße meiner Familie noch be-
haglich fühlen, mit meinem lieben Weiblein, das mich immer wieder auf-
richtet, und mit der Kleinen, mit der auch wir uns gleich viel jünger
vorkommen - ja, während um uns herum alles in Scherben fällt."
   Als Paulo Maciels Gattin keine Stimmen mehr aus dem Arbeitszimmer
kommen hörte, trat sie vorsichtig ein, wie auch sonst üblicherweise
vor dem Abendessen. Sie war groß und schlank und noch recht jung. Al-
lerdings war sie, wie so manche Brasilianerin, ungesund bleich, was
aber ihre funkelnden schwarzen Augen bestens zur Geltung brachte. Sie
setzte sich auf ihren Platz, neigte sich sanft ihrem Gemahlen zu und
versuchte ihn sachte seinem Gegrübel zu entreißen. Maciel, ihr zugetan
wie am ersten Tage, fing sich, strich sogleich seine inneren Aufstände
und Ängste beiseite und verwob sich flüsternd mit ihr, gleichsam als
wären es die linden, geschmeidigen Strähnen ihres Haares, in eine be-
redte Zweisamkeit. Die Nacht begann ihre Arme auszustrecken, und auch
sie fielen einander in die Arme, in reiner, feiner Minne vereinigt.
   Doch es ging nicht lange her, da rissen hastige Kinderschritte sie
aus ihren süßen Träumen, und siehe da, ein völlig aufgelöstes kleines
Mädchen stürmte ins Zimmer. Die Backen glühten, es zitterte das Näs-
lein, die Haare waren außer Rand und Band, und auf ihrer Stirn sammel-
te sich eiskalter Schweiß. Sie warf sich schlotternd in der Mutter Ar-
me.
   "Mami!"
   Ebenso überrascht wie bestürzt, und ohne sie in der Finsternis
überhaupt zu erkennen, barg die Mutter sie schützend und tröstete sie.
   "Aber Glória, was ist denn nur?", murmelte sie.
   Ihr Mann kam dazu, nahm die Kleine an der Hand und drückte ihm ei-
nen Kuss auf die Stirn.
   "Ganz ruhig; das wird schon!"
   Diese sanften, aber bestimmten Worte an beide ließen die Frau in
befreiende Tränen ausbrechen, und die kleine Glória vergrub sich erst
recht an der Mutter Brust. Nun kam auch noch das Dienstmädchen herein,
das aufgeregt, schallend und gestenreich schilderte, warum das Kind so
aus dem Häuschen war; und zwar hatte alles mit einem Vorkommnis auf
der Straße zu tun. Sie waren also beide unterwegs, als sie von einigen
bettelnden Ausländern umringt wurden. Einige Frauen aus der Bande
streckten auch gleich ihre knochigen Hände nach Glórias Schmuck aus;
eine besonders dreiste küsste sie ins Gesicht und versuchte ihr dabei
ihren Armreif zu entreißen, während der Sohn ihr das Haarband herun-
terzerrte und hämisch lachend enteilte. Die Magd hätte das Gesindel
noch mit dem Regenschirm abgewehrt, stieß mit ihrem Widerstand aber
nur auf höhnisches Gegröle. Hätten nicht zwei zufällige Passanten
eingegriffen, wäre es wohl übel ausgegangen. So kamen sie mit einem
blauen Auge davon, wobei die Bande sie noch mit üblen Verwünschungen
bedachte.
    Als die Maid so erzählte, hielt sie die Kleine am Kopf und küsste
sie immer wieder über ihren verstörten Augen. Paulo Maciel machte den
schwachen Versuch, dem Kind seine tiefe Abscheu vor Bettlern zu neh-
men und die Vorkommnisse mit einigen flotten Sprüchen zu überspielen,
wovon sich aber die kleine Glória nicht beirren ließ, sodass seine gut
gemeinten Ansätze verpufften. Nun trachteten sie danach, das Kind mit
Unverfänglichem und Lustigem abzulenken, zumal es für seine fünf Jahre
schon eine ausgesprochen blühende Fantasie hatte. Doch schnell stießen
die Erziehungs- und Tröstungskünste der Erwachsenen an ihre Grenzen,
sodass sie zum letzten und einzigen Mittel Zuflucht nahmen: Küsse, in-
nige Küsse ...
   Die einbrechende Nacht glättete ihre aufgewühlten Seelen, und nur
die Kleine erzitterte noch dann und wann und klammerte sich an ihre
Mutter, die ihre Zärtlichkeiten herzlich erwiderte.
   "Ich hab ja so Angst, Mami!"
   Sie schluchzte noch einige Male beängstigend auf und fiel, fest an
ihre Mutter geklammert, in einen unruhigen Schlaf, dem auch diese kei-
ne Stetigkeit zu verleihen vermochte. Plötzlich, heftig brach Glória
wie aus einem Albtraum hervor. Sie hob das Köpfchen, blickte die El-
tern unsicher lächelnd an, als stünde sie etwas neben der Spur, wie
von einer verschwommenen Traurigkeit erfüllt, wie sie schlichten und
kindlichen Seelen zu eigen sein pflegt. Sie setzte mit den Lippen zum
Sprechen an, und die beiden harrten voller erleichterter Erwartung ih-
rer Stimme.
   "Ach! Wir waren doch auch nicht besser als die, Mami!", murmelte
Glória vor sich hin.
   Frau Maciel konnte sich zunächst überhaupt keinen Reim aus dieser
Wortmeldung machen; dann dämmerte es ihr, und sie war wie versteinert.
Der Gatte legte sein Buch, das er las, beiseite, und nahm das Kind
scharf ins Visier.
   "Ja doch, Mami, lange her ist's, irgendwo ganz weit weg. Wir lun-
gerten auf der Straße herum, schliefen auch dort; du trugst mich, wenn
ich nicht mehr konnte, aber Papi gab mir dauernd nur ..."
   Ihr Antlitz wirkte wie entrückt ob der Erinnerung, und verklärt,
eher "entklärt", äugte sie gen Fenster und schien in alten Tagen zu
wühlen. Die Eltern waren ratlos.
   "Ja, und wie war's denn, als wir nichts zu essen hatten und bet-
teln gingen? Du zwicktest mich, damit ich nur ja schön flenne, und
schubstest mich in die Läden hinein, damit wir auf eine Mahlzeit kä-
men ...
   "Aber, Glória", war Maciel ganz entsetzt. "Wo hast du denn DEN Un-
sinn her? Jetzt reicht's aber!"
   Das kleine Fräulein wandte ihm das Antlitz zu und verstummte ver-
schreckt. Sie seufzte tief auf, doch wie unter Zwang musste sie als-
bald noch etwas loswerden:
   "Und diese Kälte dort! Hier gibt's das nicht, auch keinen Schnee.
Wieso eigentlich, Mami? ... Du weißt das doch bestimmt noch mit die-
sem Hut, den du jenem Buben auf der Straße für mich heruntergerissen
hast? Oje, und wie sie uns verfolgt haben, Mami! Aber wir konnten uns
gerade noch in jenes dunkle Haus retten, und so blieb mir auch der
hübsche Hut ..."
   "Glória, Glória!", war alles, was der jungen Frau dazu einfiel.
Paulo Maciel stand im Innersten erschüttert auf, nahm das Mädchen in
den Arm und zeigte ihm ein Bild, das er hastig aus dem Schrank genom-
men hatte.
   "Ach, wie hübsch!", rief das Kind begeistert aus. "Krieg ich es,
Papi?"
   "Aber klar doch, wenn du nur mit diesem Unsinn aufhörst."
Sie revanchierte sich mit einem Küsschen. Was es denn wirklich mög-
lich, dass ihr Verstand in der Vergangenheit herumkramte?, dachte Ma-
ciel und ließ das Kind sachte zu Boden. Das Mädchen allerdings hielt
sich nicht weiter mit dem Bild auf, sondern wandte sich der heulenden
Mutter zu.
   "Mami, wein doch nicht. Dir geht's doch so gut ... Geschlagen
wirst du auch nicht ... Oder, Papi?"
   Es war dunkel geworden. Wo blieb denn nur die Magd mit dem Leuch-
ter? In die Stille des Hauses, da die Schatten die letzten Reste des
Tages verzehrten, in ein Reich von Glück und Frieden, brachen Glórias
verschüttete Erinnerungen wie eine Horde Gespenster ein. Aber wie Ma-
ciel nun einmal war, schien er sich jene Gesichter aus den Tiefen des
kindlichen Gemütes widersinnigerweise wie auf der Zunge zergehen zu
lassen ...
   "Damals, Mami, warst du nicht so nett zu mir wie jetzt. Ich hatte
keine Puppe, geschweige denn ein Kindermädchen; ja, nicht einmal ein
Bett! Dreckig war ich, ja. Oder? Du warst auch nicht schön angezogen,
hattest kein Geld, schon gar keinen Ring. Ein Armband hattest du, von
jenem jungen Kerl ... Papi war stocksauer und prügelte dich kräftig
durch; nicht, Mami?"
   Die Mutter war wie am Boden zerstört, und ihr entgingen auch die
Zähren in des Gatten Gesicht nicht.
   "Der Kerl nistete sich bei uns ein, als Papi mit den Soldaten mit-
musste. Er gab mir Geld und meinte: 'So, jetzt bin aber ich dein Va-
ter', aber ich wollte meinen echten zurück. Und er kam auch zurück.
Du nanntest ihn 'Narr' oder so ähnlich ... Aber da war jene Frau, die
ihm alles erzählte ..." Hilflos riss Paulo seine Arme in die Höhe wie
jemand, der seine Handschellen zu zerreißen suchte, und fuchtelte
wirr und sinnlos in der Luft herum, als könne er damit jenes ebenso
hinterkünftige wie unschuldige Mundwerk zum Schweigen bringen.
   "Mami hat auch einem kleinen Mädchen in die Hand gebissen, nur um
seinen Ring zu kriegen. Hab ich doch gesehen! Glaubt ihr es nicht?
Heute beißen wir niemanden mehr. Übrigens, Papi, was wurde aus dem
Mann, den du erstechen wolltest? ..."
   Und wie auf einen Schlag wandte es sich an die Mutter:
   "Also, morgen ziehe ich das rosane Kleid an, ja? Und ich nehme
die große Puppe mit, die Dulce, oder?"
   Unter einem Gemurmel von Entschuldigungen kam jetzt auch das Haus-
mädchen mit dem brennenden Leuchter daher.
   "Emília, also morgen, da ...", rief Glória und lief ihr nach.
   Frau Maciel nahm ihren Mann in die Arme und ließ ihn nicht mehr
her. Eng verschlungen, noch ganz verdattert von des Kindes Worten,
blickten sie ihm nach. Das Kind war eine Frucht der Liebe, der Näch-
stenliebe, ihr Gelobtes Land, dessen Früchte stets auch Bitternis in
sich tragen. Vor zwei Jahren, als sie sich keine Hoffnung mehr auf ei-
gene Kinder machen konnten, hatten sie jenem Töchterlein spanischer
Einwanderer ihr Herz geöffnet. Und jetzt, immer noch, brach mitunter,
für sie wie ein Peitschenhieb, jene alte Vergangenheit durch, ein Le-
ben, das nicht das ihre, Glórias heutiges, war ...


                                 -XI-

   Lentz war der Unstete von den öden Gestaden des Doce. Von Einsam-
keit umfangen, konnte er der ruhigen Heiterkeit der Erde nichts mehr
abgewinnen. Das weite Himmelsgewölbe über ihm, unendlich entrückt,
überspannte eine sonnenversengte, zum Stillstande gekommene Welt. Um-
herirrend, verloren, heftete er seine Augen an das einzige Lebenszei-
chen, die stillen, dahingleitenden, einer absterbenden Seele gleichen
Wasser des Flusses. Die unerbittliche Schönheit der Stille brachte ihn
in Wallung, und er verfluchte den Gleichmut des Alls, das sich nicht
dazu herabließ, zu erbeben noch sich zu regen, wenn er über es hinweg-
schritt, er, der Übermensch. Wohl alles hatte sich verschworen, Stil-
le, Abgeschiedenheit, Licht, Glanz, sogar das Jenseitige; da konnte
des Menschen Geist doch nicht umhin, irre zu werden. Und in diesem
Fieberwahne verflog der Ursprung allen Seins aus dem Gedächtnis und
war die Vergangenheit gelöscht. Alles Prächtige, Herrliche, das sich
wellende Wasser, stille, in sich gekehrte Bäume, Himmel, Sonne, Berge,
Wolken, alles stand nunmehr für erstorbene, aber sich dennoch bewegen-
de und beseelte Leben, dazu bestimmt, voller Begeisterung die Wiege
des ersten Menschen zu verkörpern. Und mit ihm würde auch die Neuer-
schaffung überhaupt ihren Anfang nehmen ...
   Lentz war ob der von ihm durch unverbildete Augen geschauten ver-
gangenheitslosen Welt wie in ein Wunder versetzt; jedoch wurde er der
Rolle des einsamen Pilgers schnell auch wieder überdrüssig, und sein
unsterblicher, zeitloser Geist drehte die Uhr zurück in unvordenkliche
Weilen. Er erschauerte, er ertrauerte. In einem solchen Tal der Stille
trieb es den Starken um, sich fortgepflanzt zu sehen. Des Lebens Ur-
grund, sich selber auf ewig neu aufzulegen, stieg in ihm auf, bittend,
ja befehlend. Lentz war es drum, seine ureigenen Kräfte sich zerstäu-
ben zu sehen, wie Licht-Teilchen, denen es obläge, heinzelmännchen-
gleich das Große Nichts zu befruchten. Aufgewühlt, rastlos, peinsam
irrlichterte er ... bis es so weit kam, dass er sich selber verhun-
dert-, vertausendfacht vorfand, edel, prächtig wie von einem Gotte ge-
zeugt. Hingerissen verehrte er darin die Augen, Haare, Glieder und
Merkmale nach seinem Rassenideal, in welchen sich Schönheit und Gewalt
des Großen Ganzen auf einen Punkt brachten ... Alles war schön, alles
war gut, denn alles war ER.
   Indessen ging es nicht lange her, dass ihn auch das Einerlei, sich,
immer nur sich zu erblicken, anödete. In seiner Verzagung begehrte er,
alles auf Null zu stellen und die Schöpfung neu aufzuzäumen, mit We-
sen, die nicht sein Bild und Gleichnis wären, nicht Gottheiten, son-
dern die im Schweiße ihres Angesichtes werkten, leideten und stürben.
Der Schöpfer rang mit seinem eigenen Geiste, und selbiger bootete ihn
aus und brachte unerschütterlich und gemeinerweise immer nur ihn her-
vor, Lentz, Lentz ... Und die Geschöpfe aus dieser außer Rand und Band
geratenen Macht blieben ihm eisern auf den Fersen. Von Grauen gepackt,
rannte er Hals über Kopf von der Kuppe eines Berges hinunter, weg, im-
mer nur weg von jener Horde Gespenster, die ihm anhingen wie ein Da-
ckel, aber immer nur er waren, immer er ... So erreichte er den Fluss,
überflog ihn kurz in eindeutiger Absicht, nämlich Schluss zu machen,
auf ewig Ruhe zu haben ... und hielt ein. Sein sich im Kristalle des
Wassers spiegelndes Antlitz wäre bereit gewesen, ihm selbst in den
Tod zu folgen ...
   Der Wahn war noch nicht zu Ende, im Gegenteil, er kehrte bald so,
bald so an jenen sonnigen Tagen wieder, die dem Einsamen die wirre,
angeschlagene Seele versengten. Und nachts, als die Martern seines
neuen Übermenschen-Lebens eine Pause einlegten, irrte er eingeschüch-
tert und duckmäuserisch, ja weinerlich,  durch die Ödnisse seines
Geistes. Er flehte um die Gesellschaft des Windes, des finsteren Ge-
treuen, doch selbiger verweigerte sich einer solch teuflischen Anma-
ßung. Mit brennendem Blicke suchte er vergebens, Hinwegscheidendem
wieder Leben einzuhauchen. Der Mond schlug ihm seine bleiche Fratze
ins Gesicht ...

   Der Gedanke an seinen Gefährten, den er keineswegs vergessen hat-
te, lenkte Milkau wieder einmal auf den Hof am Doce zurück, sowie es
der Prozessverlauf zuließ. Frühmorgens schon kam er an und wäre fast
in Ohnmacht gefallen: Der Garten war völlig verwildert. "Der Dschun-
gel schläft nicht!", dachte Milkau, und ihm schwante Schlimmes. Das
Haus stand offen, und auf dem Boden flackte der in Morpheus' Armen
liegende Lentz.
   Bis zum nächsten Tage blieben sie auf dem Hof. Dass Milkau wieder
da war, baute den unglückseligen Lentz wieder etwas auf. Und jetzt,
zumal er eine nochmalige Verlassenheit scheute wie der Teufel das
Weihwasser, schloss er sich bereitwillig Milkaus bekanntem allumfas-
senden Mitempfinden an und begleitete ihn nach Port, wo es schließ-
lich eine Leidende zu beschirmen und aufzurichten galt. Ein Dorn von
Marias Kreuzweg fiel auf Lentz, der, so sehr er auch dagegen ankämp-
fen mochte, seinem grundgütigen Inneren und somit auch seinem Freunde
nachfolgte.
   Die Straße entlang erwachte alles Leben neu; der Wind, die Vögel,
die Bäume, alle sangen ihr Lied. Und Lentz ging in sich und sprach
wie zu sich selbst:
   "Ach, das waren Zeiten, als ich noch von meinen kühnen, weit ausho-
lenden Träumen beseelt war ... Doch all das, was ich, will sagen »ER«,
anstrebte, zählt nicht mehr. Auf unserem Lebenspfade stoßen wir nun
einmal auf die Gebrüder Leid und Elend, und sie weisen uns den wahren
Weg ..."
   "Alles Übel in »IHM« war reine Kopfsache", stellte Milkau mit mil-
dem Blicke auf ihn fest. "Doch nicht der Verstand leitet den Menschen,
sondern das Gefühl. Aber was wir als Einzelne vermögen, ist doch gar
nichts gegen den Strom des Lebens als Ganzen. Was bewirkte ein Einzel-
ner gegen die Woge, den Schwall der Urtränen vom Ursprunge der Welt
an, die sich ansammeln und stauen, bis sie sich eines Tages in einer
Flut von Wohlwollen und Güte entladen? Wie vermöchte das klitzekleine
Menschlein den reißenden Strom des Mitleids und Mitempfindens abzu-
drängen?"
   In Port angekommen, war ihr erster Weg zum Gefängnis. Jetzt, wo
Milkau sie nicht mehr besucht hatte, wurde Maria von neuem Ungemach
heimgesucht, sexueller Nachstellung. Gerade ihre helle Haut und ihre
fremdartige Rasse hatten die Negersoldaten schon länger aufgereizt.
Zunächst mochte ihr armseliger, wenig einladender Zustand noch als Ab-
schreckung herhalten; doch je mehr sich die Burschen im täglichen Ne-
beneinander an sie gewöhnt hatten, desto tiefer sank auch ihre Hemm-
schwelle. Immer offener suchten sie sie zu verführen, doch je mehr sie
sich dem anscheinend ungeschriebenen "Gesetz" der Kerkerwelt, dass In-
sassinnen ihren Wärtern zu Willen zu sein hätten, verweigerte, wurden
sie fuchtig und verlegten sich auf Einschüchterung und Grausamkeit, um
sie sturmreif zu schießen. Nachts bekam sie keine Ruhe und konnte sich
der geilen und besoffenen Soldaten kaum mehr erwehren. Mit letzter
Kraft entrann sie ihren Griffen, bald, weil sie geschickt die Hackord-
nung und den Kampf um Vorrang unter den beiden Schwarzen ausnutzte,
bald, indem sie dermaßen gellende Schreie ausstieß, dass die Unholde
es angeraten fanden aufzugeben. Tags wiederum rächten sie sich für die
Schmach der Nächte und ließen sie wie eine Sklavin schuften, prügelten
sie und enthielten ihr das Essen vor. Milkau erkannte selbst im Zwie-
licht des Kerkers sofort, wie sehr die Arme seit dem letzten Male ab-
gebaut hatte. Er machte sich nichts darob vor, was und wer für den Zu-
stand des Opfers verantwortlich war, mochte sie ihm auch noch so be-
müht zulächeln und mit aller Gewalt ihre in ihre von Hunger zeugenden
Augen, ihr eingefallenes Gesicht, ihre knochigen Hände und ihre er-
schlafften Brüste eingeschriebene Leidensgeschichte zu verhehlen su-
chen ... Milkau hätte gute Lust gehabt, sie freiweg zu ergreifen und
mitzunehmen, einfach irgendwohin, wo nicht Bestien in Menschengestalt
auftreten ...
   Dort, im Gefängnis, brachte Lentz kein Wort heraus. Zum ersten Male
in seinem Leben sah er sich "hinter Gittern", sozusagen auf einer Ebe-
ne mit Verbrechern und Gesetzlosen. Seine Aristokratenseele schüttelte
sich angewidert, und sein alter Überlegenheitsdünkel, der noch keines-
wegs abgetötet war, lehnte sich gegen die Hautnähe zum Elende auf,
suchte solche Anfälle von Mitleid und Nächstenliebe nicht einreißen zu
lassen und trachtete danach, sich erneut zu den lichten Höhen von
Reich und Macht und Herrlichkeit aufzuschwingen. Jedoch, es war vor-
bei: Die Kralle des Mitgefühls hob ihn in die Welt, wie sie nun ein-
mal war, und erfüllte diese mit dem Quäntchen SEINES Mit-Leidens.
   Als sie das Gefängnis verlassen hatten, hörte Milkau, wie sein ei-
genes Herz murmelnd widerhallte:
   "Die Arme! Das Leben kann schon traurig sein ..."
   Es sprach der neue Lentz.
   Tief erschüttert trennten sich die beiden Freunde. Während Lentz in
seine windige Porter Absteige zurückkehrte, trieb es Milkau ziellos
und zweckfrei in die Gegend flussabwärts, Richtung Queimado, das jetzt
verfallene, einst blühende Gäu, durch das er seinerzeit hoffnungs-
strahlend dem Neusiedlungsland zugestrebt war.
   So betrat er also die totschlächtigen Gefilde. Der Boden war ge-
spickt mit den Hinterlassenschaften eines erloschenen Geschlechtes.
Aus! ... Alles einst dort blühende Leben war vergangen ... Nur Trümmer
zeugten noch von menschlichen Stätten, wie versteinert, peinlich ent-
blößt, nur von einigen Schlingpflanzen betreut, die sich krampfhaft
bemühten, die Scham der verstümmelten Ruinen zu bedecken. Auf den be-
scheidenen Kogeln ringsum blickten Geröllfelder und Findlinge, klein-
laute Abklatsche von Ungeheuern, auf den großen Bruder gegenüber, das
noble Hochland, das fruchtbringende, in dem die Eindringlinge ihre Be-
gierde stillten ... Wie verloren in der Weite, quälte sich der einst
von den Felsen zwar eingeengte, aber gerade dadurch springlebendige
Santa Maria wehklagend träge dahin ... Schlaff und leer, wüst und öde,
so ließ sich der Eindruck zusammenfassen. In einer einsamen Ecke gab
noch der letzte Schachen seinen Geist auf. Dieses letzte Lebenszeichen
wollte einfach nicht mehr in die Zeit passen ... Baumstämme verrotte-
ten und verfielen zu Staub; andere, wenngleich ebenfalls dem Tode ge-
weiht, kleideten sich wenigstens in einem letzten Aufbäumen noch in
stolzes Rot und Purpur. Die ungeduldige Sonne schmiss sich in die grü-
nen, üppigen Arme des Zukunftslandes und zeigte dem Einst ihre kalte
Schulter ... Gegen den Wind geschützt, kuschelten sich Ziegen mit den
Kitzen zusammen und taten sich wiederkäuend im Burgfrieden der Ruinen
gütlich ... Vögel am verwaschenen Firmament harrten der Nachtruhe ent-
gegen ... Zu jener Stunde, wo die "letzten Züge" ihren Auftritt hat-
ten, hielt Milkau fest:
   "Nein, und ob ich dich nicht fliehe, süßer Gram! Du erst hast mir
mein Ich erschlossen, meine Tatkraft freigesetzt und mein Denken los-
geeist. Auf dich baue ich, du unerschöpfliche Schürfstätte. Du ziehst
mich zu dir hin, und ich strecke dir meine Arme mit derselben besorg-
ten und unbezwingbaren Liebe entgegen, mit der der Traum das Einst und
der Tod das Leben liebt. Ehe ich dich kannte, lullte mich eine Schein-
welt ein, und mein nichtiges Dasein war ein bloßes weltfremdes Dahin-
tappen durch ein Tal der Tränen. Wie hätte ich dich denn auch gesucht,
o absterbende Sonne? Ich stand ja auf der Sonnenseite des Lebens und
hatte nichts mit jenen zu tun, die ihr ewiges Glück im Tode zu finden
meinen ... Aber du, o Traurigkeit, standest schon bereit. Du setztest
dich vor meine Tür und wartetest einfach. Und wie du wartetest! Eines
Tages war mir der Frohsinn schal geworden und erlosch, und es läutete
mir die Stunde von Friede und Ruhe. Du tratest ein. Und vom ersten Au-
genblicke an wusste ich: Ja, das ist es! O, süße Schwermut; komm nur
herein in meine Seele - da gehörst du hin!"
   Milkau setzte seine Schritte durch die letzten Strahlen der Sonne.
Längst hatten die Vogelschwärme den Himmel geräumt. Der Tagesstern war
dem menschlichen Auge entglitten. Auch die Brise hielt Bettruhe ...
Selbst der Wasserfall fuhr sein Wimmern nach und nach zurück. Und so
sann Milkau nach:
   "Schmerz ist heilsam, lässt er uns doch unser totes Gewissen wie-
derfinden. Er ist schön, vereint er doch die Menschen und lässt uns
zusammenstehen. Er ist fruchtbringend, bringt er uns doch fürbass, als
ewiger Beförderer der Dichtung, als Muse aller Kunst. Schmerz ist aber
auch Religion, weil er uns ausformt und uns unsere Schwachheit vor-
führt.
   O Traurigkeit! Du machst mich in den tiefsten Winkeln meines Geis-
tes schürfen. Du erst erklärst mir Seelenqual und Weltschmerz. Du, die
große Erzieherin, lässt mich die Drangsal der Welt auch zu meiner Sa-
che machen ... Lass doch nicht zu, dass mein Antlitz jemals wieder in
Gleichgültigkeit erstarrt oder gar in Mordlust erstrahlt; nein, lass
mich dafür an deinem Adel teilhaben, Adel, der verpflichtet ... Trau-
rigkeit, lass mich nicht im Stich! ... Lass mich nie mehr in eitlem
Frohsinne versumpfen; nimm mich unter deine Fittiche! O Wohltäterin,
führe mich dem Nächsten zu! ... Du Heilsame; du Heilende! ..."


                                -XII-

   "PSCHT!"
   Da riss es Maria, und mit erstarrten Händen suchte sie die Fratze
von sich zu stoßen, die sich da über sie gebeugt hatte. Noch mit ihrem
Albtraum im Nacken, sah sie gierige, schleimige Lefzen sich ihrer be-
mächtigen.
   "Maria, ich bin's doch!", beruhigte sie Milkau.
   Sie öffnete die Augen und starrte verdutzt. Mit immer noch unsiche-
rer, aber auch sachter Hand tastete sie der Erscheinung entgegen, noch
immer unschlüssig ob des so unvermittelten Auftauchens des Getreuen.
In ihrem Halbschlafe berührte, kraulte sie Milkaus Bart fast wie eine
Liebkosung ...
   "Auf geht's! Los!", forderte er sie leise, aber bestimmt auf und
löste sich behutsam von ihr. "Wir müssen weg."
   Folgsam erhob sich Maria und ließ sich von Milkau durch das noch
weitgehend dunkle Gebäude geleiten. Vom Gang aus erblickten sie durch
die wie üblich offene Tür die Lichter der Nacht sowie den einen Neger-
soldaten, der dort schlafend so hingestreckt lag, dass Maria der
Schrecken in alle Glieder fuhr, sodass sie am liebsten gleich wieder
zurück wäre. Milkau aber packte sie entschlossen an der Hand und führ-
te sie souverän am "Wächter" vorbei, hinaus in die Nacht und in die
Freiheit.
   Erst einmal draußen, versetzten die kühle Brise, der sternenklare,
funkelnde Himmel und die große, freie Weite die schlaftrunkene Aus-
brecherin in einen wohltuenden Schwindel, woraufhin sie geradewegs in
Milkaus Arme sank, der sie stützte und fürsorglich mit sich zog.
   Arm in Arm wandelten sie durch die stille, schlummernde Stadt. Sie
kamen nur schleppend voran; schwankenden Schrittes stolperten ihre
nach so langer Zeit des Gehens entwöhnten Füße über jeden losen Stein
auf der Straße. Selbst die Muße der Nacht jagte ihr schon Beklommen-
heit ein, wie sie sie wohl nie mehr loswerden würde. Da und dort er-
wachten dösende Hunde und fühlten sich veranlasst, gegen die Fremden
anzubellen. Dann wieder trat bedrohliche Ruhe ein, wie wenn sie jeder-
zeit darauf aus wäre, aus den aufgescheuchten Häusern eine Horde lär-
mender Verfolger auszuspeien ... Indessen blieb es beim ewig gleichen
Dahinquietschen des Wasserfalls. Mit erhöhter Vorsicht und bereits an
die Dunkelheit gewöhnten Augen bespähten sie im Weitergehen die ab-
gründigen Gebilde der Umgebung. Der immer noch kleinmütigen, zagen Ma-
ria flüsterte Milkau ins Ohr:
   "So, wir fliehen jetzt für immer vor allem, was dich verfolgt. Ge-
hen wir dorthin, wo Huld und Güte fließen wie Wasser allenthalben, zu
anderen Menschen, in andere Gaue. Komm ... Erklimmen wir diese Berge
der Hoffnung; erquicken wir uns dort am immerwährenden Glücke! ...
Auf! Hinauf! ..."
   Sie hatten die Stadt hinter sich gelassen und brauchten sich um de-
ren gesunden Schlaf keine Gedanken mehr zu machen. So machten sie sich
denn frohgemut an den Aufstieg. Die Angststarre in Marias Händen hatte
sich gelöst, und so griff sie dankbar auf diejenigen des Gefährten zu.
   Nach und nach verloren sie die Stadt zu ihren Füßen aus den Augen,
wie sie unter einer gräulichen Dunstglocke lag, auf der sich einzelne
Lichter der Nacht niedergelassen hatten, als spiegelte sich die Milch-
straße in ihr ... Unter jenem Mantel erahnten sie riesenhafte Fabelwe-
sen aus Träumen, die erst noch stattzufinden hätten ... Ein Stücklein
des Santa Maria durchkerbte leichenbleich, wie von einem Flammen-
schwerte geschlagen, die Queimadenser Au, deren begleitende Höhen ver-
hackstückten altgriechischen Recken nahekamen ... Dann verlor sich die
Sicht, und ihnen öffnete sich der Schlund des Waldes. Und wieder such-
te Maria engste Tuchfühlung mit Milkau. Das Blätterdach sang sein nie-
derdrückendes Lied. Bebend versenkten sich der Wanderer Augen in den
Abgrund von Finsternis, aus dem das Leidensgestöhne gepeinigter Bäume
widerhallte, denen der unerbittliche Wind keine Atempause gönnte ...
Hier und dort gab das Kronendach dem Lichte eine Chance, und der Him-
mel sandte einen Strahl gen Boden, der sich auf selbigem wiederum wie
eine Feuersäule in lichte Höhen aufbaute und mit den gespensterglei-
chen Stämmen in enge Wechselwirkung trat ... Eng aneinander ge-
schmiegt und beflügelt vom Dufte der nächtlichen Blüten, schritten sie
hurtig voran. Und abermals flüsterte Milkau der Weggenossin seinen
Entwurf einer glänzenden Zukunft ins Ohr:
   "Einfach nur Glück stelle ich dir in Aussicht. Es wächst hier; wir
müssen es nur finden ... Sobald der Tag anbricht, treffen wir auf an-
dere Menschen, eine andere Welt ... das Land, wo das Glücksgräslein
grünt ... Du wirst sehen ..."
   So erweckte er Zutrauen, ja Mumm, in Maria, zumal sie in seine
tröstliche Stimme schon ihre Vermählung mit der ewigen Wonne hinein-
legte. Nun stiegen sie; fast flogen sie ...
   Der Weg hatte den Wald bereits durchschritten und erreichte jetzt
die offene Alpe. Steinig war er, schmal und am Abgrund entlang. Sie
konnten nicht vorsichtig genug sein und ließen sich Zeit. Milkau
sprach auch nicht mehr, und seine Augen tauchten in die Tiefe und ver-
loren sich in der silbrigen Litze des Flusses ... Maria kam kaum mehr
weiter; zermürbt und mit zerschundenen Füßen stützte sie sich auf Mil-
kau und wärmte sich das Gesicht an seinem erhitzten Atem. Gemeinsam
mühten sie sich aufwärts. Der Pfad war nicht gewillt, den Steilhang
hinter sich zu lassen, zeigte sich vielmehr den Flüchtigen immer weni-
ger aufgeschlossen, denen sich dafür das Tosen und Gebrüll des Santa
Maria selbst hier, hoch über seinem Zwinger, der tief eingeschnittenen
Klamm, noch nervend aufzudrängen schien. Eine solche war es, und sie
verengte sich immer weiter, bis am Horizont die beiden schwarzen Fels-
wände miteinander verschmolzen. Milkau wurde in dieser steinigen Ödnis
immer mulmiger zumute. Eiskalter Schweiß überkam ihn, und sein tauber
Körper wollte ihm nicht mehr gehorchen und machte sich auf, sich dem
Abgrund in die Arme zu werfen, dem Tode entgegen ... Maria raffte alle
ihre Kräfte zusammen und konnte ihn gerade noch halten. Er starrte sie
wirräugig an, umklammerte ihre Hüfte und brachte unter einem Lächeln,
das den Teufel gesehen hatte, nur noch heraus:
   "Es ist aus ... aus und vorbei ... nur noch der Tod ..."
   Maria befreite sich mit aller Gewalt aus den Armen dieses Mannes;
sie fielen zu Boden und rangen im Fieberwahne miteinander wie völlig
weggetreten, wie von Sinnen ... Solcherlei schon lange entwöhnt, ent-
flammte ihn der Frau Leibeswärme, und in der Hitze des Gefechts press-
te er sie heftig an sich und begann sie wie wild zu küssen und zu ko-
sen. In einem plötzlichen Erwachen ihrer Weiblichkeit stimmte sie wil-
lig in dieses Minnespiel mit ein ... Jedoch, Gevatter Tod trachtete
nach der Oberhand ... Der Santa Maria schepperte sein Lied, wie das
Dengeln der Sense ... Milkau sprang auf, ergriff die Frau und spazier-
te freiweg an den Abgrund - und Schluss! ... Ihre Arme hatten ihn fest
im Griff und hielten ihn zurück. Und so wurde ein Strauß ausgefochten,
hart, heftig, doch zuletzt musste der, der sie mit in den Tod nehmen
wollte, der Partei des Lebens beider gegenüber klein beigeben ... Mil-
kau war am Boden, ausgezählt, fertig, und Maria schüttelte ihn ab. So
entfesselt, nahm sie ihre Beine in die Hand und gab Fersengeld, wobei
ihr der beschwerliche Steig wie eine Promenade im Kurpark erschien.
Milkau dachte auf und folgte ihr, und schließlich hatten sich die bei-
den Verlierer zusammengerauft und wanderten wieder zielbewusst die
Kante entlang ... Schließlich waren sie am Gipfel und weideten sich an
dem weiten Land, in das der Weg sie führen würde. Milkaus Durchhänger
war ob der Schau der wonnehaften Au im Nu zerstoben, das bald verlo-
ckende, bald zur Verzweiflung treibende Gischten des Flusses Vergangen-
heit und der gähnende Schlund entschwunden wie ein Schwindelanfall.
So stiegen sie denn hinab in jenes Gefilde, dem die klare Nacht ihr
wohltuendes, wundersames Licht schenkte. Stiegen? Nein, sie rannten!
Hinter sich hörte Maria Milkaus Stimme singen:
   "Voran; ich sehe dich, Gelobtes Land! Wir kommen; du unser schon
harrest ..."
   Indes verlief die Ebene im Schoße der Nacht und verschmolz mit den
Himmeln. Milkau hatte keinerlei Vorstellung vom Wohin; jedoch lockte
das große Unbekannte eben gerade durch seine Ungewissheit. Ihm dämmer-
te die Einsicht, dass es auf ein Rennen in, ein Grabschen nach dem
Entgrenzten hinausliefe ...
   "O Verheißenes ...", flehte er insgeheim die Nacht an, sie möge ihm
den Weg ins Paradies weisen.
   Stille, Unergründliches allenthalben ... Immer nur weiter ... Die
Welt wollte nicht enden, und das Land der Liebe verbarg sich hinter
unermesslichem Nebel ... Bis aufs Blut gepeinigt, musste Milkau sich
eingestehen, dass alles beim Alten geblieben war. Was hatte ihr stun-
denlanges Laufen gebracht, wenn sich das Neue nicht erhaschen ließ?
... Immer nur weiter!
   Jedoch allein schon die Schau, die er vor sich zu haben glaubte,
war die Mühe wert. Maria war durch die Macht des Traumes wie verwan-
delt und neu belebt; neues Fleisch hatte sich über das Gerippe eines
Sträflings und Märtyrers gelegt; ein neuer Schwall Blutes erfrischte
ihr die Adern und entflammte sie; wundersam entspross ihr das Haar wie
eines güldenes Baumes Zweige, die die Welt überschatten und mit Wohl-
taten bedenken; die Augen leuchteten ihnen voraus, und Milkau verfolg-
te in jenem Lichtkegel entzückt dem Schatten, der ihm künftig den Weg
wiese ... Immer nur weiter ... Unwandelbar blieb die Nacht. Die Traum-
gestalt eilte unerreichbar voraus, er dagegen fiel unabweislich immer
weiter ab und wagte nicht, die Stimme zu erheben, um nur ja sein ge-
liebtes Trugbild nicht durch schnödes Irdisches zerplatzen zu lassen
... Gelobtes Land!, entströmte es seinem Herzen, um seiner Plage ein
Ende zu setzen ... Doch das Land der Sehnsucht wollte sich nicht ein-
stellen ... Immer nur weiter ...
   Die hinterlistige Nacht bettete sich zur Ruhe; die Welt hatte von
der Eintönigkeit genug. Hoffnungsvoll hieß Milkau das Bild des neuen
Kalenderblattes willkommen ... Also etwa doch noch das Gelobte Land?
... Das wiedergeborene Licht begann ganz prosaisch die Ebene zu er-
hellen. Milkau sah ihre Leere und Öde, aber keine Spur des neuen Men-
schen. Entmutigt, ent-täuscht fasste er nach seinem Leit-Bild. So-
gleich erlosch der Zauber; Maria blieb stehen und wandte ihm ihr be-
kanntes verfallenes Antlitz zu, ihre stumpfen Augen, den welken Mund
und die elende Gestalt.
   Die wirkliche Welt hatte ihn eingeholt, und so sprach er zu Maria:
   "Hetze dich nicht vergebens ab ... Lauf nicht ... Es bringt nichts.
Das Land der Verheißung, in das ich dich führen wollte und das ich wie
versessen gesucht habe, gibt es einfach nicht - noch nicht. Lasset uns
hier verweilen und hoffen, dass es im Blute künftiger erlöster Ge-
schlechter erscheinen wird. Kopf hoch! Bleiben wir dem treu, was uns
so herrlich mitgerissen hat. Wer ein Ideal lebt, verfügt über ein
Pfand auf die Ewigkeit. Wir, einzeln wie im Gesamten, stehen für die
Wirkkraft des vermeintlich Unmöglichen; und wenn der Übergang schmerz-
haft ist und das Leiden gerade uns trifft, dann sei es so. Reinigen
wir uns, wir, die mit der Ursünde Beladenen, die 'Gewalt' heißt ...
Was das Leben ausmacht, ist doch, dass es immer weitergeht. Uns gibt
es fort und fort, auf unabsehbare Zeit, in der Seele unserer Nachfah-
ren ... Machen wir sie zum Kelche unserer Lindigkeit, zum Gefäße al-
les Reinen, Heiligen, Göttlichen. Neigen wir uns einander zu. Alles
Übel liegt in Zwang und Drang, und nur die Liebe ist der Ausweg ...
   All jene Opfer, Ängste, Aufruhre, Blutzeugnisse sind ein Zerrbild
dessen, was sich Freiheit nennt. Doch diese haarsträubenden Fehlent-
wicklungen werden nach und nach dem Unrathaufen der Geschichte an-
heimfallen. Die Stunde der Auferstehung liegt bereits fest ... Mir
steht es nicht zu zu wissen, ob das Leben auf immer und ewig angelegt
ist, oder ob es eine Eintagsfliege der Weltgeschichte ist ... Meine
Augen greifen nicht auf die Unendlichkeit aus, sondern worum es mir
geht, hier und heute, bist DU ... Aber ich sage dir, selbst wenn un-
sere Welt, wie wir sie kennen, dereinst enden sollte, um etwa anderswo
neu gegründet zu werden, oder wenn wir eines Tages durch den letzten
Schwall der Hitze aus dem Schoße von Mutter Erde zugrundegehen, oder
falls wir gemeinsam mit der Erde im All zerstäubt und auf der Straße
der Himmel zerstreut werden - ja, lasset uns selbst dann nicht in Hass
und Groll voneinander scheiden ... Ich flehe dich an, dich und deine
Nachkommen, zahllos wie der Sand am Meere, dass wir doch von unserem
alles zersetzenden Hasse ablassen mögen und wir uns alle miteinander
aussöhnen, ehe der Tod pocht ..."

______________________________________________________________________
Advertisement